basis

Sonntag, 7. Januar 2007

basis: traumageschichte(n) 2 - zur geschichte der hysterie - und einige gedanken zu möglichen zusammenhängen mit borderline

zur allgemeinen einführung bzw. für einen umfassenden historischen abriß der diagnose "hysterie", incl. des zusammenhangs mit der entwicklung der psychoanalyse, kann ich diesen überblick empfehlen. ansonsten ist die geschichte der hysterie heute ein recht gut erforschter bereich, was nicht zuletzt vielen kritischen feministischen arbeiten zu verdanken ist. ich werde mich im folgenden also wie angekündigt auf die aspekte konzentrieren, die diese diagnose aus meiner sicht zu einer "vertuschungsdiagnose" machen. ebenfalls sollen ein paar verbindungslinien zu heutigen persönlichkeitsstörungen deutlich werden.

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die orthodoxe psychiatrie hat, seitdem es in deutschland überhaupt so etwas wie psychiatrische kliniken gibt, immer wieder mit den opfern verschiedenster gesellschaftlicher gewaltverhältnisse zu tun gehabt und sich mächtig darum bemüht, auf teils widerwärtige art und weise diese opfer unsichtbar zu machen.die krankengeschichten sprechen da bände - ich kenne alte anamnesen, bei denen die erlebten sexuellen übergriffe wortwörtlich festgehalten sind - was die entsprechenden patientinnen (und einige wenige patienten) nicht davor bewahrt hat, als "schizophren" oder "hysterisch" abgestempelt zu werden. ab einem bestimmten punkt hat sich die psychiatrie dabei in theorie und praxis den jeweiligen äquivalenten der ansonsten größtenteils durchaus ge- und verschmähten psychoanalyse angenährt.

und anhand der geschichte der hysterie in der psychoanalyse möchte ich das deutlich machen: freud hat nachweislich in "zur ätiologie der hysterie" von 1896 völlig korrekte schlüsse hinsichtlich der tatsächlichen ursachen des leidens seiner patientinnen gezogen:

"Ich stelle also die Behauptung auf, zugrunde jedes Falles von Hysterie befinden sich - durch die analytische Arbeit reproduzierbar, trotz des Dezennien umfassenden Zeitintervalls - ein oder mehrere Erlebnisse von vorzeitiger sexueller Erfahrung, die der frühesten Jugend angehören. Ich halte dies für eine wichtige Enthüllung, für die Auffindung eines caput Nili der Neuropathologie."

(sigmund freud, "zur ätiologie der hysterie"; 1896; in: gesammelte werke, bd.1, S.423 - 459, zitat S.439)


was war die folge dieser zur damaligen zeit absolut mutigen behauptung?

"Kaum ein Jahr später verwarf Freud insgeheim die Theorie vom Trauma als Ursache der Hysterie. Aus seinen Briefen (an wilhelm fließ, anm.mo) geht hervor, daß ihn die drastischen sozialen Konsequenzen, die seine Hypothese nahelegte, zunehmend beunruhigten. Weibliche Hysterie war weit verbreitet. Wenn seine Patientinnen die Wahrheit gesagt hatten und seine Theorie stimmte, blieb nur die Folgerung, daß das, was er "Perversion gegen Kinder" nannte, weit verbreitet war. Solche Dinge kamen demnach nicht nur im Pariser Proletariat vor, wo er die Hysterie zuerst erforscht hatte, sondern auch unter geachteten bürgerlichen Familien in Wien, wo er mittlerweile praktizierte. Dieser Gedanke war schlichtweg unannehmbar. Er überstieg das Vorstellungsvermögen."

(judith herman, "die narben der gewalt"; siehe literaturliste; s.26)


so kam es also dazu, dass das überhaupt erste aller modernen psychotherapeutischen verfahren von anfang an in der theoretischen grundlage massiv von gesellschaftlichen gewaltverhältnissen - genauer: patriarchalen gewaltverhältnissen - deformiert wurde. so entstanden die teils bizarren theoretischen konstruktionen innerhalb der orthodoxen psychoanalyse. freud, dem sehr an einer anerkennung seiner methode durch die etablierte psychiatrie gelegen war, konnte der allgemeinen verleugnung nicht widerstehen. im zusammenspiel mit den antisemitischen diffamierungen, denen er ebenfalls ausgesetzt war, führte das dazu, dass das vielversprechende gesellschaftskritische potenzial der psychoanalyse in diesem punkt schließlich weitgehend entschärft wurde.

es gibt aber noch einen anderen wahrscheinlichen grund für diese verleugnung, die von der ersten psychoanalytischen generation nicht nur seitens freud betrieben wurde. einmal wären da hinweise darauf, dass freud selbst betroffen gewesen sein könnte:

"Im selben Jahr verdichtete sich Freuds Verdacht, dass auch sein eigener Vater sich an seinen Kindern vergangen hat. Vielleicht hat sogar - wie so oft - die eigene Mutter dabei weggeschaut. Sein Bruder und die jüngeren Schwestern litten an schwerer Hysterie. Daher - so Freuds Vermutung - müsse auch sein eigener Vater ein Kinderschänder gewesen sein. Freud schreibt wörtlich: 'Dann müsste mein eigener Vater auch ein so Perverser gewesen sein'"

dazu kommt ein weniger bekannter aspekt, auf den j. erik mertz in seinem borderline-buch hingewiesen hat (und sich dabei wiederum auf entsprechende arbeiten von jeffrey masson beruft: danach ist nämlich freuds briefpartner und freund, wilhelm fließ, nach aussagen seines sohnes robert fließ - der auch psychoanalytiker wurde - selbst ein täter gewesen, der u.a. eben diesen sohn mißbrauchte! freud diskutierte also seine "verführungstheorie" mit eben einem derjenigen "respektablen mitglieder der bürgerlichen gesellschaft", die an einer tatsächlich realistischen theoriebildung nun überhaupt kein interesse haben konnten.

(desweiteren ist aus der ersten generation der psychoanalyse auch noch carl gustav jung als ein prominenter name zu nennen, der in der neueren forschung sowohl traumainduzierte opfer- (durch eventuelle sexuelle übergriffe, aber auch durch eine allgemein traumatische kindheit) als auch täteranteile (im verhältnis zu frauen) aufweist. mehr zu diesem thema und möglichen zusammenhängen mit der jungschen theoriebildung hier.)

im handbuch der borderlinestörungen (siehe literaturliste) ist gleich das erste kapitel von birger dulz ausführlich dem thema der freudschen zurücknahme der "verführungstheorie" gewidmet. dulz versucht dabei meiner meinung nach, durch viele relativierungen und das aufzeigen von widersprüchen in freuds äußerungen zum thema, eine art "ehrenrettung", die darin endet, dass er u.a. zu dem ergebnis kommt:

"Freud hat für die Hysterie - sprich Borderline-Störung - eine Traumaätiologie postuliert, die später durch die Annahme einer zusätzlichen intrapsychischen Komponente erweitert, nie zurückgenommen, doch stets angefochten - und manchmal sogar umkämpft - wurde."

(birger dulz "über die aktualität der verführungstheorie", in: handbuch der borderlinestörungen; s.24)


wobei ich anhand seines präsentierten materials finde, dass das nur ein möglicher standpunkt ist - ich empfinde freuds äußerungen teils sehr taktierend, und faktisch bleibt festzuhalten, dass sich die psychoanalyse insgesamt jedenfalls so verhalten hat, als ob der widerruf vollgültig gewesen ist und seine ursprüngliche theorie von der "intrapsychischen variante" nicht nur "erweitert", sondern komplett ersetzt worden ist. und zumindest dagegen ist von freud nie in der nötigen deutlichkeit stellung bezogen worden.

(zur bemerkung von dulz, die hysterie sei implizit gleichbedeutend mit borderline, mehr weiter unten).

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durch solch komplexe verhältnisse und zusammenhänge kam es also jedenfalls dazu, dass sich durch die pschoanalyse nichts an der sexuellen ausbeutung von kindern - und zwar vorwiegend weiblichen geschlechts - änderte. in den psychiatrischen krankengeschichten spiegelt sich das in der form wie oben erwähnt (nur die diagnosen änderten sich, je nach psychiatrischem zeitgeist), bis ende der 1960er jahre wieder (die späteren akten gelangen erst jetzt in die psychiatrischen altarchive).

der begriff der hysterie blieb zwar erhalten, jedoch änderte sich der inhalt - wo zu zeiten von freuds forschungen die tür zur erbärmlichen realität, aus der die symptome der hysterie stammten, ein stück weit aufging, legte er selbst mit dem widerruf seiner ersten (und zutreffenden) folgerungen imo den grundstein dafür, dass hysterie für uns heute hauptsächlich die verächtliche bedeutung eines schimpfwortes hat.

"du bist doch hysterisch!" = stell dich nicht so an, übertreib nicht so.

daraus spricht bis heute das ferne echo der freudschen verleugnung der gewalt, die ihn mächtig erschreckt hatte. und genau wie beim wort "neurotisch" ist "hysterisch" irgendwann so derart negativ im allgemeinen sprachgebrauch besetzt worden, dass selbst die psychiatrie auf die weitere nutzung dieser begriffe größtenteils verzichtet - und anstelle der hysterie die "histrionische persönlichkeitsstörung" eingeführt hat. ich weiß nicht, wie oft diese diagnose heute gestellt wird. ich vermute, nicht sehr häufig.

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ein weiteres längeres zitat aus dem schon mehrfach erwähnten buch von judith herman (welches ich an dieser stelle hier nochmal dringend allen leuten ans herz legen möchte, die mit ptbs auch nur interessehalber etwas zu tun haben - wer diese diagnose "besitzt", sollte sich das sowieso unbedingt besorgen), bringt uns von der hysterie zu borderline:

"Opfer von Mißbrauch in der Kindheit hören oft viele unterschiedliche Diagnosen, bevor das zugrundeliegende Problem eines komplexen posttraumatischen Syndroms erkannt wird. Viele Diagnosen haben stark negative Konnotationen. (unterschwellige bedeutungen, besetzungen)
Drei sehr unangenehme Diagnosen werden besonders häufig auf Opfer von Mißbrauch in der Kindheit angewendet:
Somatisierung, Borderline-Störung und multiple Persönlichkeitsstörung.

Alle drei Diagnosen waren früher unter der heute obsoleten Bezeichnung Hysterie zusammengefaßt. Patienten, zumeist Frauen, bei denen diese Störungen diagnostiziert wurden, lösen bei Ärzten und Pflegepersonal oft ungewöhnlich heftige Reaktionen aus. Man zweifelt an ihrer Glaubwürdigkeit und beschuldigt sie der Manipulation und Simulation. Sie stehen häufig im Mittelpunkt heftiger, eindeutig parteilicher Auseinandersetzungen. Manchmal erfahren sie offenen Haß.

Alle drei Diagnosen sind stark negativ besetzt. Besonders berüchtigt ist die Diagnose einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. Diese Bezeichnung bedeutet in vielen psychiatrischen Einrichtungen eine wohlformulierte Beleidigung. (hier schreibt sie zwar über die usa, jedoch läßt sich das wohl 1:1 übertragen. anmerk. mo)
So gab ein Psychiater freimütig zu: `Als Assistenzarzt fragte ich einmal meinen Vorgesetzten, wie man bei Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung vorgeht. Er antwortete hämisch: Man überweist sie.´

Die Bezeichnung `Borderline´, so der Psychiater Irvin Yalom, `ist ein Wort, das den ruhebedürftigen Psychiater mittleren Alters in Angst und Schrecken versetzt.´ Borderline, so sagen einige Ärzte, ist inzwischen mit so vielen Vorurteilen belastet, daß man auf diese Bezeichnung ganz und gar verzichten sollte, wie auch die einstige Diagnose Hysterie fallengelassen werden mußte."

(judith herman "die narben der gewalt"; siehe literaturliste; s. 172)


nach den ansätzen und gedanken, die ich bisher im blog allgemein zu den themen trauma und borderline skizziert habe, könnte das erwähnte ablehnende verhalten aus zwei verschiedenen quellen entspringen:

einmal die weiterhin praktizierte verleugnung/verdrängung gewalttätiger und krankmachender lebensverhältnisse.
zum zweiten aber auch aus der vorhandenen erfahrung mit - hm, *echten* persönlichkeitsgestörten leuten, die zwar imo eher außerhalb als innerhalb psychiatrischer institutionen anzutreffen sind - nichtsdestotrotz aber trotzdem ihre spuren bei vielen menschen hinterlassen und diagnostisch eher zum antisozialen spektrum zu zählen wären.

sollte das einigermaßen zutreffend sein, so würde hier eine fatale vermischung von klassifizierungen vorliegen, die inhaltlich nicht bzw. nur zu einem kleinen teil gerechtfertigt wären: nämlich da, wo das re-inszenieren eigener traumatischer erfahrungen in eine täterrolle führt. zu den oberflächlichen gemeinsamkeiten von bps und ptbs ist ebenfalls ein wenig in den borderline-beiträgen zu lesen, das wird aber im rahmen dieser reihe unter dem stichwort "komorbiditäten" noch einmal gesondert eine rolle spielen.

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als vorläufiges fazit aus dieser durchaus verwirrenden geschichte der hysterie ziehe ich für mich (achtung, jetzt wird´s wieder mal kompliziert):

- diese diagnose ist spätestens seit freuds rückzieher zu einer stigmatisierenden und einer vertuschenden, d.h. individualisierenden und für die gesellschaft entlastenden, geworden. letztere feststellung wird durch die seitens der psychohistorie von deMause belegte gewalttätige europäische tradition der behandlung von kindern untermauert.
- ebenfalls ist sie eine diagnose, die zu - inzwischen in der form überholten - traditionellen patriarchalen verhältnissen passt.
- die damals so etikettierten würden heute ganz überwiegend unter den folgenden modellen "laufen": ptbs, borderline und histrionische persönlichkeitsstörung, dissoziative ps. diese diagnosen könnten in beliebigen kombinationen und reihenfolgen auftreten.
- diese tatsache wiederum verweist besonders auf das ungeklärte spannungsverhältnis zwischen ptbs und borderline: die entscheidende frage dabei lautet, ob beim letzteren tatsächlich in jedem fall eine traumaätiologie gegeben ist. teile der aktuellen borderline-forschung verneinen das, während ebenso aus großen bereichen der psychotraumatologie die forderung stammt, borderline generell unter einem traumaschwerpunkt zu begreifen - judith herman kann dafür stellvertretend stehen, und ihr im einleitungsbeitrag dieser reihe vorgestelltes modell der komplexen ptbs dient u.a. dazu, die heutigen borderline-symptome in einem neuen modell "aufzufangen".

nach den bisherigen modellen der ptbs, in denen transgenerationale oder auch kumulierte traumata keine rolle spielen, hätte bisher die borderline-forschung eher die meisten argumente auf ihrer seite. andererseits: gerade die anerkennung dieser arten von traumata könnte vielleicht in vielen borderline-diagnosen zu einer neubewertung führen.

aber das ist nicht alles: nachdem ich mich hier schon öfter auf die abweichende borderline-ätiologie von mertz bezogen habe (und die in vieler hinsicht immer noch einleuchtend finde), stellt sich die frage, wie die von ihm als bland / sozial kompatibel / simulativ funktionabel bezeichneten borderline-betroffenen innerhalb des ganzen verstanden werden müssten. eine hypothese dazu: vielleicht wäre es hilfreich, hier von zwei großen gruppen zu reden: einmal die durch - als solche verstandene und definierte - postnatale gewalt in posttraumatische störungen getriebenen, welche sich primär unter den oben genannten diagnosen ptbs, borderline und dissoziativer ps versammeln. und dann diejenigen, die - vermutlich - bereits pränatal in einen strukturell autistischen zustand geraten sind, der z.t. als durch pränatale traumatisierung hervorgerufener verstanden werden kann. diese könnten aus gründen, die auszuführen hier gerade den rahmen sprengen würde, durchaus als-ob-symptome produzieren - als ob sie in eins der gerade genannten diagnostischen modelle gehören würden. und genau diese gruppe wäre es, die für den realen kern im schlechten image ("simulanten") der früheren hysterie und der aktuellen borderline-diagnose sorgen würde. und zwar ohne von heute aus nachweisbarer bzw. als solche definierte traumatisierung. andererseits können sich besonders auch real traumatisierte männer sehr schnell in der täter-opfer-dialektik als antisozial handelnde täter wiederfinden. es dürfte in dem ganzen bereich sehr viel, wenn nicht alles von den verwendeten definitionen abhängen.

damit dürfte jetzt die verwirrung mal wieder komplett sein, wie ich annehme. aber ich hoffe, dass gerade die regelmäßigen leserInnen hier eine ahnung davon haben, worauf ich hinauswill. generell gilt auch hier: stellen Sie ruhig die fragen, die Ihnen in den kopf kommen - und äußern Sie Ihre gedanken.

Mittwoch, 3. Januar 2007

basis: traumageschichte(n) 1 - eine einführung

"Gewalttaten verbannt man aus dem Bewußtsein - das ist eine normale Reaktion. Bestimmte Verletzungen des Gesellschaftsvertrages sind zu schrecklich, als daß man sie laut aussprechen könnte: Das ist mit dem Wort `unsagbar´gemeint.

Doch Gewalttaten lassen sich nicht einfach begraben. Dem Wunsch, etwas Schreckliches zu verleugnen, steht die Gewißheit entgegen, daß Verleugnung unmöglich ist. Viele Sagen und Märchen berichten von Geistern, die nicht in ihren Gräbern ruhen wollen, bis ihre Geschichten erzählt sind. Mord muß ans Tageslicht."(...)

judith herman

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"Trauma verlangt nach Wiederholung"

selma fraiberg


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die geschichte des (psycho-)traumas im allgemeinen und der diagnose der posttraumatischen belastungsstörung (ptbs) (die manchmal auch verwendete, vom englischen "posttraumatic stress syndrome" herrührende abkürzung ptss benutze ich hier nicht weiter) im besonderen füllt mittlerweile ganze bücher. und wie auch bei den anderen schwerpunkten in diesem blog sehe ich keine andere möglichkeit, als ein paar aspekte, die mir besonders wichtig erscheinen, hervorzuheben. aus diesen aspekten wird die hiermit beginnende reihe zum trauma dann auch bestehen - wobei ich mich, was die meisten leserInnen nicht überraschen wird, auf die heute sichtbaren (oder auch nur zu ahnenden) verbindungen zwischen traumatischen störungen und gesellschaft / politik konzentrieren werde.

im einzelnen wird es folgende beiträge zu lesen geben:
  • in dieser einführung werde ich neben einer kurzen thematisierung der non-man-made-violence-traumata - darunter fallen z.b. alle durch natukatastrophen, unfälle etc. erzeugten traumatischen störungen - auch eine linksammlung zur verfügung stellen, in der sich informationen zur geschichte des begriffes und der diagnose, die heutigen "offiziell" akzeptierten definitionen sowie einiges zum aktuellen stand der psychotraumatologie finden lässt. ebenfalls werde ich das diagnostische modell der chronischen ptbs nach judith herman hier vorstellen, welches für mich besser als die heutigen in der icd und dem dsm enthaltenen definitionen geeignet ist, traumatische störungen realitätsgerecht abzubilden.
  • dann wird es weitergehen mit einer vorstellung derjenigen von heute aus erkennbaren psychiatrischen diagnosen, die seit über hundert jahren für verwirrung gesorgt haben, weil sie faktisch zur vertuschung und verschleierung der folgen von zwischenmenschlicher gewalt geeignet waren - und dafür in einer gewissen hinsicht auch aktiv genutzt worden sind. als erstes wäre hier die hysterie zu nennen, und zwar im kontext der gewalt gegen frauen und mädchen. ebenso wie diese diagnose hatte auch die neurasthenie einen wahren "boom" in d-land und den usa vor dem ersten weltkrieg, und lässt sich womöglich als eine weitere fehldiagnose allgemein verbreiteter traumatischer symptome begreifen.
  • danach geht es in den bereich der kriegstraumata und zur diagnostischen konstruktion der rentenneurose. dabei wird es auch um eine weitere und kaum bekannte sehr unrühmliche seite der orthodoxen psychiatrie gehen: die militärpsychiatrie und ihre teils nicht anders als verbrecherisch zu nennenden praktiken.
  • die durch krieg induzierten traumatischen folgen besonders in der deutschen zivilbevölkerung des zweiten weltkrieges sind thema anhand der bemerkenswerten geschichte der vegetativen dystonie.
  • tradierte bzw. transgenerationale traumata werden zwar als existierendes phänomen mehr und mehr akzeptiert, sind aber nach wie vor in den offiziellen diagnostischen katalogen faktisch nicht vorhanden. diese teils geradezu unheimlich anmutende "vererbung" (das ist hier ausdrücklich eine metapher) von traumatischen störungen über die eltern bis hin sogar zu den enkelkindern wird ebenfalls thema sein.
  • in ihrer existenz nur sporadisch wissenschaftlich anerkannt sind hingegen die sog. "kleinen", besser: kumulierten traumata, die ein modell für die möglichen destruktiven folgen von langanhaltendem stress - auch auf "kleiner flamme" - darstellen. ein modell im übrigen, dessen implikationen durchaus einen radikalen perspektivenwechsel auf unseren heutigen sozialen umgang miteinander nahelegen würde. vielleicht stammt aus dieser ahnung auch die bisherige ignoranz gegenüber diesem phänomen. ein grund mehr, es zu thematisieren.
  • ebenso wie der aspekt der dissoziation als eine mögliche und sehr spezifische folge von traumata. hier werde ich dann auch auf eine frage eingehen, über die ich mir selbst noch keine abschließende meinung gebildet habe: sind simulative (als-ob) zustände womöglich eine folge oder ein ausdruck von dissoziativen zuständen? auch das thema der sozialen trance soll hier nochmals aufgegriffen werden.
  • die mögliche bedeutung von prä- und perinatalen traumata im späteren leben - sowohl für den betroffenen menschen als auch die gesellschaft als ganzes - zeichnet sich erst seit vergleichsweise sehr kurzer zeit ab. hier möchte ich v.a. einen an die psychohistorischen arbeiten von lloyd deMause angelehnten überblick zur entsprechenden forschung geben. dazu stellt sich gerade bei pränatalen destruktiven ereignissen die frage, ob sich hier nach den heutigen definitionen bzw. dem verständnis überhaupt noch von trauma reden lässt - die heutigen modelle der ptbs erfassen diesen bereich jedenfalls nicht.
  • daran anschließend stellt sich fast von selbst die frage nach den bekannten und möglichen komorbiditäten bei der ptbs-diagnose: die persönlichkeitsstörungen, allen voran borderline, wären hier zu nennen. aber ebenso gibt es indizien, die über das aufmerksamkeitsdefizit(hyperaktivitäts)syndrom ins autistische spektrum führen.
  • die epidemiologie von traumatischen störungen ist selbst nach den vermutlich zu eng gefassten heutigen diagnostischen modellen schlicht erschreckend. und über die daraus sichtbare erkennbare dimension der existenz von traumatischen störungen ergibt sich die notwendigkeit, über die möglichen individuellen und gesellschaftlichen implikationen für uns alle ausgiebig zu reden. darin enthalten wird auch nochmals die frage sein, wie denn trauma nun verstanden werden muss und soll - incl. der frage nach denjenigen, die zwar in gewalttätigen strukturen leben, aber keine klassischen symptome aufweisen. was hemmt traumatische wirkungen? es sind auf diese frage auch antworten denkbar, die keineswegs beruhigend sein können...
so also meine bisherige planung für diesen schwerpunkt - änderungen vorbehalten, und Sie sind gerne eingeladen, weitere aspekte hinzuzufügen bzw. zu ergänzen.

