notiz: die "elektrokrampftherapie" aka elektroschocks gegen depressionen...

...dieses thema wurde vor ein paar tagen in der taz aufgegriffen - und der folgende artikel enthält einige aspekte, die sowohl hinsichtlich psychiatriekritischer ansätze als auch bezogen auf den umgang mit den folgen sozialer (traumatisierender) gewalt von bedeutung sind.

"Lange Zeit war die Elektroschocktherapie verpönt. Wenn Psychotherapie und Medikamente nicht mehr weiterhelfen, greifen Psychiater seit einigen Jahren trotzdem wieder zunehmend zu den Elektroschockgeräten. Die Methode ist nicht unumstritten

Kontaktcreme wird auf die rechte Schläfe und den Scheitel des Patienten aufgebracht. Der Arzt hält die "Paddle" fest. Durch einen Knopfdruck werden Stromstöße verabreicht. Acht Sekunden lang. Die Muskulatur der rechten Wange zuckt. Ansonsten reagiert der Patient nicht. Er ist in Vollnarkose. Zusätzlich wurde ihm ein Muskelrelaxan injiziert. So findet der nun folgende epileptische Anfall nur im Gehirn statt - und im rechten Fuß. Das Bein wurde abgebunden, damit die Muskelkrämpfe sichtbar und messbar sind. Der Fuß bewegt sich ruckartig. Das Gesicht aber ist inzwischen entspannt. 28 Sekunden dauert der Anfall. Der Arzt ist zufrieden. So weit der Lehrfilm für Medizinstudenten.
Elektrokonvulsionstherapie ist der Name für diese Prozedur. Gängiger ist der Begriff Elektrokrampftherapie (EKT). Früher sagte man Elektroschock."


entwickelt wurde die methode 1937 von zwei italienischen ärzten, ugo cerletti und lucio bini. dabei wurden sie von einem bizarren gedanken geleitet: da es sich um eine "heilmethode" gegen diejenigen psychotischen formen handeln sollte, die damals (und bis heute) unter dem namen "schizophrenie" firmieren (die probleme rund um diese diagnostische konstruktion lasse ich einmal aussen vor), und innerhalb der psychiatrischen institutionen die beobachtung gemacht wurde, dass sowohl bei diagnostizierten schizophrenen als auch epileptischen patientInnen faktisch niemals beide krankheitsbilder zugleich auftraten, verfielen cerletti und bini auf die idee, quasi den "teufel mit beelzebub auszutreiben" - tatsächlich ist es ein epileptischer anfall, der mit dem schock ausgelöst wird.

ältere schockverfahren, wie die sog. cardiazol- (ein altes herzkreislaufmedikament) und auch die insulinschocks basierten imo auf anderen ansätzen, und wurden von der ekt langsam verdrängt (wobei noch bis zu beginn der 1950er jahre in d-land insulinschocks, gerne auch in kombination mit der ekt, verabreicht worden sind.)

"Peter Nyhuis, Psychiater an der Uniklinik Essen, ist ein Befürworter dieser Therapie: "Wenn ich eine schwere Depression hätte, würde ich diese Behandlung allen anderen vorziehen." Mit der Sprache des Mediziners erklärt er, warum. Und weil er merkt, dass sein Gesprächspartner ihm nicht recht folgen kann, versucht er es noch einmal anders. "Ein Teil des menschlichen Gehirns hat in etwa die Form eines Seepferdchens. Deshalb heißt dieser Teil Hippocampus. In diesem Areal werden bei gesunden Menschen täglich 1.000 neue Zellen gebildet." Bei depressiven Menschen, so der Psychiater weiter, kämen nur maximal 100 Zellen pro Tag hinzu. Insofern sei die Depression eine hirnorganische Erkrankung. Bei Versuchen mit Ratten habe man nachgewiesen, dass nach einer Elekrokrampftherapie das Zellenwachstum im Gehirn angeregt werde. Verantwortlich hierfür seien so genannte "Botenstoffe und neurotrophe Faktoren", die in Folge des epileptischen Anfalls ausgeschüttet werden. Natürlich, ergänzt Nyhuis, seien solche Ergebnisse nur im Tierversuch zu erzielen. Schließlich müsse man das behandelte Gehirn in dünne Scheiben schneiden."


ich kann mich an psychiatrische kritiken an der ekt erinnern, die darauf hinwiesen, dass jeder epileptische anfall auch eine enorme zahl von neuronen abtötet. das zum ausgleich das zellwachstum nun wieder angeregt wird, scheint dabei eine logische folgerung zu sein. aber ich bezweifle, dass heute wirklich jemand sagen kann, ob und worin genau denn nun ein positiver effekt der ekt liegen kann. das ist das eine.

das andere ist, dass ich selbst psychiatrische krankenakten aus verschiedenen jahrzehnten einsehen konnte, in denen sowohl von den behandelnden ärzten die reaktionen der patientInnen aufgezeichnet wurden, als auch schriftliche reaktionen von patientInnen selbst dokumentiert worden sind. und dabei sieht das verhältnis dann so aus, dass eine mehrheit eher von totaler ablehnung bis zu offener massiver angst geprägt war, während es sogar teilweise dankesbriefe an die ärzte gab - ausdrücklich wegen der ekt-behandlung. eine minderheit fühlte sich also durchaus besser, wobei wir wenig bis nichts über den jeweiligen kontext wissen, in dem dieses besserfühlen letztlich stattfand. nun ist mein einblick sicher nicht im strengen sinne repräsentativ, aber eine tendenz lässt sich imo schon ableiten.