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- zu den non-man-made-violence-traumata

hierunter lassen sich folgende ereignisse fassen:

Naturkatastrophen: Großbrand, Blitzschlag, Überschwemmung, Dammbruch, Bergrutsch, Lawinenunglück, Erdbeben, Vulkanausbruch, Tornados.

Technikkatastrophen: Zeuge oder Beteiligter an einem schweren Autounfall, Eisenbahn-, Schiffs- oder Flugzeugunglück, Explosion, Arbeitsunfall, Chemieunfall.

Körperliche oder psychische Extrembelastungen: Giftgasunfall, schwere Verbrennungen oder Schmerzzustände, Gehirnblutung, überlebter Herzstillstand, schwerer allergischer Schock, Knochenmarkstransplantation, lebensbedrohliche Erkrankung.

(die quelle dieser aufzählung reiche ich weiter unten nach)


ich führe diesen bereich vor allem deswegen an, um einen meiner meinung nach bis heute völlig unterbelichteten sachverhalt deutlich zu machen: es ist nämlich zu beobachten, dass die be- und verarbeitung von aus den obigen beispielen herrührenden traumata in aller regel sowohl für betroffene als auch therapeutInnen leichter fällt, als bei traumasymptomen, die aus menschlicher gewalt stammen. ich greife einmal weit vor und behaupte, dass das zumindest z.t. an der sich anders oder auch gar nicht stellenden schuld- und verantwortlichkeitsfrage liegt, die bei man-made-violence-traumata zusätzlich zur allgemeinen erschütterung des weltvertrauens auch noch zur implosion des vertrauens in die soziale mitwelt führen kann - z.b. durch rache- , verlassenheits- und schuldgefühle, die die symptomatik um einiges schwerer machen können.

einen grenzbereich stellen nach dieser logik die sog. technikkatastrophen dar, gerade wenn es sich etwa um die folgen menschlichens versagens oder auch fehlenden arbeitsschutzes handelt - in solchen fällen kann der ganze komplex von schuld und verantwortung eine ähnliche rolle spielen wie bei direkter zwischenmenschlicher gewalt.

die unpersönliche gewalt einer naturkatastrophe hingegen - wie z.b beim schweren tsunami im indischen ozean 2004 - kann offensichtlich in bereits in ihrem sozialgefüge geschädigten gesellschaften als eine art trigger wirken, mit dem latent vorhandene gewalt in den sozialen beziehungen zur manifesten werden kann. so, wie es der obige link belegt. auch in einem solchen fall ist die grenzziehung zwischen den beiden traumaarten bei vielen betroffenen nicht mehr möglich.

es wird auch noch zu beobachten sein, was passiert, wenn sich das bewußtsein um die mit einiger wahrscheinlichkeit menschengemachten klimaveränderungen vor dem hintergrund häufiger werdender gewalttätiger wetterereignisse - wie tornados und hurricanes - verbreitet. auch das könnte ein potenzielles feld werden, in dem sich die erwähnte trennung mehr und mehr verwischt.

als letztes möchte ich zu diesem thema anmerken, dass es bis heute eine offene frage ist, ob und wie stark auch durch unpersönliche gewalt traumatisierte menschen das jeweilige soziale gefüge nachhaltig beeinflusst wird - anders: inwieweit bildet diese gruppe eine art "reservoir", aus dem sich in der folge auch direkte zwischenmenschliche gewalt entwickeln kann? damit sind einige der wichtigsten bezugspunkte angesprochen, die zum mich am meisten interessierenden thema der traumatischen man-made-violence führen. es ist vielleicht ganz angebracht, sich diese punkte vor allem folgenden im hinterkopf zu notieren.

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mehr noch als bei den anderen basisthemen hier möchte ich Ihnen etliches an lektüre nahelegen - einfach, weil das thema so derart umfassend ist. die bücher von judith herman und auch sabine bode rechts in der literaturliste sind als einstieg ganz gut geeignet, und ich werde vermutlich noch eine extraliste zum traumathema als beitrag hier nachreichen. aber auch online gibt es einiges, was einen längeren blick lohnt. dabei beschränke ich mich auf deutschsprachige seiten.

zunächst wären da die großen psychotraumatologisch tätigen wissenschaftlichen institutionen zu nennen, die jeweils gebündelt und kompakt etliches an grundlegenden informationen bereitstellen: dazu gehören das Deutsche Institut für Psychotraumatologie, die Deutsche Gesellschaft für Psychotraumatologie sowie das Fachinstitut für angewandte Psychotraumatologie. etliche regionale institutionen aus dem klinischen und forschungsbereich lasse ich einmal außen vor.

in der psychotraumatologischen Literaturdatenbank Prometheus finden sich v.a. hinweise auf wissenschaftliche arbeiten zu fast allen aspekten des themas - das ist besonders etwas für diejenigen unter Ihnen, die vielleicht auch beruflich mit dem bereich zu tun haben. als volltext sind auf den seiten des Instituts für Traumatherapie etliche interessante arbeiten zu finden, besonders, aber nicht nur, zu therapeutischen aspekten. mit dem letzteren kann ich überleiten zum EMDR-Institut, welches stellvertretend für eine therapeutische technik ausgewählt ist, die im bereich der traumatherapie seit etwa 15 jahren international für aufsehen sorgt - und da ich mich mit dieser technik theoretisch und auch als klient etwas tiefer beschäftigt habe, möchte ich die auseinandersetzung mit den dahinter stehenden konzepten ausdrücklich empfehlen.

weitere links finden sich ebenfalls rechts in der sidebar. zum thema dissoziation werde ich ein paar augewählte seiten im entsprechenden beitrag vorstellen. nicht solange vorenthalten möchte ich Ihnen allerdings die seite des hiesigen vereins refugio, der zu der unter diesem namen auch bundesweit tätigen reihe von institutionen gehört, die sich speziell mit flüchtlingen und migrantInnen auseinandersetzen, die aufgrund von kriegen, folter, vertreibung und flucht oft schwer traumatisiert sind. gerade zum thema der folter findet sich bei refugio etliches material, welches trotz oder gerade wegen seiner bedrückenden aussagen in die breiteste öffentlichkeit gehört.

dann bleibt mir jetzt noch, die quelle der obigen aufzählung von unpersönlichen traumaproduzierenden ereignissen nachzureichen: auf der seite panikattacken.at findet sich ein insgesamt sehr empfehlenswerter text zur ptbs, bei dem es auch um einige historische aspekte geht, die hier ebenfalls thema sein werden. als einstieg kann ich das ganze allen interessierten wirklich nahelegen.

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zumal es dort auch eine komprimierte auflistung der ptbs-modelle aus icd und dsm gibt, die in dieser form anderswo nur schwer zu finden ist (ich konnte jedenfalls bisher nichts derart übersichtliches auftun). damit komme ich zum letzten punkt dieser einführung, vor dem ich die lektüre der symptomkataloge nach icd und dsm für notwendig halte - es geht um das modell der komplexen ptbs, welches u.a. von judith herman entwickelt wurde. und das ich für einen fortschritt im vergleich mit den bisherigen diagnostischen modellen halte - vergleichen Sie einmal selbst:

1. Der Patient war über einen längeren Zeitraum (Monate bis Jahre) totalitärer Herrschaft unterworfen, wie zum Beispiel Geiseln, Kriegsgefangene, Überlebende von Konzentrationslagern oder Aussteiger aus religiösen Sekten, aber auch Menschen, die in sexuellen oder familiären Beziehungen totale Unterdrückung erlebten, beispielsweise von Familienangehörigen geschlagen, als Kinder physisch mißhandelt oder sexuell mißbraucht wurden oder von organisierten Banden sexuell ausgebeutet wurden.

2. Störungen der Affektregulation, darunter
- anhaltende Dysphorie (verstimmung, gereiztheit, anm. mo)
- chronische Suizidgedanken
- Selbstverstümmelung
- aufbrausende oder extrem unterdrückte Wut (eventuell alternierend)
- zwanghafte oder extrem gehemmte Sexualität (dito)

(alternierend: wechselweise, umspringend)

3. Bewußtseinsveränderungen, darunter
- Amnesie oder Hypermnesie, was die traumatischen Ereignisse anbelangt
- zeitweilig dissoziative Phasen
- Depersonalisation/Derealisation
- Wiederholungen des traumatischen Geschehens, entweder als intrusive Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung oder als ständige grüblerische Beschäftigung.

(hypermnesie: übersteigertes erinnerungsvermögen
intrusiv ist hier nicht ganz leicht zu übersetzen, ich würde es im sinne von "aufdringlich gestaltend, von innen her normierend" an dieser stelle benutzen - die betroffenen werden quasi von der störung in all ihren lebensäußerungen modelliert. die anderen fachbegriffe setze ich mal als bekannt voraus.)

4. Gestörte Selbstwahrnehmung, darunter
- Ohnmachtsgefühle, Lähmung jeglicher Initiative
- Scham- und Schuldgefühle
- Gefühl der Beschmutzung und Stigmatisierung
- Gefühl, sich von anderen grundlegend zu unterscheiden (der Patient ist etwa überzeugt, etwas ganz Besonderes zu sein, fühlt sich mutterseelenallein, glaubt, niemand könne ihn verstehen oder nimmt eine nicht menschliche Idenität an.)

5. Gestörte Wahrnehmung des Täters, darunter
- ständiges Nachdenken über die Beziehung zum Täter (auch Rachegedanken)
- unrealistische Einschätzung des Täters, der für allmächtig gehalten wird
- Idealisierung oder paradoxe Dankbarkeit
- Gefühl einer besonderen oder übernatürlichen Beziehung
- Übernahme des Überzeugungssystems oder der Rationalisierungen des Täters

6. Beziehungsprobleme, darunter
- Isolation und Rückzug
- gestörte Intimbeziehungen
- wiederholte Suche nach einem Retter (eventuell alternierend mit Isolation und Rückzug)
- anhaltendes Mißtrauen
- wiederholt erfahrene Unfähigkeit zum Selbstschutz

7. Veränderung des Wertesystems, darunter
- Verlust fester Glaubensinhalte
- Gefühl der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung

(zitiert nach: herman, judith "die narben der gewalt"; junfermann, paderborn 2003; s.169/170; isbn 3-87387-525-X)


soweit ein modell, welches überarbeitet und ergänzt - zb. fehlen mir persönlich die diversen körperlichen symptome, die eine ptbs / ein trauma mit sich bringen kann - durchaus deutlicher ein realitätsgerechtes verständnis des traumas ermöglicht, als die imo zu eng gefassten konventionellen modelle. und das sage ich selbst unter der berücksichtigung, dass hier viele der weiter oben erwähnten möglichen, teils eher subtilen erscheinungsformen von traumata immer noch sozusagen hinten runter fallen. wichtig finde ich aber vor allem eins: die für ein diagnostisches modell erstmalige und explizite betonung, dass es sich hier um die folgen zwischenmenschlicher gewalt handelt - in letzter konsequenz also um die folgen und wirkungen extremster und brutalster verdinglichung. wenn ich also von ptbs rede, dann habe ich das obige modell bevorzugt dazu im kopf.

Montag, 24. April 2006

basis: "als-ob-persönlichkeiten" - leben als totale simulation (2)

4. das gleiche muster: ein modell des soziopathen (psychopathen) - und etliche spekulationen zum pränatalen leben

"Der amerikanische Psychiater Hervey Cleckley schreibt in seinem grundlegenden Werk The Mask of Sanity über ein Phänomen, das innerhalb der psychiatrischen Krankheitsbilder ein ungelöstes Rätsel blieb. Bei allen `orthodoxen´ Psychosen gibt es mehr oder weniger deutliche Veränderungen im Denkprozeß oder andere die Persönlichkeit verändernde Merkmale, seien es Wahnvorstellungen, Halluzinationen oder völlig alogisches Denken. Nicht so beim Psychopathen. Ist er auf irgendeine Weise auffällig geworden und unter psychologische oder psychiatrische Beobachtung gekommen, dann ergibt sich folgendes Bild:

`Der Beobachter ist mit einer überzeugenden Maske von geistiger Gesundheit konfrontiert. Die Außenansicht dieser Maske ist vollkommen intakt; man kann sie nicht mit Fragen durchstoßen, um zu den tieferen Schichten vorzudringen. Der Prüfende trifft nie auf das Chaos, das man manchmal unter der Oberfläche des paranoiden Schizophrenen findet. Das Denken verläuft unter psychiatrischen Gesichtspunkten in ganz normalen Bahnen, und in Tests, die verborgene Störungen aufdecken könnten, kommt nichts zutage.´

Geboten werden die soliden Strukturen einer gesunden und vernünftigen Persönlichkeit. Auch alle Ausdrucksformen des Gesichtes und der Sprache sowie die geistigen und emotionalen Werturteile entsprechen dem.

`Nur sehr langsam steigt der Verdacht auf, daß es sich trotz dieser Intaktheit ... hier nicht im geringsten um einen intakten Menschen handelt, sondern um eine subtil konstruierte Reaktionsmaschine, die eine menschliche Persönlichkeit perfekt nachahmen kann. Dieser einwandfrei arbeitende psychische Apparat bringt nicht nur unermüdlich Proben richtigen Denkens hervor, sondern auch die passenden Nachahmungen normaler menschlicher Gefühle, die auf nahezu alle Reize des Lebens reagieren. Die Kopie eines vollkommenen und normalen Menschen ist so perfekt, daß niemand, der einen solchen Menschen in der klinischen Situation untersucht, in wissenschaftlich objektiven Begriffen darlegen kann, wie und warum er nicht real ist. Und doch wissen oder fühlen wir, daß er keine Realität im Sinn eines voll und gesund erfahrenen Lebens hat.´

Cleckley macht den Vorschlag, dies auf eine Wahrnehmungsstörung zurückzuführen: Es fehlt die `Fähigkeit, gewahr zu werden, was die grundlegenden Lebenserfahrungen für andere Menschen bedeuten.´ Damit meint er die emotionale Grundausstattung und die damit verbundenen Ziele und Verantwortungen. Im Psychopathen ist die Ganzheit dieser Erfahrung beseitigt, blockiert oder abgetrennt."

(arno gruen, "der wahnsinn der normalität"; siehe literaturliste; s. 161/162)


ich habe mich beim lesen des obigen schon oft gefragt, ob cleckley bei der entwicklung seiner definition kenntnis des modells von helene deutsch hatte - zu deutlich gleichen sich beide beschreibungen bis in details hinein. und das wäre nicht nur aus psychiatriehistorischer sicht interessant zu wissen, sonder eher deswegen, weil eine von deutsch´s definition unabhängige forschung, die zum gleichen ergebnis kommt, als weiteres indiz dafür zu begreifen wäre, das das modell der simulativen persönlichkeit etwas reales beschreibt. ich kenne cleckleys buch nicht selbst (und wenn Sie sich die horrenden preise im obigen link betrachten, sehen Sie dafür auch einen ganz pragmatischen grund), aber falls hier jemand mitliest, der/die weitere kenntnisse genau über die aufgeworfene frage besitzen sollte - und vielleicht hat cleckley ja irgendwo hinweise auf helene deutsch gegeben - , dann wäre ich sehr dankbar für eine entsprechende information.

nun habe ich mich hier vor einiger zeit bereits mit dem klassischen soziopathen beschäftigt, und dabei auf eine durch die neuere forschung entdeckte neurophysiologische besonderheit dieser menschen hingewiesen, nämlich die unfähigkeit zu angstempfindungen, die dann in der konsequenz bedeutet, dass soziopathen auch durch sie ausgelöste ängste bei anderen nicht wahrnehmen bzw. verstehen können. objektiv beobachten können sie hingegen auch die ängste bei anderen, aber - wie schon gesagt - es findet keine innere berührung statt. von diesem punkt aus lässt sich also eine praktische identität zwischen simulativer persönlichkeit und soziopathie annehmen. nicht mehr so einfach wird es aber bei dem gedanken, dass es sich beim modell der als-ob-persönlichkeit auch um ein modell eines eigenständigen und sozusagen "höher" organisierten (simulationsfähigen) autismus´ handelt. der klassische autismus, selbst in seiner (relativ) realitätstüchtigsten aspergervariante, ist - ich verweise wieder einmal u.a. auf entsprechende aussagen von temple grandin - ja eher von einer ständigen und möglicherweise allumfassenden weltangst geprägt, was sich u.a. in der von grandin beschriebenen permanenten anspannung des nervensystems manifestiert. ebenso spielen existenzielle ängste bei (als solchen diagnostizierten) borderline- und narzisstischen persönlichkeiten eine große rolle, und nicht zuletzt natürlich auch im traumakontext. andererseits gibt es aber bei den letztgenannten störungsbildern auch wieder massive hinweise auf simulative zustände teils sehr umfassender art - wie lässt sich also dieser ganze komplex am besten verstehen?

ich persönlich muss mich an dieser stelle auf meine ganz eigenen spekulationen beschränken, die auf das folgende szenario hinauslaufen, natürlich grob reduziert: erstens deutet für mich einiges darauf hin, bei den verbreitesten beziehungskrankheiten von einem spektrum auszugehen in dem sinne, dass die elemente "starke behinderung bis totaler wegfall der beziehungsfähigkeit" sowie - als kompensation - "eine objektivistische bewältigung dieses elementaren mangels mittels mehr oder weniger umfassenden simulationen" zentrale gemeinsamkeiten darstellen. zweitens können sich diese strukturellen gemeinsamkeiten aber in teils sehr unterschiedlichen individuellen formen manifestieren, was drittens mit einem in der pränatalen phase liegenden beginn der katastrophalen entwicklung zu tun haben könnte. ich gehe nach meiner bisherigen kenntnis der pränatalen forschung von der möglichkeit aus, das sowohl die klassische soziopathie (in dem sinne, wie ich sie in den entsprechenden beiträgen versucht habe zu definieren, also nicht gleichgesetzt mit der antisozialen ps), die klassischen autismusformen als auch die mehrzahl der persönlichkeitsstörungen durch die überhaupt frühstmöglichen (sozialen) einflüsse entscheidend mitverursacht werden: während der pränatalen entwicklung der grundlagen der (selbst-)wahrnehmungs- und beziehungsfähigkeiten im mutterbauch. es existieren für die jeweilige psychophysische entwicklung jeweils teils sehr enge zeitfenster, in denen sich die nötige basis für praktisch unser gesamtes gesundes menschliches funktionieren entwickeln muss. gleichfalls kann, ohne das hier im einzelnen genauer zu beschreiben, davon ausgegangen werden, dass gerade im bereich der basis der sozialen fähigkeiten die beziehungsfähigkeit der mutter zum embryo eine notwendige voraussetzung darstellt, um diese basis überhaupt zu ihrer entwicklung zu stimulieren / anzuregen.