"Günther S. ist Rentner. Früher war er Elektriker. 1999 hat ihn seine Frau verlassen. Wenig später brach auch seine Tochter den Kontakt ab. Er erkrankte an einer Depression. Man versuchte es mit Psychotherapie. Auch viele Medikamente wurden in der Uniklinik in Essen ausprobiert. Nichts besserte seinen Zustand. Dann sprach ihn Dr. Nyhuis an. Die Elektrokrampftherapie könne in so einem Fall helfen. Natürlich war der ältere Herr vor der ersten Behandlung etwas nervös. Aber schon kurz, nachdem er aus der Narkose aufgewacht war, merkte er, wie sich seine Stimmung aufgehellt hatte. Inzwischen sind fünf Jahre vergangen, in denen er beschwerdefrei lebte. Seit einigen Wochen ist der 73-Jährige wieder stationär aufgenommen worden. Wieder eine Depression, wieder die EKT. Sechs bis zwölf Behandlungen wird er bekommen, maximal drei pro Woche.

Es sei, so Peter Nyhuis, ein natürlicher Reflex, die EKT abzulehnen. Elektrische Impulse, die an das Gehirn geleitet werden, lassen vieles assoziieren. Und früher sei diese Art der Behandlung auch völlig anders eingesetzt worden. Ohne Narkose und Beißschutz hätten sich viele Patienten verletzt. "Die krampfenden Muskeln haben sogar so viel Kraft, um Knochen zu brechen." Auch sei früher ohne klare Diagnosenstellung und sogar gegen den Willen der Patienten behandelt worden. So etwas, ergänzt der Arzt mit erregter Stimme, sei heutzutage undenkbar. Die EKT werde in Deutschland nur eingesetzt, wenn der Betroffene schriftlich einwilligt oder, wenn er hierfür zu krank ist, ein gesetzlicher Betreuer dies stellvertretend für ihn tun."


letzteres sollte ja wohl nicht nur bei der ekt, sondern generell in der medizin eine selbstverständlichkeit sein - ich meine eine generelle einwilligung auf selbstverantwortlicher und ausreichend informierter basis. ist es bekanntlich aber nicht.

"Nebenwirkungen gibt es bei der EKT natürlich, wie bei den meisten wirksamen Therapien. Etwa ein Drittel der Patienten klagen am Tag der Behandlung über Kopfschmerzen." Hier helfe ein normales Schmerzmittel. Die Hälfte der Behandelten würden unter kognitiven Störungen leiden. Die Merk- und Konzentrationsfähigkeit sei beeinträchtigt. Diese Symptome würden sich nach spätestens zwei Wochen zurückbilden."

hm.hm.hm. ich kann mich hingegen auch an andere, ältere berichte erinnern, in denen keinesfalls von einer rückbildung der symptome gesprochen werden konnte.

"Auch Wolf Müller ist Psychiater. Er ist Leiter der beiden Tageskliniken im Kreis Herford. "Elektrokrampftherapie, ja, das kommt wieder", sagt er. Besonders die jüngeren Kollegen an den Unis seien davon angetan. Er selbst habe als Assistenzarzt mit dieser Praxis gebrochen. Als er Anfang der 70er-Jahre im Landeskrankenhaus Gütersloh anfing, da gab es noch Säle mit 30 Patienten. "Morgens und abends ging der Oberarzt mit einem Wägelchen von Bett zu Bett, und jeder bekam seinen Elektroschock." Müller berichtet, dass diese Praxis Mitte der 70er-Jahre am Landeskrankenhaus Gütersloh beendet wurde, weil keine Erfolge gesehen wurden.

Natürlich, so räumt Müller ein, sei die Praxis der EKT heute eine andere. Trotzdem könne er sich mit der Methode nicht anfreunden. Er sei überzeugt, dass eine psychische Erkrankung nicht nur ein hirnorganischer Defekt sei."


wieso wird eigentlich nicht die naheliegende schlußfolgerung gezogen...

"Viele Menschen, die zu uns kommen, haben traumatische Erfahrungen hinter sich." Müller berichtet von Frauen, die in ihrer Kindheit sexualisierter Gewalt ausgeliefert waren und nun unter schweren Depressionen leiden. Auf den Hippocampus, das seepferdchenförmige Gebilde im Hirn angesprochen, versucht Müller ein Lächeln. Ja, er könne sich vorstellen, dass eine Depression auch Veränderungen im Gehirn hervorruft."