davon ausgehend, ließe sich nun mit der these arbeiten, dass die bisher bekannten verschiedenen beziehungkrankheiten in ihren zentralen eigenschaften jeweils die besonderheiten des zugehörigen pränatalen zeitfensters sowie des im hintergrund vorhandenen psychophysischen zustands der mutter wiederspiegeln: das kanner-autistische kind bspw. den totalausfall jeglicher authentischen und simulativen zuwendung bzw. stimulierung seitens der mutter zumindest in der entscheidenden pränatalen phase; beim asperger-autist gleiches, mit einem minimum an simulativer beziehung (was sich in den fragmenthaft vorhandenen simulationsfähigkeiten bei aspergerbetroffenen niederschlagen würde). in einer uns unfaßbaren art und weise wäre das für die embryos als überhaupt früheste denkbare und existenziellste ablehnung erfahrbar, die überhaupt möglich erscheint - noch nicht einmal ganz da, und schon ignoriert/abgelehnt (was nichts mit einem bewußten tun seitens der mutter zu tun haben muss - das ist wichtig.) ist es unter dieser prämisse so abwegig, anzunehmen, dass die quasi natürliche reaktion des werdenden menschen auf eine solch entsetzliche erfahrung auch darin liegen kann, eine ebenso existenzielle angst als grundlegende prägung der eigenen wahrnehmung zu entwickeln? ich verweise in diesem zusammenhang auch auf diesen älteren beitrag (es geht da um die letzte meldung), wo diese möglichkeit etwas konkreter sichtbar wird.

wenn sich die mutter selbst in einem überwiegend objektivistischen bzw. simulativen modus befindet (was ganz verschiedene gründe haben kann), führt das bekanntlich zwangsläufig zu einer offen oder verdeckt vorhandenen extrem verdinglichenden selbst- und fremdwahrnehmung. so wie sie sich als quasi dinghaft wahrnimmt, so würde sie auch den embryo in sich als fremdes ding wahrnehmen, im schlechtesten fall noch dazu als störendes. in dieser letzten konstellation dürfte der schlüssel zu vielen der hier im blog thematisierten fälle von infantizid zu suchen sein. kann sie sich hingegen eine einigermaßen haltbare identität z.b. anhand der gesellschaftlich vorgegebenen mutterrolle konstruieren, so wird diese simulation die verdinglichende wahrnehmung zwar verdecken, nicht jedoch beseitigen. der embryo wäre in der bzw. den für die entwicklung seiner beziehungsfähigkeiten entscheidenden phase(n) nicht mit einem authentischen, sondern mit einem simulativen als-ob-angebot konfrontiert, bei dem er mit der verdinglichenden qualität zwangsweise irgendwie umgehen müsste. und wie es gesündere menschen in einer solchen situation im späteren leben meist auch tun, allerdings nicht alternativlos, so würde er in einem solchen fall - ohne jegliche ausweichmöglichkeit - seine gesamte beziehungsbasis, die sich gerade erst entwickelt, auf diese simulative qualität hin reduzieren müssen, weil nichts anderes zur verfügung steht. anders: das objektivistische bewusstsein als werkzeug würde extrem früh aktiviert werden müssen, um mit dieser art von (fehl-)stimulierung umgehen zu können. und es wird sich - wieder eine hypothese, aber von einiger wahrscheinlichkeit - in einer monopolposition innerhalb der selbst- und weltwahrnehmung des werdenden menschen installieren.

und das wäre die eigentliche geburtsstunde für diejenigen, die später unter diagnosen wie soziopathie und auch (mit einschränkungen) borderline und narzissmus sowie in modellen wie der als-ob-persönlichkeit von ihrer mitwelt erfasst werden. beim soziopathen mit der besonderheit der hier als negativ zu begreifenden angstfreiheit ließe sich eine durch besondere prozesse verursachte spezielle anpassung hinsichtlich der massiv angsterzeugenden pränatalen konstellation vermuten, die nicht nur die angstwahrnehmung faktisch ausschaltet, sondern dadurch auch das objektivistische bewusstsein hinsichtlich seiner späteren simulationsfähigkeiten noch in eine bessere ausgangspostion bringt.
bei borderline sieht es imo etwas anders aus, aber nur auf den ersten blick: wenn die these von mertz zutreffen sollte, dass es sich bei der blanden form von borderline um die "eigentliche" und ursprüngliche borderlinekrankheit handelt und die auffälligen symptome entweder - immer noch mertz - daraus resultieren, dass das grundsätzlich blande simulative funktionieren des menschen aus was für gründen auch immer nicht mehr klappt und sich erst daraus die klassischen bl-symptome entwickeln; oder aber - mein eigener eindruck - die bl-diagnose fälschlicherweise auf viele menschen mit postnatalen (oder auch perinatalen) traumatischen erlebnissen gepappt wird, so lässt sich schon vermuten, dass mit einiger sicherheit gerade dort, wo sich bei einer bl-diagnose kein (post-)traumatischer hintergrund im weitesten sinne finden lässt, eine pränatale genese ungefähr der art wie oben skizziert vorhanden sein könnte. ich hatte schon im bl-beitrag geschrieben, dass sich nach meiner erfahrung auffällig häufig schlechte bis sehr schlechte verhältnisse zur eigenen mutter bei bl-diagnostizierten menschen finden lassen, was sowohl ein indiz für das obige pränatale modell sein könnte, als auch die schlußfolgerung nahelegen würde, dass die (nicht-)beziehung zur mutter sowie überhaupt die verhältnisse innerhalb der mütterliche linie in den jeweiligen familien als zwingendes kriterium bei der diagnose von borderline zukünftig zu berücksichtigen wäre. aber gehen Sie mal mit dieser forderung in die offiziellen psychiatrischen bzw. psychologischen zuständigen institutionen...

eins noch zur konfusion zwischen borderline und posttraumatischen störungen (ptbs): mein schon früher ausgesprochener verdacht, dass es sich bei der bl-diagnose aus einer bestimmten perspektive betrachtet auch um eine der psychiatrietypischen und gesellschaftsentlastenden vertuschungsdiagnosen - in diesem fall hinsichtlich der folgen sexualisierter gewalt - handelt, bleibt für mich weiterhin gültig. vor dem hintergrund des oben umrissenen ergibt sich aber noch eine weitere erklärungsmöglichkeit für die auffälligen überschneidungen zwischen bl und ptbs: es kann mit sicherheit davon ausgegangen werden, dass menschen, deren beziehungsmäßig relevante wahrnehmungsfähigkeiten bereits pränatal schwer bis total geschädigt worden sind, natürlich im späteren leben nicht über die nötige intuition/empathie verfügen können, um für sie gefährliche situationen und menschen früh genug zu erkennen. das ist das eine. dann: sie können aus dem gleichen grund nur schlecht bis gar nicht grenzen setzen (wer sich selbst als dinghaft erlebt, wird auch - gerade als frau - die entsprechenden zuschreibungen verinnerlichen). stichwort frau: wenn sich bl-frauen ihre identitäten zwangsläufig anhand vorhandener frauenbilder und -rollen konstruieren, so gibt es bei der vielzahl von patriarchal definierten frauenbildern, die bis heute auf dem markt für identitäten verfügbar sind, noch genügend vorhandene, in denen die begriffe des opfers und der (sich) opfernden eine zentrale rolle spielen. eine solche identität vor dem hintergrund zusätzlich fehlender wahrnehmungsmöglichkeiten betrachtet, erhöht die wahrscheinlichkeit doch ganz extrem, irgendwann einmal tatsächlich zum opfer gemacht zu werden.

***

so. schnaufen Sie einmal tief durch. wenn Sie sich bis hierhin vorgearbeitet haben, dann werden Sie den rest auch noch schaffen.

bevor ich gleich zum letzten aspekt der simulativen persönlichkeit komme, den ich erwähnenswert finde, noch ein paar (präventive) bemerkungen zum ganzen pränatalen komplex: erstens, hinsichtlich der mütter halte ich es nach wie vor für sinn- und zwecklos, hier mit moralischen kategorien wie "schuld" o.ä. zu arbeiten. verantwortlichkeit trifft es eher, wobei ich diese nur als gesamtgesellschaftlich begreifen kann. die rolle der mütter in der menschlichen geschichte ist und bleibt sowohl zentral als auch schwer ambivalent: einerseits sind sie für unser aller existenz unverzichtbar und auch - in einem gewissen sinne - für viele mögliche deformationen dieser existenz verantwortlich; andererseits lässt sich letztlich aber auch so ziemlich jeder tatsächliche zivilisatorisch-gesellschaftliche fortschritt auf das wirken von liebesfähigen müttern zurückführen (lesen Sie dazu, wie zu vielem anderen, deMause).

zweitens: natürlich gibt es auch dokumentierte fälle, in denen bspw. soziopathische persönlichkeiten durch postnatale geschehnisse entstehen; natürlich gibt es gerade auch narzisstische problematiken, die sich innerhalb der ersten drei bis vier lebensjahre entwickeln; und die vermutlich größere zahl von fälschlichen bl-diagnosen hatte ich gerade erst erwähnt. all das sind aber nicht unbedingt argumente gegen das modell der pränatalen genese vieler beziehungskrankheiten, erst recht dann nicht, wenn sie regelrecht totalitär - im sinne von weitreichend und existenziell - daherkommen. gerade die letzteren eigenschaften sprechen imo doch für eine ganz grundsätzliche und ebenso totalitäre verursachung, die sich eben als möglichkeit am ehesten im pränatalen geschehen verorten lässt.

drittens: das in etlichen fällen der hier erwähnten beziehungskrankheiten auch einflüsse aus ganz anderen ecken beteiligt bzw. verantwortlich sein könnten, sollte ebenfalls im hinterkopf bleiben. damit meine ich noch nicht mal primär mögliche genetische komponenten (die entwickeln in den allermeisten fällen erst im zusammenspiel mit den sozialen bedingungen ihre wirkung), sondern bspw. unerkannte vergiftungen, primär organische störungen oder auch infektionskrankheiten, geburtskomplikationen sowie - im trauma- und auch borderline-kontext - postnatale ursachen, die sich deutlich an negativen äußeren bedingungen festmachen lassen. eine ptbs kann bspw. auch nach einem verkehrsunfall oder dem erleben einer naturkatastrophe entstehen; ich kenne borderline-geschichten, die z.b. durch einen längeren krankenhausaufhenthalt traumatischer natur während der kindheit ausgelöst worden sind (wobei wir da wieder bei der frage landen, ob derlei nicht korrekter als ptbs bezeichnet und behandelt werden sollte), u.a. selbst bei den meisten der eben genannten beispiele lassen sich aber mehr oder weniger große einflüsse der herrschenden sozialen verhältnisse aufspüren, die jedoch verdeckt als strukturelle gewalt wirksam sind und meistens nicht wahrgenommen oder aber toleriert werden. die schulterzuckende akzeptanz von tausenden verkehrsopfern pro jahr sowie einer mehr oder weniger großen kontamination unserer gesamten umwelt mit synthetischen und teils eindeutig giftigen stoffen gehört dazu genauso wie klimatische extremereignisse, durch die in den nächsten jahrzehnten ganze regionen v.a. in der sog. dritten welt unbewohnbar werden, was für flüchtlingsbewegungen größten ausmaßes mit allen dazugehörigen (und potenziell traumatischen) folgen sorgen wird. aber machen Sie sich bitte auch klar, dass die frauen, die unter solchen bedingungen irgendwann einmal mütter werden, eben auch in großer gefahr sind, simulative zustände als fluchtpunkt und "normalität" in eigentlich unerträglichen sozialen verhältnissen anzusehen - und damit wären wir wieder beim eigentlichen thema. wobei mir dieser letzte absatz jetzt auch eine einigermaßen passende überleitung zum nächsten punkt möglich macht:


5. soziologische und politische implikationen der simulativen existenz

"Die gleiche Leere und der gleiche Mangel an Individualität, die das emotionale Leben so unübersehbar beherrschen, kommen auch in der moralischen Struktur zum Vorschein. Volkommen ohne Charakter, gänzlich prinzipienlos ... die Moral der Als-Ob-Individuen, ihre Ideale, ihre Überzeugungen sind bloß ein Reflex auf andere Personen, gute oder böse. Wenn sie sich sozialen, ethischen und religiösen Gruppen anschließen, was ihnen sehr leicht fällt, so versuchen sie dadurch ihrer inneren Leere Inhalt und Realität zu verleihen und sich ihrer Existenz auf dem Weg der Identifikation zu versichern...´

`Ein weiteres Charakteristikum der Als-Ob-Persönlichkeit ist die Tatsache, daß aggressive Tendenzen fast vollständig maskiert werden...´, wobei diese arglose Fassade `jederzeit in Bösartigkeit umschlagen kann´. Die Als-Ob-Person ist steckengeblieben in einer `Entwicklungsphase, in der triebhafte Impulse ausschließlich durch den unmittelbaren Eingriff äußerer Autoritäten im Zaum gehalten werden.´ Destruktive Tendenzen und Impulse werden, wie wir wissen, von den `äußeren Autoritäten´ gewöhnlich `gezügelt´, um sie dann im Bedarfsfall gezielt auf diese oder jene, ziemlich beliebige Objekte ausrichten zu können. Die Als-Ob-Persönlichkeit jedenfalls kann einem etwaigen destruktiven Ansinnen der Umwelt prinzipiell keine authentischen, aus der eigenen Lebenserfahrung resultierenden Widerstände entgegensetzen."


kurz etwas zum moralbegriff bei helene deutsch: je mehr und öfter ich über "moral" nachdenke, desto zweifelhafter erscheint mir das ganze konzept. moralische normen beschreiben eigentlich nur jeweils sozial gewünschtes verhalten, was von vorneherein darauf hindeutet, dass eine gesellschaft die eigentlich mögliche entwicklungsebene von individueller und kollektiver selbstregulierung noch nicht erreicht hat und sich stattdessen mit formal gefassten und auf papier geschriebenen gesetzen nicht nur justizieller, sondern auch z.b. religiöser art als eine art surrogat behelfen muss. authentisch soziales verhalten bei gesunden menschen entwickelt sich spontan und wird durch authentische und vielfältige soziale beziehungserfahrungen geprägt und geformt. wenn jemand wirklich moralisches verhalten zeigt, besteht eigentlich kein nachvollziehbarer grund, groß darüber zu reden - wenn es selbstverständlich wäre.

nun hatte "moral" in den bürgerlichen kreisen der helene deutsch in der mitte des letzten jahrhunderts auch noch eine andere bedeutung als heute, von daher möchte ich nicht unbedingt scharf urteilen. und für simulative persönlichkeiten ist eine formale moral womöglich eine möglichkeit, offene antisozialität zu vermeiden. aber auch das deutet darauf hin, dass sich moral eher als indiz für grundsätzlich vorhandene pathologische sozialstrukturen ansehen lässt.

ein anderer aspekt, der bei ihren überlegungen deutlich wird: der jeweilige zeitgeist spielt zwangsläufig eine große rolle für die identitätskonstruktionen von simulativen persönlichkeiten. und das hat beim weiterdenken ernste konsequenzen bei der betrachtung der heutigen gesellschaftlichen angebote auf dem identitätsmarkt. da die eher starreren masken und rollen der letzten beiden jahrhunderte hier im westen seit ein paar jahrzehnten breit ins rutschen gekommen sind, ist es in gewisser hinsicht für simulative persönlichkeiten sowohl leichter als auch gleichzeitig schwieriger geworden, sich akzeptierte soziale identitäten zu konstruieren. leichter in der hinsicht, das die auswahl größer geworden ist und auch identitäten mit offen pathologischen aspekten toleriert werden - solange sie gemäß den gesellschaftlichen konventionen "erfolgreich" sind und gewisse formale regeln beachten. dazu spielt eine allgemein größerer verbreitung simulativer bzw. virtueller realitäten eine rolle, die das "unterschlüpfen" für entsprechend strukturierte persönlichkeiten leichter macht. schwieriger ist es aber gleichzeitig womöglich deswegen, weil die jeweils angesagten identitätsmodelle immer schneller unter modediktaten zu wechseln scheinen und bisher nur sehr "trainierte" simulative persönlichkeiten in der lage scheinen, derart schnelle wechsel ohne ernsthaftere komplikationen (die sich womöglich als symptome manifestieren) hinzubekommen. unter diesem aspekt ließe sich auch das sog. neurolinguistische programmieren als eine art von konstruktivistischem training zur identitätsbildung begreifen. der bezug von nlp zu der sog. "philosophie des als-ob" von vaihinger wurde hier ja schon erwähnt, wenn auch noch nicht ausführlicher thematisiert.

jedenfalls stellt eine zunehmende allgemeine gewöhnung an simulative realitäten grundsätzlich ein milieu dar, in dem als-ob-zustände auch bei - in relation - gesunden menschen eine immer größere rolle spielen. für simulative persönlichkeiten hingegen bergen sie geradezu monströse entwicklungschancen. so ist bspw. die verbreitung von virtueller kommunikation in virtuellen räumen bestens dazu geeignet, die tatsächlich vorhandenen existenziellen defizite der simulativen persönlichkeit faktisch unsichtbar zu machen. virtuelle kommunikation ist nämlich in sich grundsätzlich immer und unter allen umständen eine simulative kommunikation. warum? weil die entscheidende bedingung der körperlich-materiellen präsenz der kommunizierenden wegfällt, was alle beteiligten zwangsläufig in den bereich der konstruktivistischen wahrnehmungssurrogate des objektivistischen bewusstseins hineinzwingt. ich kann mir niemals sicher sein, wer im chat, hinter der mail oder dem forumsnick steckt und noch weniger darüber, wie der aktuelle psychophysische zustand des anderen tatsächlich aussieht - beste projektionsflächen also, um sowohl meine eigenen fiktionen unterzubringen als auch zum objekt fremder fiktionen zu werden. für beziehungsfähige menschen ist diese art der simulativen kommunikation irgendwann reizlos oder gar frustrierend, weil zuviele bedürfnisse virtuell eben nicht erfüllt werden können. für simulative persönlichkeiten hingegen ist die simulierte kommunikation eher befreiend, weil sie nicht mehr in der gefahr sind, mit den irritationen ihrer authentischen mitmenschen umgehen zu müssen - sie können völllige normalität simulieren, weil das simulieren selbst die normalität in virtuellen räumen darstellt. vor diesem hintergrund bekommen phänomene wie internetsucht oder auch das "versacken" in virtuellen rollen eine weitere und sehr unschöne bedeutungsebene.

im autismusbeitrag sind von temple grandin ein paar überlegungen hinsichtlich der eigenschaften von computern und virtueller kommunikation dokumentiert, die die bedeutung für autistische - also offen beziehungsunfähige - menschen deutlich machen. zu dem thema ließe sich etliches sagen, was aber hier endgültig den rahmen sprengen würde. deshalb dazu am ende nur ein gedanke: die verbreitung von computern und virtuellen räumen sowie die heutige dominanz dieser technologie an praktisch allen öffentlichen (und auch vielen privaten) orten lässt sich meiner meinung nach nur vor dem hintergrund der existenz strukturell autistischer und simulativer einflüsse in unserem sozialen leben tatsächlich begreifen. ich hatte früher schon mal geschrieben, dass ein sich computer quasi als perfekte materialisation des objektivistischen bewusstsein verstehen lässt. bei interesse lesen Sie bitte hier nach (besonders unter punkt 11).

erhellende worte zum sog. politischen leben:

"Es sind hier, um es einmal ganz unmißverständlich auszudrücken, ausschließlich situative Zufälle, nämlich die günstigen Gelegenheiten oder externalen Kontrollmechanismen der jeweiligen historischen Situation, die aus ein und derselben Als-Ob-Person beispielsweise einen weithin respektierten Moraltheologen oder einen begnadeten Folterer machen. Bei entsprechender Intelligenz und persönlichem Geschick ist auch ein völlig reibungsloser Wechsel von einem zum anderen möglich. Diese außerordentlich glatten und merkwürdig stillen Metamorphosen, besonders auffällig bei unseren Funktionseliten und großen Teilen der Intelligenz, treten vor allem in Erscheinung als massenhaftes und sehr charakteristisches Phänomen beim Übergang von totalitären zu eher demokratischen Verhältnissen ... und umgekehrt. Bürgerliche Schafe verwandeln sich flugs in reißende Wölfe ... und umgekehrt."

(die beiden letzten zitate: mertz, "borderline..."; s. 56)


tja. wenn Ihnen bei diesen worten assoziationen zu nazideutschland gekommen sind, so liegen Sie damit wahrscheinlich leider richtig. der kz-kommandant, der tagsüber massenmörderisch tätig ist und abend zum "liebenden" und sentimentalen vater wird; der eiskalte und wie ein geschmiertes rädchen in der anonymen vernichtungsmaschenerie funktionierende bürokrat/technokrat; und nicht zu vergessen die vielen nach dem krieg urplötzlich zu unauffälligen "demokraten" mutierten nazis, von denen es offensichtlich außer hitler und seinen engsten kumpanen niemals welche in d-land gegeben hat - gerade vor dem hintergrund der fakten, die z.b. die psychohistorie zur realität der kindererziehung in diesem land während langer phasen zusammengetragen hat, und die auf vielfältige und allgemein verbreitete beziehungskrankheiten und traumatisierungen schließen lassen, ergibt eine solche betrachtungsweise wie die obige erschreckenden sinn. ohne jetzt das folgende mit dem ns in einen totalitarismus-eintopf schmeißen zu wollen: aber die ddr-wortkreation "wendehälse" bringt derlei personen und ihr verhalten fast auf den punkt. es könnte sich tatsächlich um wendeidentitäten handeln, die tatsächlich wie wendejacken gehandhabt werden. und vor diesem hintergrund lässt sich auch gleich der begriff opportunismus mit neuem inhalt füllen: psychophysisch könnte sich dahinter in vielen fällen die manifestation einer als-ob-person verbergen. "könnte" deshalb, weil als-ob-verhalten prinzipiell jedem menschen zugänglich ist und in für das eigene überleben als gefährlich wahrgenommenen situationen eine verhaltensoption sein kann. aber ich weiß nicht, ob diese relativierung wirklich als tröstlich betrachtet werden sollte.

existenzielle gleichgültigkeit und die ständige suche nach dem neuen "kick" können ebenfalls als merkmale von soziopath und simulativer persönlichkeit betrachtet werden. ein weiteres und sehr prägnantes kennzeichen stellt gerade unter den heutigen bedingungen ein im wahrsten sinne des wortes identitätsschaffendes ding dar - der besitz von dingen (wozu umstandslos auch menschen zählen können) im allgemeine sinne, zu dem patricia highsmith ihren mr. ripley sinnieren lässt:

"Er liebte Besitz, nicht etwa massenhaft Besitztümer, sondern ein paar ausgesuchte Objekte, von denen er sich nie trennte. So etwas verlieh einem Menschen Selbstachtung. Nicht Prunk, sondern Qualität und Kennerschaft. Besitz erinnerte ihn daran, daß er existierte (sic!), und bewirkte, daß er sich seiner Existenz erfreute. So einfach war das. Und war das etwa nichts? Er existierte."

(highsmith, "der talentierte mr. ripley"; s. 286)


besitz als verifikation der eigenen (defekten und beschädigten) existenz - es gehört nicht allzuviel phantasie dazu, hier einen möglichen mitbeteiligten grund für die dominanz der kapitalistischen ökonomie zu vermuten, zumal sich identitätsprobleme bei allen beziehungskrankheiten finden lassen.
ripley konstruiert sich selbst eine sehr bohèmehafte und betont lässig-bürgerliche identität, voll mit attributen, die er berechtigterweise (zumindest teilweise) als anerkannte zeichen für den ausgewählten lebensstil betrachtet. er existiert tatsächlich nur in seinen fiktionen (tagträumen), in denen er sich selbst als weltmännischen und kunstsinnigen lebemann betrachtet. alleine diese betrachtungen verschaffen ihm einzig und alleine so etwas wie einen genuß - allerdings einen surrogatgenuß. ripley lässt sich neben vielen anderen pathologischen zügen auch eine existenzielle anhedonie, also genußunfähigkeit, attestieren - einen wirklichen, realistischen bezug hat er weder zur kunst noch zu dingen. und in der konfrontation mit anderen menschen ahnt er immer wieder die wahrheit über seinen eigenen zustand:

"Es hieß, durch die Augen könne man in der Seele lesen, könne man die Liebe sehen, sie seien der einzige Ort, der es ermögliche, zu sehen, was wirklich in einem anderen vorging, doch in Dickies Augen war für Tom nicht mehr zu erkennen, als würde er auf die harte, blutleere Oberfläche eines Spiegels blicken. Tom verspürte ein schmerzliches Ziehen in der Brust und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Ihm war, als hätte man ihm Dickie unversehends entrissen. Sie waren keine Freunde. Sie kannten einander nicht. Tom war, als offenbarte sich ihm eine schreckliche Wahrheit, die für alle Zeiten galt, für alle Menschen, die er einst gekannt hatte und einst kennen würde: Jeder einzelne hatte ihm gegenübergestanden und würde ihm gegenüberstehen, und er würde immer wieder wissen, daß er keinen von ihnen jemals kennen würde, und das schlimmste daran war, daß er immer wieder für kurze Zeit der Illusion erliegen würde, er kenne sie und er und sie seien einander völlig ähnlich und in völliger Harmonie miteinander. Für einen Augenblick schien der wortlose Schock dieser Erkenntnis mehr zu sein, als er ertragen konnte. Ihm war, als schüttelten ihn Krämpfe und er müsse zu Boden stürzen. (...) Er fühlte sich von Fremdheit und Feindseligkeit umzingelt."

(highsmith, "der talentierte..."; s. 102)


puh. was highsmith hier in stilistisch und sprachlich beeindruckender art und weise beschreibt, ließe sich hinsichtlich der real vorhandenen psychophysischen hintergrundstruktur vielleicht so ausdrücken:

ripley fehlen schlicht die (wahrnehmungs-) fahigkeiten, die ihn in die lage versetzen würden, tatsächlich eine authentische beziehung erleben zu können. er kann andere nicht "lesen" (die betonung der augen in diesem zusammenhang weist auf ein verbreitetes und imo zu reduziertes klischee hin, welches sich eine simulative persönlichkeit aber als "erkenntnis" aneignen könnte). in der beschriebenen situation verlassen ihn für einen moment seine fiktionen darüber, was er als "echten" kontakt ansieht. und sein objektivistischer blick zeigt ihm tatsächlich auszugsweise und bis zur grenze des erträglichen seinen grundsätzlich autistischen status ("der wortlose Schock dieser Erkenntnis"). das er tatsächlich keinerlei authentische beziehungserfahrung kennt, beweisen die sich als solche herausstellenden illusionen: "völlig ähnlich und in vollkommener Harmonie miteinander" zu sein, hat nun wirklich nichts mit einer authentischen beziehung gleich welcher art zu tun, bei der die beteiligten sich wegen ihrer verschiedenheit schätzen, mögen und respektieren. und sich auch darüber im klaren sind, dass ein grundsätzlich fremder anteil des anderen niemals sein geheimnis preisgeben wird, egal wie groß die vertrautheit ist. dazu ist eine authentische beziehung niemals statisch, sondern dynamisch in bewegung, sprunghaft-paradox in ihrer eigenen zeit und mehrdimensional. ripley kocht diese dynamik in seinen fiktionen aber auf einen quasi eingefrorenen und möglichst ewigen eindimensionalen status quo herunter: "völlige ähnlichkeit und völlige harmonie" deutet eher auf ein massives kontrollbedürfnis hin, welches den anderen nicht als anderen erträgt, sondern ihn sich einverleiben will. ein bedürfnisbefriedigendes ding, grundsätzlich nicht verschieden von anderen bedürfnisbefriedigenden dingen. die "völlige harmonie" erlaubt zudem spekulationen in richtung pränataler phase, aber das überlasse ich Ihnen, ob und wie Sie das weiterdenken.

die deutlich psychophysischen reaktionen ("schmerzliches Ziehen", "Krämpfe") lassen sich ebenfalls verschieden deuten: einmal ließe sich hier hypothetisch die (authentische) und schmerzerfüllte reaktion eines völlig verschütteten und erstickenden selbst in höchster not vermuten. das wäre die gutwillige interpretation, die Sie sicher genauso sympathisch wie ich finden. ich fürchte aber, realistisch betrachtet, dass es sich hier eher um simulationen körperlicher art handelt - auch das leiden von ripley besitzt eine grundsätzliche als-ob-qualität, die ihm selbst die fiktion eines (nicht vorhandenen) eigenen kerns vorgaukelt. tiefensimulation nannte mertz das weiter oben. leiden zut er in einem gewissen sinne schon, aber in einigen szenen des romans wird sehr deutlich, dass es sich grundsätzlich immer um verschiedene grade von selbstmitleid handelt, die dann auch noch von der menschlichen mitwelt regelmäßig fehlgedeutet werden, was ripley auch niemals korrigiert.
die "Fremdheit und Feindseligkeit" sind dann, wenn man so will, eine der wenigen wahrnehmungen von ripley, die auf ihre ganz besondere art und weise - hm, authentisch sind: das objektivistische werkzeug kann in der welt keinen immanenten sinn wahrnehmen (der erschließt sich nur in der vollen subjektivität, die ripley nicht (mehr) leben kann) und produziert also wahrnehmungen von existenzieller fremdheit, die quasi automatisch auch die paranoide komponente im der menschlichen struktur auf den plan rufen. was hier als ausnahme erscheint, stellt in wirklichkeit die regel dar: ripley lebt immer in diesem zustand der fremdheit und feindseligkeit (mit der er im übrigen selbst besonders seiner menschlichen mitwelt begegnet), überspielt jedoch die entsprechende wahrnehmung fast ständig mit fiktionen und simulationen - sowohl für sich als auch für andere.

was mich immer wieder überrascht, so oft ich dieses buch in die hand nehme, ist die art und weise, wie die autorin es schafft, beim leser einen eindruck besonderer verletzlichkeit und sensibilität ripleys zu erzeugen - es ist sehr einfach, ihn sympathisch zu finden und mit ihm bzw. seiner einsamkeit mitzufühlen. die puren tatsachen in der geschichte betrachtet, sind diese eindrücke aber sämtlich fehlwahrnehmungen und führen völlig in die irre: ripley ist ein hochstapler und zweifacher mörder, der es sogar noch schafft, seine opfer als irgendwie mitschuldig erscheinen zu lassen. er ist völlig beziehungslos und -unfähig, nimmt andere nur als nützliche oder störende objekte wahr und lebt nur in seinen konstruktionen. dazu zeigt er immer wieder verhaltensweisen, die sich - imo fälschlicherweise - als hochgradig narzisstisch verstehen lassen. kurz, highsmith hat es geschafft, einen simulativ sehr intelligenten und deutlich antisozialen menschen mit klarer soziopathischer bzw. als-ob-struktur bis in die feinen details hinein zu zeichnen. als er einmal knapp an einem dritten mord vorbeischrammt, werden interessante einsichten in sein objektivistisches bewusstsein deutlich:

"Um Haaresbreite wäre es geschehen! Er erinnerte sich an seine kaltblütigen Überlegungen, sie mit dem Schuhabsatz bewußtlos zu schlagen, doch nicht so brutal, daß die Haut riß, sie durch den Eingangsraum und zur Tür hinauszuschleifen, ohne Licht zu machen, damit sie nicht gesehen wurden, und an seine schnell ausgedachte Geschichte, sie sei ausgerutscht und er habe gedacht, sie könne zur Treppe zurückschwimmen und sei deshalb nicht in den Kanal gesprungen und habe nicht um Hilfe gerufen, bis... In gewisser Weise hatte er sich sogar die genauen Worte vorgestellt, die er und Mr. Greenleaf später getauscht hätten, Mr. Greenleaf entsetzt und verwundert, er selbst dem Anschein nach ebenso entsetzt, doch nur dem Anschein nach.

Unter der Oberfläche wäre er so ruhig und selbstsicher gewesen, wie er es nach dem Mord an Freddie gewesen war, weil seine Geschichte unwiderlegbar war. (...) Seine Geschichten waren gut, weil er sie sich intensiv vergegenwärtigte, so intensiv, daß er sie fast selbst glaubte. (ich kann´s mir hier nicht verkneifen: ungefähr nach dem gleichen prinzip funktionieren auch methoden wie das sog. nlp; anmerk. mo).

Einen Moment lang hörte er seine eigene Stimme: `Ich stand draußen auf der Treppe und rief nach ihr, weil ich dachte, sie würde jede Sekunde auftauchen oder sie hätte mir sogar nur einen Schrecken einjagen wollen´ (...) Er verkrampfte sich. Es war, als liefe eine Schallplatte in seinem Kopf, als fände ein kleines Schauspiel in seinem Wohnzimmer statt, dem er nicht Einhalt gebieten konnte. (...) Er sah und hörte sich, wie er mit vollem Ernst sprach. Und wie ihm geglaubt wurde.

Doch was ihn eigentlich erschreckte, war nicht der Dialog oder die Einbildung, er hätte es getan (er wußte, daß er es nicht getan hatte), sondern die Erinnerung daran, wie er mit dem Schuh in der Hand vor Marge stand und sich alles so kühl und gelassen überlegte. Und der Umstand, daß er es zuvor schon zweimal getan hatte. Diese zwei anderen Male waren Tatsachen, nicht Einbildung. (...) Er wollte kein Mörder sein. Manchmal konnte er ganz und gar vergessen, daß er gemordet hatte, fiel ihm ein."


in seinem objektivistischen modus funktioniert ripley ungerührt und mechanisch wie ein computer, er beobachtet die situation prinzipiell auf die gleiche art und weise wie sich selbst auch, er ist - genauso wie er andere zu objekten macht - auch für sich selbst ein objekt, welches sich selbst beobachtet. damit kann er zwar überleben, nicht jedoch leben - in momenten der größten klarheit (wie vorhin schon einmal geschildert) wird sein verdeckter psychotischer zustand gefährlich deutlich, und zwar zunächst gefährlich für ihn selbst:

"Er legte sich zusammengekrümmt auf die Seite, zog die Füße auf das Sofa hoch. Er schwitzte und zitterte am ganzen Leib. Was war nur los mit ihm? Was war passiert? Würde er morgen, wenn er Mr. Greenleaf sah, lauter Unsinn brabbeln - daß Marge in den Kanal gefallen war und er um Hilfe gerufen hatte und ins Wasser gesprungen war, ohne sie zu finden? Würde er durchdrehen, obwohl Marge neben ihnen stand, und alles herausschreien und sich selbst als Irren entlarven?"

(highsmith, "der talentierte..."; beide zitate s. 290 - 292)


konkret: wenn er einerseits probleme mit seiner selbstkonstruierten identität bekommt, weil die realität einzudringen droht - die rolle des eiskalten mörders hat er darin nicht vorgesehen - , und andererseits sein objektivistisches werkzeug probleme mit der realitätsbewältigung innerhalb einer komplexen sozialen welt bekommt und sich zu verheddern droht - dann, ja dann droht sein psychotisches dasein auch für seine mitwelt manifest zu werden, weil er die simulation von normalität nicht mehr durchzuhalten vermag und sich dann "selbst als Irren entlarven" würde. er ist natürlich bereits die ganze zeit schon "irre", aber das fällt faktisch niemandem auf (und auch aus der obigen situation schafft er es innerlich wieder rechtzeitig heraus - mithilfe neuer simulationen...) ripley lässt sich im übrigen - genauso wie der folterer o´brien in orwells "1984" - als radikaler und existenzieller konstruktivist begreifen.

ich war mir beim ersten lesen irgendwann ziemlich sicher, dass patricia highsmith einen großteil von dem, was sie mithilfe ihres objektivistischen werkzeugs so präzise beschrieben hat, selbst in irgendeiner art und weise kennengelernt haben musste - und tatsächlich finden sich in ihrer biographie entsprechende indizien:

"Wesentliche Anregung bekam sie durch das Buch The Human Mind (nicht auf Deutsch erschienen) des deutsch-amerikanischen Psychiaters Karl A. Menninger, das sie im elterlichen Bücherschrank fand. In diesem Buch werden im populären Stil Personen mit den unterschiedlichsten psychischen Defekten geschildert."(...)

"Highsmiths Vater, Jay Bernhard Plangman (1887–1975), ein Sohn deutscher Auswanderer, kam in Fort Worth zur Welt und war Grafiker von Beruf. Auch ihre Mutter, Mary Coates (1895–1991), arbeitete als Grafikerin. Ihre Eltern ließen sich nach nur 18-monatiger Ehe neun Tage vor Patricias Geburt scheiden. Ihre Mutter heiratete 1924 Stanley Highsmith (1901–1970), auch Grafiker von Beruf. Ihren leiblichen Vater lernte Highsmith erst mit zwölf Jahren kennen.
Nach der Scheidung ihrer Eltern wurde Highsmith von ihrer Großmutter Willie Mae Coates in Fort Worth aufgezogen."(...)

"Highsmith galt als sehr zurückhaltende Persönlichkeit, die nur wenige Freunde hatte. Zeitlebens mied sie öffentliche Auftritte und Interviews. Highsmith hatte in ihrem Leben eine Vielzahl von Liebesbeziehungen mit Frauen, die meist ein bis zwei Jahre dauerten und fast immer mit völliger nervlicher Zerrüttung endeten. Sie suchte sich offensichtlich immer wieder den gleichen Typ Frau, der sie nach einiger Zeit völlig dominierte und herumkommandierte.

1963 zog sie nach Europa, wo sie es selten mehr als einige Jahre am gleichen Ort aushielt. Nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in dem süditalienischen Fischerdorf und Künstlerort Positano lebte sie von Ende 1963 bis 1967 in Großbritannien, von 1967 bis 1981 in Frankreich in der Gegend von Fontainebleau und schließlich seit 1981 in der italienischen Schweiz. In ihren späten Jahren soll sie zunehmend einsamer und misanthropischer geworden sein und stark dem Alkohol zugesprochen haben."(...)


machen Sie sich selbst Ihren reim drauf.

über die kindheit von tom ripley, besonders die frühen jahre, lässt sich zumindest in diesem ersten buch der ripley-reihe (die anderen kenne ich bisher nicht) recht wenig erfahren - vereinzelt sind aber fragmente eingestreut, die einiges ahnen lassen:

"Plötzlich fiel ihm ein Sommertag ein, an dem er als etwa Zwölfjähriger mit Tante Dottie und einer Freundin seiner Tante auf einer Fahrt über Land in einen Verkehrsstau geraten war. Es war ein heißer Sommertag; Tante Dottie hatte ihn mit einer Thermoskanne zur nächsten Tankstelle geschickt, wo er Eiswasser besorgen sollte, und plötzlich begann die Kolonne sich zu bewegen. Er erinnerte sich, wie er zwischen den großen Autos, die anfuhren, hin und her gesprungen war, immer kurz davor, die Tür von Tante Dotties Wagen zu erreichen, der ihm immer wieder davonfuhr, weil Tante Dottie nicht auf ihn wartete, sondern ununterbrochen aus dem Wagenfenster rief: `Na los, du Trantüte, beeil dich!´ Als er es endlich geschafft hatte, tränenüberströmt vor Wut und Frustration, hatte sie munter zu ihrer Freundin gesagt: `So ein Schlappschwanz! Durch und durch! Wie kann man nur so ein Schlappschwanz sein! Genau wie sein Vater!´"

(highsmith, "der talentierte..."; s. 44)


eine bösartige tante also, und faktisch verschwundene eltern. auch dieser hintergrund passt sowohl zur gesamtgeschichte als auch zur biographie der autorin.

und nun noch eine anmerkung zum schluß: wenn Sie sich etwas in der kriminalliteratur oder auch im science fiction-genre auskennen, werden Sie selbst auf viele andere beispiele kommen, in denen sowohl beziehungskrankheiten als auch simulative zustände - meistens unausgesprochen - so etwas wie die tragende rolle spielen. wenn Sie etwas über die zusammenhänge zwischen sozialer gewalt und traumatisierungen, die neue gewalt hervorrufen können, erfahren möchten, lesen Sie bspw. am besten die wallander-romane von henning mankell. die alten bücher von edgar wallace wimmeln nur so von soziopathischen figuren, während das in einem anderen beitrag schon erwähnte "schweigen der lämmer" gleich zwei soziopathische mörder als hauptdarsteller besitzt. es gäbe noch mehr beispiele zu nennen, aber "mr. ripley" ist nun mal in einer imo anderswo kaum zu findenden detailliertheit gezeichnet, weshalb ich mich auf diesen roman konzentriert habe. generell habe ich vor, das thema "beziehungskrankheiten in film und literatur" einmal gesondert zu bearbeiten, ebenso wird das thema der simulation und der virtuellen welten zukünftig einen schwerpunkt bilden.