...auf die der psychiater dann auch kommt - dass eben jegliche emotionalen zustände eine physische basis besitzen und hier eher von einem dialektischen wechselspiel gesprochen werden müsste? psychophysiologie. das ist jetzt kein plädoyer für eine rein physisch orientierte therapie - im gegenteil. die jeweiligen sozialen bedingungen spiegeln sich im spiel der neuronen. und müssen deshalb immer miteinbezogen werden. und gerade dieser erkenntnis verweigert sich der biologistisch orientierte psychiatrische mainstream bis heute. funktionsfähigkeit heisst immer noch das mantra. während die etablierte psychotherapie, hier gerade die "anerkannten" formen psychoanalyse und verhaltenstherapie, immer noch an der ungenügenden berücksichtigung des körpers kranken. wobei es da immerhin zumindest in der pa auch positive tendenzen gibt - vielleicht werfen Sie einmal einen blick auf die homepage von tilmann moser (linkliste), der in de. meines wissens einer der ersten war, die den körper in die pa zu integrieren versuchten.

"Wenn man gelernt hat, seine Aggressionen nicht ausdrücken zu dürfen", könne das eine chronische Vergiftung im Gehirn mit Adrenalin zur Folge haben.

Müller berichtet von einem Mann, der unter starken Depressionen litt. Erst, als jener sein Medikament nicht mehr zu Hause als Tablette einnahm, sondern die gleiche Substanz und Dosierung täglich von seinem Hausarzt gespritzt bekam, besserte sich sein Zustand. Die tägliche Zuwendung, so Müllers Vermutung, war in diesem Fall das eigentliche Medikament: "Wie viel mehr Zuwendung erfährt ein Patient, der an einer Uniklinik an einer international beachteten Studie des Chefarztes teilnimmt?" Müller, der Chefarzt, muss über seine eigene Frage schmunzeln. Dann wird er wieder ernst. Menschen, die als Kind viel Gewalt erfahren haben, hätten die tragische Fähigkeit, sich wieder in gewaltvolle Situationen zu manövrieren. "Und mit einem Stromstoß einen epileptischen Anfall zu erzeugen, hat etwas mit Gewalt zu tun."


ja. und gerade bei nicht erkannten psychotraumata ist das absolut fatal.

es gibt imo eigentlich nur eine vertretbare indikation für die ekt, und die konnte ich vor ein paar jahren den worten eines psychiaters der hiesigen klinik entnehmen, in der damals pro jahr etwa drei- bis viermal die ekt zur anwendung kam: wenn eine sehr schwere depression beginnt, sich dominierend auf die organischen funktionen auszuwirken - das kann in einzelfällen durchaus geschehen und bedeutet zunehmende funktionsstörungen mit allen potenziell bedrohlichen konsequenzen - dann kann die ekt u.u. angebracht sein. im wortwörtlichen sinne ein "wachrüttler" sozusagen. aber ich bezweifle, dass der wieder zunehmende einsatz von elektroschocks sich darauf beschränkt.
sansculotte (Gast) - 30. Mär, 19:06

Bemerkenswert

ist mE auch die im Artikel dargelegte Erklärung für die Entstehung von Depression. Wolf Müller, der Kritiker der EKT, sagt:
"Wenn man gelernt hat, seine Aggressionen nicht ausdrücken zu dürfen", könne das eine chronische Vergiftung im Gehirn mit Adrenalin zur Folge haben.

Entscheidend ist also nicht nur das Trauma, die Verletzung, sondern auch die erlaubte Reaktion darauf: wenn Kinder nicht mit Fight-or-flight-Mechanismen (Aggression ist ein solcher) reagieren dürfen, wenn sie ihren Ärger nicht angemessen ausdrücken dürfen, weil das etwa "ungezogen" und/oder "frech" und"ungehorsam" ist, dann hat das zur Folge, dass das Adrenalin nicht abgebaut werden kann und eine chronische Übererregung im Gehirn entsteht. Der so entstandene Überschuss an diversen Neurotransmittern (Adrenalin, Noradrenalin, aber auch Dopamin oder GABA) baut die Physiologie des Gehirns nachhaltig um (Atropie von Neuronen, Verringerung oder Erweiterung der Zahl von div. Synapsen) und ist des weiteren für eine Vielzahl von Symptomen verantwortlich: neben Depression können zB auch ADHS, gewalttätiges Verhalten, Schlafstörungen, psychosomatische Störungen oder Süchte Versuche sein, das Gehirn von dieser Vergiftung entlasten. Der für diese Krankheiten so typische zyklische Verlauf , die "Schübe", sind nichts anderes als periodisch auftretende Entgiftungskrisen.

"Eine chronische Vergiftung" des Gehirns könnte nach Lloyd de Mause übrigens auch für die periodisch auftreteten kollektiven Gewaltausbrüche (Krieg, Progrome,..) verantwortlich sein, die dann als gesellschaftlich sanktionierte Selbstheilungsversuche der vielen einzelnen, chronisch übererregten Gehirne verstanden werden können.

sansculotte (Gast) - 30. Mär, 19:10

scusi

Atrophie müsste es heissen (degenerativer Gewebsschwund) - auf diesem blog hab ich mit der Terminologie einfach kein Glück ;-)

gruß, s

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