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ausblick

das war nun der wahrscheinlich bisher längste beitrag in diesem blog, der dazu noch das namensgebende phänomen behandelt - und was für eins! ich bin ziemlich neugierig auf anmerkungen und diskussionsbeiträge, zumal provokantes material genug vorhanden sein sollte.

mit den nächsten schwerpunktbeiträgen werde ich mir erstmal zeit lassen - "nlp 2" wäre da zum einen, und zum anderen - was mich z.zt. am meisten interessiert - das thema "sensorische deprivation", welches hier noch gar nicht erwähnt worden ist, obwohl es z.b. auch bei der als-ob-persönlichkeit und den meisten anderen beziehungskrankheiten eine vielleicht entscheidende rolle spielt. in der soziopathie-reihe fehlt noch ein beitrag, der sich v.a. mit der arbeit von robert hare sowie der aktuellen kritik am begriff der psycho-/soziopathie beschäftigt. bis es soweit ist, werde ich hier wie üblich fortfahren und spontan mehr oder weniger aktuelle ereignisse und news aufgreifen, die ich interessant finde. das das jeweils viel mehr sind, als ich verarbeiten kann, hatte ich neulich schon mal geschrieben. wundern Sie sich also bitte nicht, wenn hier themen fehlen, die Sie vielleicht erwartet hätten.

basis: "als-ob-persönlichkeiten" - leben als totale simulation (1)

(fortsetzung der beitragsreihe zum themenbereich soziopathie. und zum besseren verständnis des folgenden möchte ich vor allem neuen leserInnen hier noch einige ältere artikel empfehlen - einmal wären da die basisbeiträge autismus und borderline , zum anderen aber auch gerade die überlegungen zum verhältnis zwischen subjektivität und objektivität bzw. dem teil unserer menschlichen struktur, der hier immer wieder als objektivistischer modus / objektivistisches bewusstsein thematisiert wurde und wird. es bedeutet zwar zeit- und arbeitsaufwand, aber das modell der "als-ob-persönlichkeit" hat imo durchaus das potenzial, ganze welt- und menschenbilder zu erschüttern. und um diesen eindruck nachvollziehen zu können, ist eine tiefere einarbeitung voraussetzung.)

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"Er packte weiter. Das, soviel war ihm klar, bedeutete das Ende Dickie Greenleafs. Widerwilig wurde er wieder zu Thomas Ripley, einem Niemand, widerwillig schlüpfte er in seine alte Haut, nahm er wieder die Position dessen ein, auf den andere herabsahen, die sich nicht um ihn scherten, solange er sie nicht wie ein Clown unterhielt, und der sich zu nichts nutze und zu nichts befähigt fühlte als dazu, andere für ein paar Minuten zu amüsieren. Er schlüpfte in seine alte Haut so widerwillig zurück, als wäre sie ein abgetragener, ungebügelter, fleckenbespritzter Anzug, der sogar in besserem Zustand nicht viel getaugt hatte. (...)

Er ließ die Fahrkarte auf den Namen Greenleaf reservieren und dachte dabei, daß dies das letzte Mal war, daß er eine Fahrkarte auf diesen Namen reservieren ließ, obwohl man so etwas nie mit Sicherheit sagen konnte. Er klammerte sich noch immer an die Hoffnung, daß alles nur ein Strum im Wasserglas sei. Sein könnte. Und folglich wäre es dumm gewesen, Trübsal zu blasen, selbst als Tom Ripley. Auch Tom Ripley hatte nie wirklich Trübsal geblasen, mochte er auch hin und wieder so gewirkt haben. Hatte er aus den letzten Monaten nicht seine Lehren gezogen? Wenn man fröhlich oder melancholisch oder wehmütig oder gedankenverloren oder höflich sein wollte, dann mußte man das Gewünschte lediglich mit allem Einsatz
spielen."

(patricia highsmith, "der talentierte mr. ripley"; bibliothek der süddeutschen zeitung 2004 (lizenzausgabe), diogenes, zürich 2002; isbn 3-937793-13-5; s. 218/219)

"Das ganze Forschungsfeld der Psychosimulation befindet sich (...) in einem ziemlich beklagenswerten Zustand, einem Zustand der Verwahrlosung, nicht zuletzt deshalb, weil ein einigermaßen präziser, psychopathologisch brauchbarer und allgemein anerkannter Simulationsbegriff bislang noch nicht zur Verfügung steht. Ein brauchbarer Simulationsbegriff, der moralisierende Denkfiguren etwa vom Typus der absichtlichen Täuschung überschreitet, setzt einen realistischen Begriff des Authentischen voraus. Der Simulationsbegriff macht nur Sinn, wenn es etwas Nichtsimulatives, also Authentisches gibt und wenn diese Differenz psychologisch bzw. psychopathologisch bedeutsam ist und ernst genommen wird. Auch H(elene) Deutsch tut sich schwer, jene Verhaltensweisen und Erfahrungsmodi, die man üblicherweise pseudo, unecht, fassadär, simulativ, imitativ, oberflächlich oder als-ob nennt, in ihren theoretischen Bezugsrahmen einzubauen."

(j.e. mertz, "borderline..."; siehe literaturliste; s. 48)


***

1. einführung: kurze geschichte einer nicht-diagnose

in den entsprechenden katalogen werden Sie eine diagnose mit dem namen "als-ob" nicht finden, ebensowenig spielt das thema simulation im psychiatrischen kontext eine größere rolle, mit ein paar eher randständigen ausnahmen: einmal gibt es da das sog. münchhausen-syndrom, zum anderen - älter und von übler natur im kontext von (post-)traumastörungen - die sog. rentenneurose, die als diagnose eigentlich erst nach dem 1. weltkrieg eine rolle zu spielen begann - damals, um mögliche oder tatsächliche ansprüche von kriegsbeschädigten bzw. -traumatisierten deutschen soldaten nach schadensersatz seitens des deutschen staates mit williger hilfe der offiziellen psychiatrie abzuschmettern. dieses vorgehen wurde und wird bis heute dann auch im zivilen leben in bestimmten fällen versucht. vereinzelt taucht der begriff des simulativen bzw. täuschenden auch im zusammenhang mit der klassischen psychopathie auf (betrüger, hochstapler). ansonsten lässt sich die situation in psychiatrie/psychologie so zusammenfassen, wie es mertz oben im zitat getan hat.

mir persönlich ist der begriff der als-ob-persönlichkeit in den letzten jahren immer mal wieder sporadisch in thematisch sehr verschiedenen veröffentlichungen hauptsächlich im psychologischen bereich begegnet, wo er in der mehrzahl als synonym für das verwendet wird, was in verschiedenen psychologischen schulen als "falsches selbst" begriffen wird. dieser begriff impliziert gleichzeitig eigentlich immer auch die existenz eines "richtigen, authentischen selbst", zu dem durch die verzerrungen und masken des "falschen" durchgedrungen werden soll. real spielt dieses denkmodell besonders im zusammenhang mit einigen diagnosen aus dem bereich der persönlichkeitsstörungen eine teils wichtige rolle: borderline, die antisoziale und die narzisstische ps wären hier zu nennen, aber auch die frühere "hysterie" und ihre diagnostische nachfolgerin, die histrionische ps.
das geflügelte wort von der "harten schale mit dem weichen (= guten) kern" erfasst dieses denkmodell zumindest z. t. in einer populären art und weise.

es ist hier wieder mal das buch von mertz, welches zu der obigen und weitgehend etablierten sichtweise einen krassen und provozierenden gegenpol setzt:

"Dazu Rohde-Dachser (1991): `Die (borderline-)Patienten entwickeln auf der Basis oberflächlicher Identifizierungen nach außen hin eine Fassade angepaßter Verhaltensweisen, hinter der sich das wahre Selbst so vollkommen verbergen kann, daß es keinen Kontakt zur Realität mehr findet...Das von der Realität abgeschnittene wahre Selbst verflüchtigt sich immer mehr zu einer für den Patienten oft kaum mehr faßbaren megalomanischen Phantasie, während die ursprünglich als Schutz des wahren Selbst intendierte falsche Fassade immer mehr Raum gewinnt.´
An anderer Stelle übernimmt die Autorin das Statement eines Psychoanalytikerkollegen: Die borderlinespezifischen psychischen Spaltungsprozesse bewirkten unter anderem den `Schutz einer geheimen Zone des Nicht-Kontaktes, wo das Subjekt absolut allein...und sein wahres Selbst geschützt ist.´

Wie sollten wir als Therapeuten dieses verschlossene Geheimnis in Erfahrung bringen? Muß das wahre Selbst etwa unbedingt vorhanden sein, gerade weil es subjektiv-erfahrungsmäßig und funktional so offensichtlich fehlt und auch von anderen nicht mehr wahrgenommen werden kann? Welch seltsame Logik: Es ist da, gerade weil es nicht da ist. Vielleicht sollten wir zunächst einmal die Hypothese zulassen, daß etwas offensichtlich Nichtvorhandenes ... tatsächlich nicht vorhanden ist. Sobald wir diesen außerordentlich kühnen Schritt getan haben, tritt wieder das verpönte Bild der totalsimulativen Persönlichkeit in unser Blickfeld und damit das spätmoderne Angstgespenst des Autismus."

( j.e. mertz, "borderline...", s. 66; siehe literaturliste)


zum angesprochenen aspekt des autismus später mehr. diesem buch verdanke ich zuerst aber die kenntnis von helene deutsch als "schöpferin" des modells der als-ob-persönlichkeit:

"1942 veröffentlichte Helene Deutsch die etwa zwanzigseitige klinische Studie (...) (deutscher titel: `Über einen Typus der Pseudoaffektivität [als-ob]´). Die Studie (...) beschreibt die Als-Ob-Persönlichkeit, einen klinischen Typus mit vermeintlichem Seltenheitswert, den manche, aber nicht alle Experten heutzutage dem Borderlinespektrum oder seinem Umfeld zuordnen würden. Charakteristisch für die Als-Ob-Persönlichkeit sind Pseudoemotionalität, unechte Beziehungsformen und ein grundlegendes Defizit an authentischer Personalität bzw. Identität, das sie durch Identifikation mit und Imitation von externalen Modellen zu kompensieren sucht." (...)

"H. Deutsch hatte sich schon früh für die `pathologische Lüge´ interessiert, für Betrüger und Hochstapler, und damit einen klassisch psychiatrischen Typus, nämlich den Psychopathen, ins Visier genommen, einen der historischen Vorläufer des Borderlinetypus.

Manche Traditionslinien innerhalb der Borderlineforschung zählen diesen Aufsatz von 1942 zu den frühen Standardarbeiten, er wird immer wieder erwähnt, teils aus historischen Gründen (...), teils wegen psychodynamischer Details, die von der psychoanalytisch orientierten Borderlineliteratur gelegentlich aufgegriffen werden."

(mertz, "borderline..."; s. 47/48)


der begriff setzte sich jedoch "offiziell" niemals wirklich durch, was primär etwas mit dem (nicht-)verständnis von begriff und rolle des simulativen bei psychophysischen störungen und da besonders bei den beziehungskrankheiten zu tun haben dürfte. wobei aber auch noch wichtig ist, wie denn nun genau die definition eines als-ob-zustandes aussieht: maskerade eines "versteckten selbst", oder aber - simulation über simulation ohne authentischen "kern" dahinter? dazu mehr jetzt im punkt

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2. als-ob: zwischem "falschem selbst" und "totaler simulation"

wie schon hinsichtlich des objektivistischen modus angemerkt, sind auch die wahrscheinlich von diesem produzierten als-ob- bzw. simulationszustände (ich werde in der folge beim letzteren begriff bleiben) erstmal nichts grundsätzlich pathologisches. wenn ich bisher im blog auf simulationszustände zu sprechen gekommen bin, dann eigentlich immer in überwiegend negativen zusammenhängen, weil eine dominanz (!) dieser zustände (wozu auch trance- bzw. dissoziationszustände zu zählen sind, auch wenn das nochmal ein eigenes thema ist) in sozialen zusammenhängen nun mal ein alarmzeichen ersten ranges darstellt. (psycho-)simulationen an sich, von denen als krasseste und vermutlich auch verbreiteste form das lügen uns allen bekannt sein dürfte, sind eine spezifische menschliche ausstattung, die letztlich dem überleben dient - probleme und schwierige situationen bspw. simulativ durchzuspielen, aus bedrohlichen situationen mithilfe von tricks und lügen zu entkommen, in sozialen/gesellschaftlichen situationen zu beginn ersteinmal eine art maske zu präsentieren, bis deutlich geworden ist, ob und wem der anderen wirklich vertraut werden kann - all das lässt sich zunächst als durchaus mehr oder weniger sinnvolles verhalten begreifen. verhalten, für welches das objektivistische werkzeug unseres bewußtseins genutzt wird.

"Wir dürfen also allein schon aufgrund unserer ganz gewöhnlichen Alltagserfahrung folgendes festhalten: Erstens, die funktionalen Beziehungen zwischen authentischen und simulativen Lebensäußerungen und Optionen sind wesentlich komplexer und außerdem viel interessanter, als man sich das üblicherweise vorstellt. Zweitens, die Begriffskomplexe `authentisch´ und `simulativ´ sind regelmäßig, auch im wissenschaftlich-professionellen Denken bis zur Unkenntlichkeit überladen mit ideologischen und moralischen Implikationen und Konnotationen: Das Authentische ist in keiner Weise identisch mit dem Guten und Schönen und Gesunden, und das Simulative ist keinesfalls per se etwas Schlechtes oder Böses."

(mertz, "borderline...."; s. 70)


entscheidend ist auch hier das verhältnis zur qualitativ anders strukturierten vollen subjektivität mit ihren authentischen beziehungsoptionen, für die das objektivistische werkzeug letztlich nur eine art zuarbeit (im vorbereitenden und korrigierenden sinne) liefern sollte. bei den hier thematisierten beziehungskrankheiten und pathologischen zuständen jedoch ist quasi das werkzeug zum einzigen mittel der realitätbewältigung geworden - anstelle des "seins an sich" sozusagen -, und das kann nicht ohne schwere und fatale konsequenzen bleiben - das virtuelle fängt an, die realität zu ersetzen; die lüge wird zum lebensstil, und die maske verdeckt dann nicht mehr ein eingeschüchtertes oder verkümmertes selbst zum schutz, sondern im besonderen extremfall der totalsimulation ein - unpersonales nichts.

die meisten der als solche bezeichneten "psychischen" (psychophysischen) krankheiten dürften zu einem großen teil dadurch bedingt sein, dass das homöostatische gleichgewicht zwischen subjektivem sein und objektivem werkzeug in trudeln geraten ist, und sich jemand immer mehr und mehr in simulationszuständen verstrickt, die bspw. in der vergangenheit vielleicht einmal ein schutzfunktion hatten (bei einer traumatischen biographie z.b.); oder aber die in der gegenwart vielleicht durch einen beruf innerhalb von stark anonymisierten strukturen zb. eines großen unternehmens gefördert werden, in denen das funktionieren an erster stelle steht und die gesamte (authentische) beziehungsebene diesem funktionieren eher hinderlich wäre - weshalb dann hauptsächlich nur noch beziehungssimulationen angesagt sind. und gerade durch diese art simulationen scheint sich das sog. öffentliche leben in gesellschaften wie unserer mehr und mehr charakterisieren zu lassen - bei den welten von show und film ist das eh offensichtlich (siehe auch die querverbindungen zu borderline- und narzisstischen persönlichkeiten), aber auch in der imo unberechtigterweise so genannten (berufs-)politischen sphäre lässt sich mehr und mehr eine dominanz des simulativen beobachten (was dann auch etwas mit den früher schon angesprochenen suchtstrukturen bei politikerInnen zu tun haben dürfte).

mertz (und bis zu einem gewissen punkt auch arno gruen, wobei der eine imaginäre grenzlinie nicht überschreitet und immer von einem hypothetisch vorhandenen selbst ausgeht) zieht nun die konsequenz, die beim weiterdenken von simulationszuständen auf der hand liegt: es macht einen qualitativen unterschied aus, ob jemand trotz einer zeitweiligen und funktionellen dominanz dieser zustände verdeckt, im hintergrund, und nicht mehr unbedingt ohne ernsthafte schwierigkeiten erreichbar, immer noch über seine/ihre volle subjektivität mit der option zu authentischen beziehungen verfügt - oder ob jemand diese option womöglich niemals besessen hat, weil die psychophysiologischen grundlagen dafür (u.a. zentrale wahrnehmungsfähigkeiten) bereits z.b. pränatal schwer beschädigt oder gar - von seiten einer beziehungs- und liebesunfähigen mutter aus, wobei die gründe dafür erstmal zweitrangig sind - niemals die notwendigen beziehungsmäßigen stimulationen (mit "t"!) für ihre entwicklung erhalten haben. ein solcher mensch würde sich quasi noch vor seiner geburt auf das objektivistische werkzeug als einziges mittel zur lebens- und realitätsbewältigung zurückgeworfen sehen. und: er oder sie würde nichts anderes kennen können, würde die aus diesem speziellen defektzustand sich ergebende realität/welt für die quasi natürliche und normale halten. und immer dann in schwierigkeiten geraten, wenn authentische beziehungen gefragt sind. wofür einem solchen menschen schlicht die nötige psychophysische ausstattung fehlen würde.

das dürfte für die meisten unter uns erstmal befremdlich klingen. aber machen Sie sich bitte einmal folgendes klar: ebenfalls haben die meisten menschen nach entsprechender aufklärung keine großen schwierigkeiten damit, im allgemeinmedizinischen bereich krankheitskonzepte zu verstehen, die bspw. davon ausgehen, dass ein durch eine bestimmte organische funktionsstörung nicht mehr (ausreichend) produziertes enzym für weitreichende probleme im stoffwechselgeschehen sorgen kann. die genese einer solchen störung - Sie können auch eine bakterielle oder virale infektion nehmen - erscheint irgendwie logisch, ebenso wie die dadurch ausgelösten symptome und/oder behinderungen.

viele menschen haben aber sehr deutlich mühe mit der vorstellung, dass die in den obigen beispielen zutage tretenden prinzipien zwar nicht eins zu eins übersetzbar (das wäre imo sachlich nicht gerechtfertigt), aber doch prinzipiell eben auch im bereich von beziehungskrankheiten bzw. schweren störungen der sozialen fähigkeiten gültig sein könnten. wer fragt (sich) schon danach, wenn er oder sie z.b. verliebt ist, was eigentlich genau im psychophysischen geschehen notwendigerweise passieren muss, um in einen solchen zustand zu geraten (und was bei denen anders ist, die sich nicht verlieben können)? wer fragt danach, was für psychophysische voraussetzungen nötig sind, um bspw. ein tiefes, emotional befriedigendes gespräch mit einem anderen führen zu können (wozu die körperliche präsenz unabdingbar ist, und ebenso die fähigkeit, das ganze und zu einem großen teil unbewußt ablaufende körperlich basierte kommunikationsgeschehen wahrnehmen zu können)? richtig: es wird genausowenig gefragt wie nach einem guten essen zu den an der verdauung beteiligten und notwendigen prozessen. solange diese funktionieren, ist das ja auch keine unbedingte notwendigkeit.

wenn aber das soziale leben im allgemeinen und - in gestalt der jeweils individuellen beziehungs(un)fähigkeiten - im besonderen so aussieht, wie es ein blick in die menschliche geschichte nahelegt, lässt sich wohl nur sehr schlecht von einem tatsächlichen funktionieren sprechen. belege dafür sind in den täglichen nachrichten zur genüge zu sehen, und zu einem kleinen teil auch hier im blog dokumentiert. und als das extremste symptom dieses nichtfunktionierens bzw. für die störung existenzieller psychophysischer prozesse können eben jene menschen angesehen werden, die eine mehr oder weniger komplette beziehungsunfähigkeit aufweisen - die klassischen autisten -, und diejenigen, die soziale aktivität und soziales handeln im weitesten sinne von beginn ihres lebens an nur simulieren können bzw. müssen. für genau diese existiert das modell der als-ob-persönlichkeit. und das sieht im einzelnen so aus - wir kommen zum punkt

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3. die definition nach h. deutsch

"Zunächst, so Helene Deutsch, haben wir es im Fall der Als-Ob-Person mit einem durchaus `realitätstüchtigen´ Menschen zu tun, der `äußerlich´ vollkommen `normal´ funktionieren kann: `Es gibt nichts, was auf irgendeine psychische Störung hinweist, das Verhalten hat nichts Ungewöhnliches an sich, die intellektuellen Fähigkeiten scheinen intakt zu sein, die emotionalen Äußerungen sind wohlgeordnet und angemessen´. Die Als-Ob-Person kann `begabt´ sein und `großes Verständnis für intellektuelle und emotionale Probleme aufbringen, ihre `Beziehungen´ sind `gewöhnlich intensiv und tragen alle Merkmale von Freundschaft, Liebe, Sympathie und Verständnis.´ Die Als-Ob-Persönlichkeit kann also realitätstüchtig, vollkommn angepaßt und unauffällig sein und sozial wie beruflich effizient funktionieren."

(mertz, "borderline..."; s. 53)


also ein (fast) perfekter fall von mimikry. oder anders ausgedrückt: "sie waren keine persönlichkeiten und imitierten die menschen". im besten - für die als-ob-person - und schlechtesten fall - für die menschliche mitwelt - könnte das z.b. so aussehen:

"Er fühlte sich allein, aber überhaupt nicht einsam. Es war sehr ähnlich wie das, was er am Heiligabend in Paris empfunden hatte, ein Eindruck, als beobachteten ihn alle, als agiere er vor einem Publikum, das aus der ganzen Welt bestand, und dieser Eindruck spornte ihn zu Höchstleistungen an, denn jeder MIßgriff hätte katastrophale Folgen gehabt. Dennoch war er fest davon überzeugt, daß er keinen Mißgriff begehen würde. Sein Dasein war mit einer besonderen, köstlichen Atmosphäre der Reinheit angereichert, dem vergleichbar, dachte Tom, was ein Schauspieler empfinden mußte, wenn er eine wichtige Bühnenrolle in der Überzeugung spielt, daß niemand diese Rolle besser spielen könne als er. Er war er selbst und war es nicht.

Er kam sich unschuldig und frei vor, obwohl er jeden Schritt, den er tat, bewußt plante und ausführte."


einschub: erinnern Sie sich noch an temple grandin, im basisbeitrag autismus? "Meine Entscheidungen beruhen ausschließlich auf Berechnung...Einer Person mit Autismus beizubringen, wie man sich in Gesellschaft anderer Menschen richtig verhält, ist so, als instruiere man einen Schauspieler für ein Stück. Jeder Schritt muß geplant werden...Ich kann mich sozial verhalten, aber das ist so, als spielte ich in einem Stück."

"Und nach mehreren Stunden war er jetzt nicht mehr erschöpft wie zu Anfang. Wenn er allein war, mußte er sich nicht mehr ausruhen. Jetzt war er Dickie, sobald er aufstand und sich die Zähne putzen ging, die er sich mit angewinkeltem Ellbogen putzte, er war Dickie, der die Eierschale für einen letzten Bissen auf dem Löffel drehte, Dickie, der unweigerlich die erste Krawatte, die er vom Krawattenhalter zog, zurückhängte und sich eine andere nahm. Sogar ein Bild in Dickies Stil hatte er verfertigt."

(patricia highsmith, "der talentierte mr. ripley", siehe weiter oben; s.155/156)


wie hier ebenfalls schon öfter erwähnt, spricht vieles für mehr oder weniger große strukturelle verwandtschaften zwischen den psychiatrischen diagnosen, die sich als beziehungskrankheiten verstehen lassen. im falle der totalsimulativen persönlichkeit, welche die offizielle psychiatrie und psychologie bis heute noch nicht mal als hypothetische möglichkeit anerkennen will, haben wir bis jetzt also hinweise richtung klassischer psychopathie (soziopathie), klassischem autismus sowie borderline und narzisstischer ps. jedenfalls dann, wenn diese störungsbilder jeweils oberflächlich betrachtet werden. zum jetzigen zeitpunkt ist mein persönlicher eindruck der, dass der bereich der simulation bei allen eine große rolle spielt - aber wie genau und wie stark, dürfte teils im entscheidenden maße unterschiedlich sein.

"Wie reagiert nun die menschliche Umwelt auf die Als-Ob-Persönlichkeit und deren Fassade?

Die Als-Ob-Leistung mag zunächst glaubwürdig erscheinen und von der menschlichen Umwelt für bare Münze genommen werden, aber `etwas Unfaßbares und Unbestimmbares schiebt sich zwischen diese Person und ihre Mitmenschen´, ein diffuses Gefühl, daß `irgendetwas nicht stimmt´, `selbst der Laie bemerkt bald etwas Seltsames´. Das ist die ganz unvermeidliche authentische Reaktion auf eine extreme Diskrepanz in den Lebensäußerungen einer anderen Person, die objektiv betrachtet alles richtig macht und doch zugleich, in unserer authentischen Wahrnehmung, auf eine zunächst ganz und gar unverständliche, unerklärliche und unbeschreibliche Weise alles falsch macht.

Diese Irritationen samt den dazugehörigen diffusen Mißempfindungen können in der alltäglichen Begegnung immer wieder blitzartig einschießen oder als Störfrequenz den Kontakt mit der Als-Ob-Person ständig überlagern. Die Störmeldungen werden vor allem dann ausgelöst, wenn wir ein auch nur ansatzweise authentisches Beziehungsfeld zur Als-Ob-Person hin aufmachen, also auf interpersonale Nähe gehen: Das geht auch einseitig.(...)"

(mertz, "borderline..."; s. 53)


darauf folgend beschreibt er etwas, was er mit "psychoallergischem reflex" bezeichnet - da die meisten menschen nichts vom modell bzw. vom angenommenen tatsächlichen existieren der simulativen persönlichkeit wissen, werden sie - bei eigener einigermaßen voll ausgebildeter wahrnehmungsfähigkeit - auf die simulative art reagieren, allerdings in einer unbewußten, subtilen und versteckten form. so, wie auch die eigene realistische wahrnehmung der simulativen persönlichkeit aussieht - die authentische kommunikation bzw. ihre voraussetzungen können von der simulativen persönlichkeit nicht "erreicht" werden, da die notwendigen körperlich basierten (selbst-)wahrnehmungsfähigkeiten lahmgelegt sind, die erst jene prozesse ermöglichen würden, die eine ganzheitliche authentische kommunikation ausmachen - als vielleicht zentralstes wäre hier die empathiefähigkeit zu nennen, die für ein "einschwingen" auf den psychophysischen zustands des gegenübers erforderlich ist. simulative persönlichkeiten lassen hier ein merkmal erkennen, welches auch für den klassischen autismus (in der aspergervariante) bedeutsam ist: sie können zwar korrekt - "objektiv" - beobachten und das beobachtete auch beschreiben - aber sie werden davon nicht berührt. der unterschied zum klassischen autisten liegt darin, dass die simulative persönlichkeit dieses berührtsein mehr oder weniger überzeugend zu spielen vermag. aber vorsicht an dieser stelle mit wertungen wie "vorsätzlicher betrug" o.ä.: der betroffene mensch glaubt i.d.r. daran, dass sein spiel identisch mit dem authentischen ist und wird möglicherweise erst durch den selbstvergleich mit authentizitätsfähigen menschen irritiert. gesellschaften, in denen simulationen im sozialen leben verbreitet sind und als "normal" angesehen werden, fördern diesen irrtümlichen eindruck selbstverständlich noch.

der erwähnte "psychoallergische reflex" besteht auf seiten des zur authentischer kommunikation fähigen menschen nun darin, dass die eigentlich erwarteten authentischen signale des gegenübers ausbleiben bzw. das das, was so aussieht als ob, keinerlei tatsächlichen inhalt besitzt. das führt zu diversen irritationen und mißempfindungen in "psyche" und im körper, die jedoch - da nur sehr wenige menschen über ihre vollen (selbst-)wahrnehmungsfähigkeiten verfügen - als diffus, unklar und subtil wahrgenomen werden, in der folge nicht "korrekt" zugeordnet werden können und letztlich das objektivistische bewußtsein auf den plan rufen, welches dann - ironischerweise - versucht, die lücken in der eigenen wahrnehmung mit intellektuellen erklärungen und fiktionen zu schließen, die sich beliebig weit von der tatsächlichen situation entfernen können. eine innere distanzierung quasi (notwendige folge der aktivität des objektivistischen modus), die den relativ gesünderen menschen selbst in eine sekundäre als-ob-position bringt - und damit wiederum den eindruck der simulativen persönlichkeit fördert, dass ihre weltwahrnehmung die eigentlich "richtige" und normale darstellt!

"Dem Analytiker, so H. Deutsch, `wird bald klar´, daß bei der Als-Ob-Person `alle Gefühlsäußerungen rein formal´ sind und das dabei alle `innere Erfahrung vollkommen ausgesperrt bleibt´. Gefühle werden im `objektiven´ Sinne `formal´ richtig und situationsadäquat geäußert, aber die eigentlich dazugehörenden `inneren Erfahrungen´ fehlen. Ohne diese binnenpsychischen Prozesse bleibt das geäußerte Gefühl als bloß `äußerliches´ Gefühl unvollständig und wird von der Als-Ob-Person nicht in der Weise empfunden, wie es die äußere Form vermuten lässt."

bei der zwangsläufig folgenden frage danach, wie solche pseudoemotionen denn nun produziert werden, attestiert mertz helene deutsch erstens einen krassen bruch in der argumentation und zweitens ein strategisches gedankenmanöver, in dessen folge die innere leere als eine art "vakuum" hinter den masken der als-ob-persönlichkeit aufgefasst wird, welches es mit authentischen erfahrungen aufzufüllen gilt. weiter dazu:

"Das angebliche Vakuum existiert nicht wirklich, zumindest nicht realpsychisch, d.h. weder subjektiv-erfahrungsmäßig noch funktional, es handelt sich bei diesem angeblichen Vakuum lediglich um eine unglückliche Metapher, eine bloße Fiktion, die auf die Als-Ob-Person projiziert und dort deponiert wird. Das vermeintliche Vakuum ist (...) tatsächlich angefüllt mit `innerer Erfahrung´, die der geäußerten Pseudoaffektivität realpsychisch vollständig entspricht. Die Als-Ob-Persönlichkeit, die äußerliche Pseudoaffekte produziert, operiert auch intrapsychisch ( `innen´) auf der gleichen Funktionsebene, nämlich auf der Als-Ob-Ebene: Ein passender und mnemotechnisch günstiger Begriff hierfür wäre Tiefensimulation.

Ganz allgemein formuliert: Hinter den Als-Ob-Produktionen, etwa den Pseudoemotionen, steckt weder ein authentischer Prozeß (nicht nachweisbar) noch ein Vakuum (rein fiktiv), sondern ein subjektiv-erfahrungsmäßiger und funktional gleichartiger Als-Ob-Prozeß. Dieser Gedankengang klingt banal, ist es aber nicht: In der Theorie tendiert man dazu, das Unechte, die Fassade als bloß Äußerliches zu betrachten, das wie ein Hindernis überwunden werden muß, um schließlich zum Eigentlichen und Inneren, eben zum authentischen Kern der Person vorzudringen."

(zitate oben: mertz, "borderline..."; s. 54)


diese verbreitete vorstellung von der harten bzw falschen schale, die den kern schützt und versteckt, hatten wir weiter oben schon mal angesprochen. und in der tat ist dieser aspekt des modells der als-ob-persönlichkeit - das sich nämlich hinter der maske nur wieder eine maske und eine maske...befindet - , der für mich immer noch verstörendste und auch bedrückendste teil. tatsächlich werden Sie in so ziemlich allen etablierten psychologischen schulen (eventuell bilden einige richtungen der verhaltenspsychologie hier die ausnahme) genau die theorie finden, die vom als-ob-modell radikal negiert wird: das authentische selbst wird wie eine naturgesetzlichkeit als grundsätzlich vorhanden vorausgesetzt. wenn aber nun - wofür es imo gute gründe gibt - davon ausgegangen wird, dass das, was wir allgemein so als selbst (persönlichkeitskern) begreifen, ganz elementar an unsere körperlichkeit gebunden ist und sich darüber gestaltet und wahrgenommen wird, wird das modell der simulativen persönlichkeit nicht mehr als völlig abwegig abgetan werden können - eben weil das notwendige funktionieren der nötigen prozesse auf der materiell-körperlichen ebene geschädigt werden kann. und zwar auch und gerade durch zerstörerische einflüsse im sozialen leben, wozu sich - als eine besondere variante - bereits das pränatale leben zählen lässt.

"Die Als-Ob-Persönlichkeit, so Helene Deutsch, `versucht affektive Erfahrung zu simulieren´, `emotionale Beziehungen zur Außenwelt oder zum eigenen Ich´ `fehlen´vollständig, sind also nicht bloß `unterdrückt´ bzw. `blockiert´.

Das kann kaum anders als folgendermaßen interpretiert werden: Der lebendige Dialog hat nicht stattgefunden, die entsprechenden Dialog-, Beziehungs- und Liebesfähigkeiten, die ja ohne authentische Emotionalität nicht denkbar sind, konnten sich beim Kind nie entwickeln. Wohlgemerkt, die authentischen Potenziale der Als-Ob-Persönlichkeit sind nicht unterdrückt oder blockiert, es verhält sich eher so, daß ein authentischer Nucleus, der zum Ausgangspunkt eines Heilungsprozesses gemacht werden könnte, nicht mehr existiert. Das authentische Potential ist nicht beantwortet worden,und deshalb erloschen, d.h. nicht mehr aktualisierbar, praktisch nicht vorhanden. So H. Deutsch. (...)

Wir müssen uns mit dem Gedanken vertraut machen, daß es die totalsimulative Persönlichkeit, d.h. den Totalsimulanten, tatsächlich gibt."

(mertz, "borderline..."; s. 55)


ein äußerst unangenehmer und bedrohlicher gedanke, wie schon angedeutet. und möglicherweise lässt sich der als-ob-zustand auch als extremste und tiefste form dessen begreifen, was unter dem begriff entfremdung seit eh und je in gesellschafts- und sozialkritischen diskussionen zwar benannt, aber kaum jeweils einmal in einer tatsächlich "griffigen" art und weise genau in seinen konsequenzen und in seinem möglichen funktionieren beschrieben wird. ich vermag mir jedenfalls keine weitgehendere form der entfremdung - von sich selbst und der gesamten sozialen mitwelt - vorzustellen, als die lebenslängliche existenz innerhalb von virtuellen räumen, in denen weder (authentische) biographie, (authentische) identität noch die (authentische) subjektive zeit vorhanden sind.

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Montag, 13. März 2006

basis: nötige klarstellungen

"Der Mensch ist und bleibt immer, vom ersten Augenblick an und trotz aller bekannten Defizite und möglichen Defekte, menschliche Person und beseelt (...)"

(m. hertl, "die welt des ungeborenen kindes"; zitiert nach j. erik mertz, "borderline..." (siehe Literaturliste), s. 174)


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das folgende lässt sich sowohl als weitere folge in der kleinen psychopathie-reihe hier begreifen als auch als versuch, einige sehr wichtige und konsequenzenreiche gedanken zu den themen des blogs generell zu formulieren und möglichen mißverständnissen sowie fehlinterpretationen den boden zu entziehen. hinsichtlich des ersteren hatte ich zum ende dieses beitrags bereits die geschichte des psychopathie-begriffs im nationalsozialismus kurz angerissen und auf die sich darin manifestierende gesellschaftliche bedingtheit hingewiesen. und bei der weiteren arbeit an den fortsetzungen zur psychopathie ist bei mir das gefühl immer stärker geworden, dass sich gerade in diesem begriff etliches widersprüchliche, paradoxe und auch gefährliche bündelt, was mit den themen hier untrennbar zusammengehört. und das möchte ich ein wenig aufdröseln.

einiges von diesen widersprüchen sowie der spezifischen geschichte der orthodoxen psychiatrie ist auch hier schon erwähnt worden:

"wer sich die geschichte der westlichen institutionalisierten psychiatrie genauer anschaut, besonders ihre traurigen und negativen "höhepunkte" bspw. in gestalt der militärpsychiatrie , der nationalsozialistischen "euthanasie"-aktion "T4" sowie der willigen (selbst-)instrumentalisierung zur durchsetzung genormter begriffe von gesundheit und krankheit und der stigmatisierung alles davon abweichenden (von therapeutischen methoden wie schockbehandlungen und psychopharmaka gar nicht erst zu reden), wird nicht umhin kommen, gegenüber diesem ganzen bereich eine gesunde skepsis zu entwickeln. ließe sich nun klipp und klar sagen, dass die diagnostischen konstruktionen und modelle dieser institution gänzlich an den haaren herbeigezogen wären, so würde das etliches sicherlich einfacher machen. jedoch: trotz der kenntnis all der zweifelhaften bis völlig abzulehnenden seiten der orthodoxen psychiatrie ist es imo nachweislich so, dass es viele der in den diagnostischen katalogen erfassten phänomene tatsächlich gibt. und bis auf weiteres sehe ich kein anderes instrumentarium - auch keine andere sprache - zur verfügung stehen als eben das, welches der psychiatrie entstammt."

in den letzten sätzen oben ist das grundsätzliche dilemma angesprochen, welches ich hier beim schreiben öfter verspüre - und es ist immer wieder ein balanceakt, das eine - die imo notwendige kritik und bearbeitung eskalierender sozialer pathologischer prozesse mithilfe bestimmter psychiatrischer und psychologischer modelle - mit dem anderen - die gerade erwähnten wissenschaften auch als teil der kritisierten prozesse zu begreifen - zu verbinden. das wird mir von beitrag zu beitrag mal besser, mal schlechter gelingen. und falls Sie bisher im blog diesbezgl. ein ungleichgewicht wahrnehmen sollten, so liegt das auch daran, dass ich immer noch zu einem großen teil damit beschäftigt, die verschiedenen diagnostischen modelle primär zu den bereichen autismus, persönlichkeitsstörungen und trauma hier kommentiert und komprimiert mitsamt bestimmten implikationen darzustellen. und auch aus gründen des schieren umfangs kommt sehr wahrscheinlich das, was allgemein als psychiatriekritik verstanden wird, hier bisher etwas zu kurz. das thema psychopathie bietet aber nun die gelegenheit, sowohl psychiatriekritik als auch kritik an dieser in einer - wie ich hoffe - nachvollziehbaren form darzustellen.

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wie oben schon erwähnt, ist dabei die nazi-"euthanasie"-aktion-"t4" sowohl für die geschichte des psychopathie-begriffes entscheidend, als auch als absolute bankrotterklärung der orthodoxen psychiatrie in deutschland anzusehen. wer sich damit genauer beschäftigen will - z.b. auch mit der wenig bekannten bzw. verdrängten tatsache, dass sich die ersten gaskammern allesamt im kerngebiet des damaligen "deutschen reiches" befunden haben - in hessen, württemberg, brandenburg, sachsen... - sei auf das vielfältige material im netz verwiesen, gerade auch von lokal arbeitenden und forschenden initiativen und historikerInnen an den damaligen und heutigen psychiatrischen standorten. für einen allgemeinen und zusammenfassenden eindruck möchte ich ohne einschränkungen die bedrückenden, detaillierten und materialreichen arbeiten von ernst klee empfehlen, dessen standardwerk zur "euthanasie" ich ab jetzt auch in der literaturliste führen werde.


während sowohl im verlauf von "t4" als auch in der nach beendigung dieser aktion startenden phase der sog "wilden euthanasie" die verantwortlichen bürokraten und psychiater mitsamt ihren institutionen dazu neigten, die kriterien für die "euthanasie" immer "großzügiger" zu gestalten (was recht schnell auch zur einbeziehung von bspw. körperlich schwerkranken [tuberkolose, krebs u.a.], einfach alten menschen und auch kriegstraumatisierten zivil- und militärpersonen führte), so blieb doch ein zentrales kriterium der mörder für ihre definition von "lebensunwert" formal und auch real immer an erster stelle: die arbeitsfähigkeit und produktivität der potentiellen opfer entschied in den weitaus meisten fällen tatsächlich über leben und tod.

"Erste Forschungsergebnisse zu den Berliner Krankenakten vermitteln einen Eindruck vom Spektrum der Patienten, die der Euthanasie zum Opfer fielen. In einer Pilotstudie wurden 185 Akten auf 50 verschiedene Charakteristika untersucht.
Die meisten Patienten waren mehr als zwei Jahre in Anstaltsbehandlung und trugen die Diagnosen Schizophrenie, "Schwachsinn" oder Epilepsie; etwa ein Drittel wurde in den Akten als pflegeaufwendig und nicht arbeitsfähig bewertet.

Knapp die Hälfte der Patienten verrichtete so genannte mechanische Arbeiten, z. B. Rosshaarzupfen. Sie galten im Sinne der Leistungsanforderungen der NS-Volksgemeinschaft nicht als produktiv und wurden so zur Vernichtung freigegeben."


ich habe selbst während meiner beruflichen tätigkeit gelegenheit zu einblicken in diverse originaldokumente aus dieser zeit gehabt - nicht nur in krankenakten, sondern auch in briefe von patientInnen, angehörigen und beteiligten institutionen. und die rücksichtslosigkeit und brutalität, mit der die mörder vorgegangen sind, ist in vieler hinsicht durchaus zu vergleichen mit dem terror, den teils das gleiche personal nur kurze zeit nach "t4" während der shoa praktizieren würde. weshalb auch "t4" in der historischen forschung heute oft und imo berechtigt als eine art "testlauf" für die shoa angesehen wird.

wobei bei letzterer eben das kriterium "arbeitsfähigkeit" zwar auch eine, aber nicht die entscheidende rolle spielte - hier war der pure vernichtungswille ausschlaggebend. wobei ähnliches bei der sich abzeichnenden ausweitung der "euthanasie" auf alle, die aus damaliger medizinischer perspektive in irgendeiner hinsicht als schwer bis unheilbar krank galten, zu sehen ist. die funktionsfähigkeit> innerhalb der "volksgemeinschaft" wäre bei einer geplanten, aber bis kriegsende niemals zustande gekommenen gesetzlichen verankerung der "euthanasie" so ziemlich das entscheidende kriterium für die entscheidung über staatlichen mord oder staatliche "gnade" geworden - gegenüber den eigenen "volksgenossen".

wie die selektion dann auf papier und formal aussah, zeigt der folgende meldebogen aus der aktion "t4":

Meldebogen der sog. "T4"-Mordaktion

der hinweis "nutzlose existenz" unten rechts ist vom ausfüllenden psychiater (und direktor der anstalt in bremen), dr. w. kaldewey, handschriftlich angefügt worden - unter den damaligen bedingungen das sichere todesurteil (kaldewey saß auch für eine kurze zeit in den "t4"-gutachterkommissionen, die lediglich nach aktenlage "begutachteten".)

nun ist eine bestimmte art von "funktionsfähigkeit" ja auch immer wieder thema hier im blog - die "funktionsfähigkeit", die sich in mehr oder weniger reibungsloser anpassung und kompatibilität gerade mit anonymen, mechanischen, bürokratischen und auch mörderischen institutionellen apparaten ausdrückt. was hier wiederum früher bereits als ein schwerwiegendes indiz auf die dominanz des objektivistischen modus bei einem menschen skizziert worden ist. und auch bezgl der sehr wahrscheinlichen psychopathologie hitlers drängt sich zu dieser ganzen geschichte eine frage besonders auf:

waren (und sind) diejenigen, die ihre definitionen von "leistungs- und arbeitsfähigkeit", "lebensunwert" etc. als trennlinie benutzten, um die von ihnen so definierten "asozialen", "psychopathen", "gemeinschaftsunfähigen" etc. auszuselektieren, tatsächlich die weitaus gefährlicheren ver-rückten? lässt sich die these aufstellen, dass bei ihnen zumindest z.t. auch schlichte projektion bei der auswahl der opfer beteiligt war? neben einer hemmungslosen bereitschaft zur unterwerfung unter angemaßte autoritäten, die sich als impliziter selbstverrat bzw. als unfähigkeit, sich selbst als eigene persönlichkeit überhaupt wahrzunehmen, darstellt? empathielosigkeit und extrem verdinglichende wahrnehmung jedenfalls sind eigenschaften, die wir den tätern mit berechtigung attestieren dürfen - und wenn ein technokrat wie der oben erwähnte k. (ich kenne einiges, auch nicht öffentlich zugängliches, biographische material zu und von ihm, welches ich hier leider nicht vorstellen kann) die todeskandidatin als autistisch beschreibt, so scheint mir das eine bitterböse ironie zu sein - k. lässt sich durchaus selbst als eine, allerdings wesentlich bösartigere, zumindest funktionell autistische person begreifen - und das lässt sich nicht nur bei ihm als starker verdacht formulieren.

in früheren beiträgen wurde hier ja schon auf das modell von zwei qualitativ unterschiedlichen formen psychotischer weltwahrnehmung verwiesen, welches mit teils unterschiedlichen begründungen und auch unterschiedlicher terminologie bspw. bei theweleit, mertz und arno gruen als these zu finden ist. wobei nur eine dieser formen - diejenige, die offensichtlich gegen die "objektiven realitätskriterien" z.b. mittels halluzinationen verstößt - von der etablierten psychiatrie und psychologie als psychose benannt wird. während sich die andere eben u.a. durch funktionsfähigkeit und simulierte emotionalität, in krasser form als völlig simulierte lebendigkeit, auszeichnet. und mit diesem ansatz im hinterkopf spricht also einiges dafür, die nazi-"euthanasie" auch unter solchen aspekten zu begreifen. die tatsache, dass während "t4" auch z.b. offensichtlich gewalttätige und als psychopathisch bezeichnete vergewaltiger in die vernichtungsmaschinerie gerieten, spricht nicht gegen diese these - wenn die gesetze im nationalsozialismus zum großen teil selbst soziopathischen charakter hatten und auch von entsprechenden leuten entworfen und umgesetzt wurden, so gilt das, was ich früher bereits einmal zitiert hatte - wieder der herr mertz, auf s.225:

„Das geschriebene Gesetz ist ohnehin nur ein prothetisches Surrogat, als solches kann es das antisoziale Phänomen in (...) relevanter Weise nicht definieren. Das reale antisoziale Phänomen setzt beim authentischen Defekt oder Defizit an und muß keineswegs die Grenzen des geschriebenen Gesetzes übertreten. Reale Antisozialität kann sogar die geschriebenen bzw. praktizierten Gesetze dahingehend verändern, daß gewisse extrem antisoziale Aktionen zur Norm erklärt werden und eindeutig (authentisch) prosoziale Aktionen als Verbrechen erscheinen.“

anders: dass eben die nazis auch personen ermordeten, die nach den heute geltenden (und imo unzureichenden) psychiatrischen kriterien bspw. in den forensischen kliniken sitzen und ebenfalls teils als soziopathen betrachtet werden, lässt sich vor dem damaligen hintergrund als mehr oder weniger beliebiger zufall deswegen betrachten, weil gleichzeitig das staatlich organisierte und angeordnete morden und vergewaltigen seitens der ss, wehrmacht, gestapo u.a. nicht nur als gewünscht, sondern als "historische notwendigkeit" galt - und derart real extrem antisoziales verhalten in den rang einer quasi naturgesetzlichkeit erhoben wurde. konnte sich also ein vergewaltiger entsprechend beherrschen, so hatte er prinzipiell alle chancen, beim ausagieren seiner verdinglichenden gewalt nicht nur straffrei, sondern noch belobigt davonzukommen - sofern er auf einige situationsbedingte gegebenheiten achtete. einer derart beschaffenen staatlichen struktur ist es prinzipiell gleichgültig, ob sich jemand real antisozial verhält - es kommt mehr auf form und zeitpunkt an und darauf, dass der anschein gewahrt bleibt und die macht prinzipiell anerkannt wird - das scheint dann u.a. durch die gewährte freiheit zum individuellen soziopathischen ausagieren im staatlichen interesse honoriert zu werden.

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ich glaube, es sollte jetzt etwas klarer geworden sein, wie ich psychophysische störungen in ihren möglichen schweren ausprägungen grundsätzlich verstehe. und welche davon ich insgesamt als eindeutig bösartiger und destruktiver ansehe. beim anblich der heutigen realität allerdings fürchte ich, dass sich ganz grundsätzlich nichts geändert hat, was die prägenden strukturen unser gesellschaft anbelangt - so hätten bspw. die parasitenvergleiche aus dem letzten jahr ohne weiteres den beifall jedes um die "volksgesundheit" besorgten soziopathen im ns gefunden. ebenso möchte ich nicht unbedingt wirklich erfahren, in wievielen heutigen köpfen und körpern gefühle und gedanken von der "nutzlosen existenz" herumspuken - natürlich hinsichtlich fremden lebens, aber im kern auch bezgl. des eigenen.

was wir aber - als hoffentlich psychophysisch relativ gesunde menschen - im gegensatz bspw. zu den real antisozialen, wahrnehmungsgeschädigten und im schlechtesten sinne des wortes grenzenlosen nazis als eine ganz essentielle maxime für jedes handeln festschreiben können, steht ganz am anfang dieses beitrags. das schließt berechtigten und situationsangemessenen hass und auch notwendige aggressionen gegenüber tödlichen grenzverletzungen nicht aus - aber es fixiert eine grundsätzliche und elementare wahrnehmung, die zu verbreitern und zu verankern imo zu den essentials jeder emanzipatorischen bewegung gehören muss.

Freitag, 3. März 2006

basis: was macht einen *echten* psychopathen vermutlich aus?

trotz der in der einführung zum thema angesprochenen schwer belasteten historie des begriffs psychopath - die heute darunter verstandene realität existiert imo unbezweifelbar für sich - und deshalb jetzt zur frage der überschrift.

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viele leserInnen hier werden wahrscheinlich ihr bild des psychopathen zu einem großen teil durch produktionen der popkultur - wie zb. die fiktive figur des hannibal lecter aus dem film "das schweigen der lämmer" - bezogen haben: ein überdurchschnittlich intelligenter, emotional kalter, rücksichtsloser und berechnender mensch. lecter ist dabei durchaus als eine zwar überzeichnete, jedoch annäherend realitätsnahe psychopathische figur entworfen worden - so sind sowohl das fiktive trauma in seiner biographie als auch die hier beschriebene eigenschaft

"Bei der Durchführung des EKGs greift er dort eine Krankenschwester an und isst deren Zunge, ohne dass seine Herzfrequenz jemals über 85 Schläge pro Minute (Ruhepuls) steigt."

durchaus in realen psychopathischen biographien wiederzufinden, gerade die letztere besonderheit - das erwähnte trauma jedoch kann, muss aber nicht vorhanden sein.

ein mörderischer "super-verbrecher" wie lecter jedoch ist - zum glück - in der realität weiter eher eine ausnahme, wobei sich viele serienmörder durchaus als psychopathen begreifen lassen. ein beispiel für das weiter verbreitete nichtmörderische wirken von psychopathen ließ sich vor einigen monaten in etlichen medien finden:

"Falscher Fürst foppt den Bundestag

Als falscher Fürst hinterging er die Düsseldorfer High Society, als vermeintlicher Praktikant ging er im Bundestag ein und aus: Ein 21-jähriger Betrüger soll sich monatelang ungehindert Zutritt zu diversen Abgeordnetenbüros erschlichen haben.
(...)
Zunächst habe der vorbestrafte Betrüger Anfang des Jahres ein Praktikum beim heutigen Wehrbeauftragten des Bundestags, Reinhold Robbe, begonnen, hieß es in dem Bericht. Als der Polizeidienst des Bundestages auf die früheren Verurteilungen des Mannes hingewiesen hatte, sei er allerdings nach wenigen Tagen entlassen worden. Dem Blatt zufolge erlangte der 21-Jährige wegen seines sicheren Auftretens auch danach noch Zugang zu den Abgeordnetenbüros.

Mehrfach habe der Hochstapler darauf verwiesen, ein Neffe von Rudolf Seiters zu sein. Als vorgeblicher Praktikant von Wolfgang Thierse habe er auf zahlreichen Abendveranstaltungen Kontakte zu Verbänden und Botschaften geknüpft.
(...)
In Düsseldorf hatte sich der Betrüger als "Jörg Alexander Fürst zu Sayn-Wittgenstein zu Berleburg" das Vertrauen der High Society erschwindelt. Er war laut Polizei an seinem 21. Geburtstag festgenommen worden, als er unbezahlte Lieferungen von einer Postfiliale abholen wollte. In seiner Wohnung fanden die Ermittler unbezahlte Waren im Wert von 15.000 Euro, darunter Luxuskleidung und Plasmabildschirme. Den Düsseldorfer Ermittlern zufolge war der Mann zuvor auch als falscher Arzt und falscher Polizeibeamter in Berlin aufgefallen."


hier spricht vieles dafür, einen psychopathischen hintergrund anzunehmen: das "sichere auftreten" in unzähligen fakes bzw. "als-ob"-simulationen ist ein wesentliches indiz dafür. gleichzeitig aber macht das zielsichere bewegen des mannes in lauter kreisen, die als "gesellschaftliche eliten" angesehen werden, auch etwas anderes deutlich: nämlich erstens die anfälligkeit innerhalb dieser kreise für simulationen und fakes, was zweitens auch ein hinweis darauf sein dürfte, dass es mit authentischen menschlichen beziehungen dort nicht mehr so weit her sein dürfte bzw. beziehungssimulationen weit verbreitet sind - was das agieren von psychopathen enorm erleichtert bzw. sie am wirkungsvollsten vor der "enttarnung" schützt. der bereich der (überzeugenden) hochstapler, trickdiebe und betrüger jedenfalls darf als ein bevorzugter tummelplatz von menschen mit einer störung dieses kalibers angesehen werden.

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das lässt sich aus der oben dem fiktiven lecter zugeschriebenen psychophysischen besonderheit folgen, die als eines der wesentlichen merkmale echter psychopathen gelten kann - auszüge aus einem empfehlenswerten radiomanuskript :

"Psychopathen neigen überhaupt nicht zu starken Empfindungen, vor allem verspüren sie nur sehr wenig Angst."

das ist ein ganz entscheidender punkt, der den betroffenen zumindest in vielen gesellschaftlich-sozialen situationen zu einem gewaltigen vorteil verhelfen dürfte - wer nur wenig bis gar keine ängste verspürt, kann logischerweise sehr überzeugend simulieren/schauspielern, gerade in echten situationen, die nicht auf einer bühne stattfinden - um überzeugend zu tricksen und zu faken, ist angstfreiheit eine wesentliche vorbedingung. diese besondere art angstfreiheit bei psychopathischen persönlichkeiten ist nicht nur objektivierbar bzw. messbar, zb. innerhalb von besonderen experimentiellen situationen:

"Bei jedem fünften gewalttätigen Mann verlangsamte sich der Herzschlag hingegen. Die Forscher erinnerte dieser Typ Mann an eine Giftschlange, die ruhig und konzentriert wirkt, bevor sie blitzschnell zubeißt. Deshalb nannten sie ihn Kobra - im Unterschied zum aggressiv aufgeputschten Typ „Pitbull“. Kobras regen sich nicht auf, sie setzen Gewalt gezielt ein, um die Frau unter ihre Kontrolle zu bringen. Nicht alle Kobras sind Psychopathen, aber etliche sehr wohl."

sondern lässt sich auch direkt als folge neurophysiologischer veränderungen ansehen:

"In den letzten Jahren haben Forscher nicht mehr nur Puls und Hautleitfähigkeit gemessen, sondern sich auch das Gehirn von Psychopathen angeschaut. Sie sind auf zahlreiche Auffälligkeiten gestoßen. Psychiater Müller-Isberner nennt eine:

O-Ton 6 - Rüdiger Müller-Isberner:
Wenn man sich, und das ist heute maschinell möglich, wenn man sich sozusagen Aktivitäten des lebenden Gehirnes anguckt, sieht man, dass es im Bereich des Vorderhirnes, also oberhalb unserer Augen im Frontalhirn ein Funktionsdefizit gibt. Das Frontalhirn ist von der Evolution her, von der Entwicklung der jüngste Teil unseres Gehirns. Unsere Funktionen im Frontalhirn, das sind auch die, die uns von den anderen Lebewesen, den anderen Tieren unterscheiden.

Sprecherin:
Psychopathen verfügen im Frontalhirn über elf Prozent weniger so genannte graue Masse, das ist ein Teil des Nervengewebes. Dies hat Adrian Raine mit Hilfe der Magnetresonanz-Tomografie nachgewiesen, einem Verfahren, das Bilder des Gehirns erzeugen kann.

Das Frontalhirn sorgt dafür, dass wir im richtigen Moment handeln, aber auch dafür, dass wir manche Handlungsimpulse nicht ausführen. Was passieren kann, wenn es beschädigt wird, zeigen Fallstudien der Universität von Iowa. Eine Patientin war als Kleinkind von einem Auto überfahren worden. Sie schien sich innerhalb weniger Tage zu erholen. Doch bald erwies sie sich als praktisch unerziehbar. Sie reagierte weder auf mahnende Worte noch auf körperliche Strafen. Sie bestahl ihre Familie und andere Kinder. Sie log viel, hatte keine Freunde, lief von zuhause weg. Mit 18 bekam sie ungeplant ein Kind, das sie gefährlich vernachlässigte. Überhaupt schien sie unfähig zur Empathie zu sein. Kurz, sie zeigte viele psychopathische Züge. Ein Gehirnbild der inzwischen 20-jährigen verriet die Ursache der Störung: Ihr Frontalhirn war geschädigt."


neben der angstfreiheit taucht hier jetzt offen ausgesprochen ein zweites wesentliches merkmal auf: die unfähigkeit zur empathie, die unmittelbar mit der angstfreiheit zusammenhängt - denn wenn sich jemand erstens selbst keinen begriff von angst generell machen kann (bzw. sie nicht wahrnehmen kann, was auf das gleiche hinausläuft), dann kann diese person zwangsläufig auch nicht nachfühlen, wenn sie bei anderen ängste auslöst. spekulativ lässt sich annehmen, dass gerade die teile des gehirns geschädigt sind, in denen sich zumindest z.t. die erst seit kurzem bekannten spiegelneurone befinden, die nach weiteren forschungsergebnissen auch bei der möglichen autismus-genese eine rolle spielen. das in der einführung erwähnte begriffswirrwarr von der psychopathie über das autistische spektrum hin zu den persönlichkeitsstörungen und sogar in den bereich der psychotraumata könnte zu einem teil daraus entstehen, dass das spektrum der überlappungen von möglichen symptomen tatsächlich einen hinweis auf strukturelle innere verwandtschaften bei den betreffenden störungen darstellt - was keinesfalls heisst, dass die jeweils individuellen daraus folgenden lebens- und verhaltensweisen bei den betroffenen nicht extrem unterschiedlich sein können. aber diesem eindruck kann ich mich nach einer langen beschäftigung mit dem thema einfach nicht entziehen. ebensowenig dem gefühl, dass bei den weitaus meisten dieser störungsbilder bösartige soziale prozesse - gewalttätige prozesse - entscheidend an der entstehung beteiligt sind.

fortsetzung folgt.

basis: psychopathie, soziopathie, als-ob-persönlichkeiten - eine einführung

(bereits im blog vorhandene themenbezogene fragmente lassen sich hier nachlesen).

bei der recherche zu diesem gleichzeitig bedrohlichen, aber auch irgendwie faszinierendem thema (eine reaktion, die ich nicht nur bei mir feststellen kann und die eigentlich einer näheren betrachtung bedarf), wurde wieder einmal mehreres deutlich: einmal das chaotische begriffswirrwarr in der psychiatriegeschichte, zum anderen aber auch die ungenügend reflektierten gesellschaftlichen implikationen des themas. wozu auch der begriff psychopath(ie) selbst gehört:

“Psychopathie ist eine veraltete Bezeichnung für eine Persönlichkeitsstörung, die aufgrund charakterlich-konstitutioneller Gründe zu einer Anpassungsstörung führt, unter der sowohl der "Psychopath" als auch die Umwelt zu leiden haben.

Im ICD-10, der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen, wird Psychopathie nicht speziell, aber in Verbindung mit 2 Erkrankungen erwähnt:

* ICD 10 F84.5 autistische Psychopathie:
o (ICD 10 F84.0) Tiefgreifende Entwicklungsstörung (Sammelbezeichnung für Autismus, Asperger-Syndrom, Rett-Syndrom)
o (ICD 10 F84.5) Asperger-Syndrom (heutzutage besser: Asperger-Autismus)
(...)
Daneben werden auch manche Persönlichkeitsstörungen (ICD 10 F60) unter die Psychopathien gerechnet, vor allem die:

* Paranoide Persönlichkeitsstörung
* Schizoide Persönlichkeitsstörung
* Emotional-instabile Persönlichkeitsstörung (aka borderline, anmerk. mo)
* Dissoziale ("antisoziale") Persönlichkeitsstörung“


auch wenn artikel von wikipedia von fall zu fall mit einiger skepsis zu betrachten sind - das, was rund um den komplex "psychopathie" zusammengetragen worden ist, gibt in einer einigermaßen verständlichen form kurz und knapp wesentliche und relevante informationen wieder. dazu gehören sowohl die begriffe soziopathie als auch die antisoziale persönlichkeitsstörung. wenn Sie sich die links betrachten (was für das verständnis durchaus hilfreich wäre), werden Sie neben inhaltlichen überlappungen bei den definitionen der obigen begriffe auch erwähnungen anderer wohlbekannter diagnostischer begriffe finden, wie bspw. diagnosen aus dem autistischen spektrum, borderline, die narzisstische ps und auch die postraumatische belastungsstörung.

gleichzeitig sollten Sie sich immer wieder bewußt machen, dass bereits hinsichtlich der a) anerkennung der existenz, b) definition, c) möglicher zusammenhänge untereinander, d) der möglichen beschaffenheit dieser zusammenhänge und e) der daraus zu ziehenden konsequenzen seit jahrzehnten innerhalb von psychiatrie/neurologie und psychologie/diversen psychotherapeutischen ansätzen wilde und z.t. erbitterte auseinandersetzungen toben, die teils seit jahrzehnten andauern. in diesem sinne sind die definitionen der klassifikationen icd-10 und dsm-IV eher als kleinste gemeinsame nenner anzusehen, die nichtsdestotrotz weiteren veränderungen unterworfen sind und auch unterworfen sein werden. bei den möglichen sehr weit gehenden implikationen und konsequenzen sowohl für betroffene als auch für die gesellschaft als ganzes aus diesem diagnosenbereich ist das zwar kein wunder, stellt aber trotzdem für ein imo dringend notwendiges verbreitetes öffentliches verstehen dessen, was sich an realen phänomenen hinter diesen diagnosen verbirgt, ein leider schwer zu überwindendes hindernis dar. das spüre ich selbst u.a. beim schreiben dieses beitrags, der mich seit monaten immer wieder vor probleme gestellt hat.

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und auch deshalb - um sozusagen eine art roten faden zu haben - versuche ich jetzt bereits im vorgriff, mein persönliches fazit kurz zu umreißen:
  • der begriff "psychopathie" sollte nur auf eine ganz bestimmte gruppe von menschen angewendet werden, bei denen sich - dank der fortschritte der neurowissenschaften - deutliche psychophysische bzw. hirnanatomische veränderungen einer bestimmten art nachweisen lassen, welche ein eingrenzbares spektrum von bestimmten wahrnehmungs- und verhaltensweisen nach sich ziehen.
  • die psychopathie in diesem sinne ist nicht automatisch gleichzusetzen mit der antisozialen bzw. dissozialen persönlichkeitsstörung - diese gleichsetzung ist ein weit verbreiteter irrtum, der aufgrund der ähnlichkeiten der symptome zwar verständlich ist, nichtsdestotrotz zu einer fehleinschätzung bzw. unterschätzung des problems der "echten" psychopathie führt, die sich, vom heutigen wissenstand ausgehend, eher als eine untergruppe der antisozialen ps begreifen lässt. borderline- und auch traumabetroffene können unter bestimmten umständen zwar zahlreiche oder auch alle symptome der antisozialen ps aufweisen, jedoch dürfte sowohl die innere dynamik dahinter als auch die prognose sowohl anders als auch beim letzteren positiver aussehen. für das teils direkt betroffene umfeld, welches unter den symptomen der verschiedenen störungen zu leiden hat, dürfte diese differenzierung erstmal egal sein - für das verständnis jedoch halte ich sie für sehr wichtig.
  • eine weitgehende übereinstimmung dürfte hingegen zwischen der psychopathie und dem phänomen bestehen, welches seit helene deutsch als als-ob-persönlichkeit in der psychiatriegeschichte bekannt ist:

    "1942 prägte Helene Deutsch den Begriff der sogenannten Als-ob-Persönlichkeit. Charakteristisch für die Als-ob-Persönlichkeit ist die Fähigkeit, ihre schwer gestörten zwischenmenschlichen Beziehungen durch äußere soziale Angepasstheit zu maskieren. Ihre Patienten waren auf einer frühkindlichen Entwicklungsstufe fixiert, wo noch primitive Objektbeziehungen mit wenig Konstanz, eine mangelhafte Über-Ich-Entwicklung, Identitätsschwäche, Affektarmut und ein Mangel an Reflexion bestehen."

    die deutlich psychoanalytische sprache wird später noch einmal thema werden, zumal sie etwas in die irre führen dürfte, was den tatsächlichen sachverhalt anbelangt.
  • die bloße ersetzung des psychopathie-begriffs durch das wort "persönlichkeitsstörung", wie sie nicht nur in den wiki-artikeln, sondern auch in diesem sehr lesenswerten artikel stattfindet, ist imo nach den vorliegenden erkenntnissen nicht zu rechtfertigen. allerdings werden in diesem beitrag einige wichtige implikationen näher ausgeführt:

    "Noch schwieriger wird es, wenn man die Biographien der Großen dieser Welt aus Politik, Wirtschaft und Militär, ja Kunst und Wissenschaft durchforstet. Das liest sich stellenweise wie die reine „Psychopathologie“, also die Lehre von den krankhaften Veränderungen des Seelenlebens. Sind also psychopathische Züge nur lästig, negativ, „minderwertig“? Erwachsen daraus nur missgestimmte, unbeherrschte, leicht erregbare, geltungssüchtige, gemütlose, fanatische, querulatorische oder wahnhafte Krankheitszüge? Oder sind die Psychopathen tatsächlich das „Salz der Erde“? Kurz: Ob Psychopathie oder Persönlichkeitsstörung genannt - es handelt sich zwar um ein alltägliches und doch weitgehend unbekanntes Krankheitsbild.

    Das heißt: So unbekannt nun auch wiederum nicht, denn Persönlichkeitsstörungen sind ja nicht selten. Die Häufigkeit von Personen mit auffälliger Persönlichkeitsstruktur beträgt nach weltweiten Schätzungen knapp 10% (also allein im deutschsprachigen Bereich mehr als 10 Millionen).

    Das irritiert erst einmal, wird aber dann verständlicher, wenn man auch die nicht-dominanten bis nach außen unauffälligen Beispiele heranzieht (s. o.). Oder mit anderen Worten: Die Persönlichkeitsstörungen dürften jene seelischen Krankheitsbilder sein, die das breiteste Leidensspektrum (und zwar nicht nur für die Betroffenen, auch für ihr näheres und weiteres Umfeld), die erstaunlichste Vielfalt und damit auch die größten Gegensätze in sich vereinen (zumal auch nicht wenige „Erfolgs-Storys“ unter diesen Menschen zu finden sind).

    Nun soll sich der mangelhafte Kenntnisstand über diesen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung aber ändern. Denn diese „Stör-Bilder“ nehmen nicht nur zu, sie rücken auch ins Zentrum des wissenschaftlichen Interesses. Warum? Die Probleme, die sich aus den psychosozialen Konsequenzen ergeben (partnerschaftlich, familiär, nachbarschaftlich, Freundeskreis, beruflich, ja wirtschaftlich, politisch, kulturell u. a.) werden auch im Alltag immer bedrängender. Man denke nur an die sich offensichtlich fast epidemisch ausbreitende narzisstische Wesensart (ich - ich - ich), die auch zu einem Anstieg der narzisstischen Persönlichkeitsstörung (siehe später) zu führen scheint."


    hier sind einmal viele wesentliche aspekte zusammengefasst, die eine beschäftigung mit den diagnosen und psychophysischen zuständen, die hier thema sind, als dringend notwendig erscheinen lassen - auch und gerade mit der psychopathie. wie gesagt: der artikel ist sehr lesenswert.
  • natürlich ist und bleibt der begriff "psychopathie" vor allem aus zwei gründen problematisch - einmal wäre da das im nationalsozialismus tödliche etikett "asozialer psychopath" :

    "Unmittelbar mit der „Machtergreifung" der NSDAP 1933 begann die unverhöhlte, offene Hetze gegen sog. „Asoziale", psychisch Kranke, Behinderte, gegen sog. „Gemeinschaftsunfähige", was immer darunter zu verstehen war. Diese Kategorien, die zur Klassifikation der Bevölkerung gebildet wurden, erfaßten all jene, welche nicht dem „arischen" Ideal entsprachen, aber nicht in die rassistische Schablone des „Ewigen Juden" paßten. Asyliert wurden Nichtseßhafte, Alkoholiker, „asoziale" Tuberkulosekranke, um den „gesunden Erbstrom" der „Volksgemeinschaft" nicht zu schädigen. „Jugendschutzanstalten" wurden eingerichtet, in denen sog. „Schwererziehbare" interniert wurden; auch dies ein dehnbarer Begriff, dem alle dem „gesunden Volksempfinden" Zuwiderhandelnden zum Opfer fielen, so auch junge Frauen, die auf sexuelle Selbstbestimmung bestanden.

    So fielen unter den Terminus „Asoziale" alle Ausländer, Angehörige politisch Verfolgter, Familien, aus denen ein Angehöriger sterilisiert worden war, Vorbestrafte, Rauschgiftsüchtige, Prostituierte, Landstreicher, „Unwirtschaftliche", „Arbeitsscheue", Sonderlinge, „Nichtsnutze aller Art", Verkehrssünder und „Raufbolde". 1938 sprach man von „getarntem Schwachsinn", unter den vor allem Fürsorgezöglinge fielen, von „moralischem Schwachsinn", womit vor allem unangepaßte Frauen und Mädchen gemeint waren. Die Begrifflichkeit „asozial" wurde zunehmend mit „Psychopathie" ineinsgesetzt und lieferte so die darunter subsumierten Menschen der „Euthanasie" aus."


    wobei es mir als eine zynische ironie der geschichte erscheint, dass von heute aus betrachtet eher die führungsschichten der ns-diktatur diese etikettierung verdienen, was aber auch die gesellschaftliche bedingtheit nicht nur dieser diagnose nachdrücklich deutlich macht. und zum anderen spielt gerade diese bedingtheit auch eine wesentliche rolle gerade bei kriterien wie "Unfähigkeit zur Verantwortungsübernahme, gleichzeitig eine klare Ablehnung und Missachtung sämtlicher sozialen Normen" (...) "Fehlendes Schuldbewusstsein", wozu mertz hinsichtlich einer definition von persönlichkeitsstörungen im dsm-IV berechtigt feststellt:

    "Die Persönlichkeitsstörung sei ein `überdauerndes Muster von innerem Erleben und Verhalten´, das `merklich von den Erwartungen der soziokulturellen Umwelt abweicht´. Damit wird die pathologische Komponente, die in vielen Erwartungen bzw. Normen einer immer auch mehr oder weniger krankmachenden sozialen Umwelt enthalten ist, zum `gesunden Maßstab´ erklärt bzw. verklärt."

    (j. e. mertz, "borderline...." s. 176 (siehe literaturliste)


    das sollte nicht schwer zu verstehen sein, was hier gemeint ist - was als gesund oder auch sozial akzeptabel zu gelten hat, bestimmt nicht nur in totalitären systemen im zweifelsfall die regierung und das strafgesetzbuch - dieses muster ist historisch aus etlichen diktaturen bekannt, wird verdeckt aber auch innerhalb der sog. demokratischen welt weiter angewandt - hier jedoch eher durch mehr oder weniger subtilen sozialen druck zur konformität an jeweils gültige norm- und wertsysteme. wenn sich jedoch diese normen und werte selbst als pathologisch entpuppen, weil zb. die normsetzenden eliten selbst überwiegend aus schwer gestörten personen bestehen - und u.a. für die realität dieser these versucht dieses blog, belege zu sammeln - dann ist eine schwer zu entwirrende situation geradezu vorprogrammiert, was bei der beschäftigung mit dieser materie hohe wachsamkeit verlangt. auch dieses sollten Sie beim lesen nicht nur dieses beitrags immer im hinterkopf behalten.
fortsetzung folgt.

Mittwoch, 21. Dezember 2005

basis: "jetzt bleiben Sie doch mal *sachlich*" - subjektivität vs. objektivität (und etwas zur folter)

wieder einmal anders als geplant (so wie das leben meistens ist), hat mich ein artikel bei spon zum versuch veranlasst, das in der überschrift erwähnte verhältnis näher zu betrachten. dieses thema wäre sowieso hier irgendwann fällig gewesen, und zieht sich als hintergrund auch durch diverse frühere beiträge. die versprochenen antworten auf die vielfältigen kommentare hier sind dabei nicht vergessen. und in einem gewissen sinne lässt sich der folgende beitrag bereits auch als ergänzung / antwort zu vielen der in den kommentaren aufgeworfenen fragen verstehen.

*

nun aber zum erwähnten artikel mit der überschrift Schäuble am Pranger - als ein weiterer (und ebenfalls aufschlußreicher ) beitrag zur sog. folter-debatte - dieser begriff hat allerbeste chancen auf den titel unwort des jahres - gedacht, möchte ich auf eine spezielle argumentationsfigur hinweisen, die nicht nur hier zum einsatz kommt, sondern in dieser gesellschaft an allen ecken und enden bis in die allerpersönlichsten bereiche hinein anzutreffen ist. im artikel taucht sie so auf:

"Mit seinen Äußerungen zu Folter und Rechtsstaatlichkeit hat sich Innenminister Schäuble heftige Kritik eingehandelt. Der Christdemokrat bekommt zu spüren, dass eine sachliche Debatte über das Thema zurzeit kaum möglich ist."(...)

"Die zum Teil hochemotionalen Reaktionen heute zeigen aber, dass der Innenminister trotzdem keinen leichten Job haben wird. Wer heute die Fortsetzung der im Kampf gegen den Terror unverzichtbaren Geheimdienstarbeit fordert, wird von manchen fast in die Ecke von Folter-Fans gestellt. Tragfähige Erkenntnisse über global agierende Terror-Netzwerke lassen sich aber nur global gewinnen, dabei kann man nicht immer die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik anlegen. Eine ernsthafte, ruhige Diskussion zu diesem Thema ist jedoch zurzeit kaum möglich"(...)


ich muss sagen, dass meine spontane reaktion ganz und gar nicht sachlich im sinne des hier seine eigene pervertierung offenbarenden autors gewesen ist, sondern im dringenden und durch und durch subjektiven bedürfnis bestand, dem schreiber einen fetten tritt vors schienbein zu geben. und ich kann hier gleich anmerken, dass ich diese emotionale reaktion angemessen finde. zumal wünsche und / oder phantasien noch lange keine zwangsläufige materielle verwirklichung nach sich ziehen, dafür aber durch ihre jeweilige art und intensität durchaus informationen vermitteln - und zwar sowohl über den auslösenden menschen, den inhaltlichen gegenstand oder die situation, als auch über mich selbst.

diejenigen, die sich nicht ganz darüber im klaren sind, was dieser artikel eigentlich letztlich zur angeblichen "verteidigung" von freedomanddemocracy n i c h t auschließen möchte, seien z.b. hierauf verwiesen:

"Etwas heftiger sind dann die Schläge auf den Bauch. Auch sie werden mit den Absicht geführt, dem Gefangenen Schmerzen zuzufügen. Aber dies soll mit offener Hand, nicht mit der Faust geschehen, um keine inneren Verletzungen zu verursachen. Als eine der effektivsten Techniken wird beschrieben, die Gefangenen Tage lang stehen zu lassen. Sie werden für mehr als 40 Stunden mit Hand- und Fußschellen stehend gefesselt. Erschöpfung und Schlafdeprivation würden dann zu Geständnissen zu führen. Eine andere oder zusätzliche Maßnahme ist die "kalte Zelle". Der Gefangene muss nackt in einer Zelle stehen, in der es nur ein paar Grad warm ist. Dazu wird über die Gefangenen hin und wieder kaltes Wasser geschüttet.

Häufig angewendet wird wohl auch das sogenannte Water Boarding. Dabei wird der Gefangene auf einem Brett festgebunden. Über das Gesicht wird eine Plastikfolie gelegt und der Gefangene dann kopfüber mit Wasser übergossen. Dadurch entsteht unwillkürlich die Angst zu ertrinken, was angeblich zu einer schnellen Bereitschaft führt, ein Geständnis abzulegen."



warum nun begreife ich die anfangs zitierten sätze als perversion? weil sie das symptom eines gewaltverhältnisses darstellen, welches sich zuerst entweder im autor selbst befindet, oder aber von diesem aus gründen, über die noch zu reden sein wird, zumindest aufgegriffen und als scheinbar richtiges transportiert wird. und letzteres setzt nicht unbedingt einen strukturellen defekt im autor selbst voraus, wohl aber mindestens einen funktionellen. will sagen: um so etwas schreiben zu können, scheinbar ganz rational und objektiv, muss sich der autor mindestens zeitweise in eine innere position der distanzierung, der fiktionalität und vor allem der empathielosigkeit begeben - und das bei einem thema, bei dem es im weitesten sinne um den umgang miteinander innerhalb unserer spezies geht. und wie aus dem vorstehenden satz faktisch schon hervorgeht, lässt sich diese besondere postion nur mittels wahrnehmungsreduktion erreichen. egal, ob diese reduktion defektbedingt (siehe alexithymie oder auch autismus) oder aber aus unreflektierter gewohnheit (bei grundsätzlich intakter persönlichkeit) bezogen wird.

wovon redet der da, zum teufel? ist objektivität nicht etwas erstrebenswertes? und nötig als gegengewicht zur oftmals abscheulichen irrationalität und ungerechtigkeit subjektiver meinungen und einstellungen? stellt die rationale objektivität nicht auch das wirksamste antidot gegen das dar, was so allgemein - und auch psychiatrisch - als wahnsinn begriffen wird? beruht nicht die ganze durchsetzungsfähigkeit der westlichen kultur und ihre wissenschaftlichen erfolge gerade auf dieser art von objektivität?

viele fragen. fragen, auf die bereits ebensoviele verschiedene antworten versucht und gegeben wurden - der "subjektivität-objektivität-komplex" ist ja auch etwas, worüber sich stundenlang philosophieren lässt. aber so schlimm soll´s hier jetzt nicht werden. mir geht es um eine beschreibung dieses scheinbaren gegensatzes, die sich einfach primär an den menschlichen gegebenheiten orientiert - und nicht an den menschlichen fiktionen über diese gegebenheiten. und das ist nicht anmaßend, sondern sowohl möglich als auch dringend nötig.

nötig deswegen, weil sich im obigen sponzitat deutlich erkennen lässt, wie in dieser gesellschaft mittels dieses angeblichen gegensatzes handfest machtpolitik betrieben wird: die sog. objektive (objektivierende, objektivistische) position wird als alleinige "rationale, vernünftige und sachliche" position bezeichnet - "ernsthaft" ist dabei noch eine steigerung - und dieses vorgehen zwingt zum unausgesprochenen schluß, dass alle anderen möglichen positionen also "irrational, unvernünftig, unsachlich und unernst" sind. wenn Sie also der meinung sein sollten, dass es absolut nicht okay ist, wenn irgendwo vom irgendwem gefoltert wird und die dabei erlangten "erkenntnisse" z.b. von behörden dieses staates ohne ganz direkte beteiligung genutzt werden, sind Sie also in den augen dieses autors quasi als ernsthafte/r gesprächspartnerIn disqualifiziert. Sie sind nicht objektiv genug, sprich: Sie lassen sich womöglich zu sehr von Ihren (empathischen) gefühlen leiten.

was wird mit einer solchen logik tatsächlich angerichtet, worauf beruht sie und wie funktioniert sie?

erstens: sie negiert absolut besonders die empathischen menschlichen gefühle, wischt sie quasi als irrelevant vom tisch - als ob sie nicht vorhanden wären. das bezeichne ich als defekt - wer so argumentiert, bei dem muss als voraussetzung ganz zwingend eine wahrnehmungsreduktion vorliegen - ob funktionell (also eine zeitweilige ausblendung / verdrängung) oder strukturell (eine grundsätzliche krankheitswertige störung der wahrnehmungsmöglichkeiten) - anders lässt sich eine solche position nicht erreichen.

ein einwand gegen meine argumentation könnte darin bestehen, dass z.b. in einem fall wie dem, durch den der frankfurter polizeipräsident daschner bekannt geworden ist, ja die sache doch nicht so einfach wäre, wenn es bspw. um ein entführtes kind geht. meine antwort darauf: doch, es ist so einfach. eine emotionale rationalität bei einer möglichen forderung nach einer ausnahme vom folterverbot lässt sich hier sicher bei den eltern und nahen verwandten des kindes finden und auch sogar nachvollziehen (ebenso ist es imo bei der todesstrafe, wo sich mögliche rache- und vergeltungswünsche bei manchen(!) angehörigen und freundInnen der opfer ebenfalls nachvollziehen lassen). bloß: die beiden eben erwähnten und sehr eng begrenzten gruppen sind auch die beiden einzigen, die diese wünsche notfalls in einem positiv rationalen sinne (unter maßgeblicher beteiligung der emotionen) für sich realistisch begründet vortragen können. was noch lange nicht heisst, dass man sie deswegen akzeptieren muss.

diejenigen schreibtischtäter jedoch, die wie neulich in der welt und jetzt bei spon ihre faktischen forderungen nach einer staatstragenden aufweichung des folterverbotes u.a. mittels der objektivitätskeule medial verbraten, können die eben skizzierte position für sich keinesfalls in anspuch nehmen. bei ihnen läuft es daraus hinaus, dass sie mittels abstraktionen und fiktionen eine angebliche notwendigkeit dafür konstruieren, dass sich staatliche institutionen bereits einfach bei behaupteten angeblichen "gefahrenlagen" in einem ebenso angeblichen "öffentlichen interesse" über die angeblich vorhandenen zivilisatorischen standards der westlichen (schein-)demokratien hinwegsetzen können. und das bedeutet real nichts anderes, als den abstraktionen den vorrang vor den realen menschen zu geben. damit bekommt die sog. objektivität als notwendige wahrnehmungsmäßige basis der abstraktionen den status eines terrorinstrumentes, und damit wird auch sichtbar, wie pervers (=verdreht) das verhältnis subjektivität - objektivität hier tatsächlich ist.

zweitens: wie schon erwähnt, ist es eine der übelsten hiesigen kulturellen angewohnheiten, die sog. objektivität als einzig richtiges gelten lassen zu wollen - auch wenn das aus gründen, die gleich noch näher beschrieben werden, nur nach hinten los gehen kann und ein im schlimmsten sinne des wortes wahnsinniges vorhaben darstellt, so ist dieses primat der objektivität doch bis heute hartnäckig in uns allen verankert. klaus theweleit schrieb dazu 1977 zwar in einem speziellen zusammenhang (besonders an "die linke" gerichtet), aber dennoch imo auch allgemeingültig:

"Geradezu gewalttätig wird die Verwendung des rational/irrational-Gegensatzes, wennn sie mit dem subjektiv/objektiv-Gegensatz gekoppelt wird. (...) In seiner vulgärsten (und verbreitetsten) Form nennt dieses Denken objektiv/rational/real alles, was mit der gesellschaftlichen Produktion zusammenhängt und subjektiv/irrational/irreal alles, was bloß beim Menschen, im `Psychischen´ erscheint und den Sieg der Rationalität des `objektiven´ Prozesses behindert (...)"

"In Wahrheit sind diese Gegensatzpaare auf das Paar negativ/positiv bezogen, auf die Unterscheidung richtig/falsch. Es sind wertende Begriffe, vor allem verurteilende. Sie stützen Systeme, nicht Erkenntnisse, und die Systeme, aus denen sie stammen, sind überlebt.(...)"

(der nächste satz bezieht sich vor allem auf eine bestimmte orthodox-kommunistische position, anmerk. mo)

"Sie streiten sich z.b. immer noch darüber, was `richtiges´ oder `falsches´ Bewußtsein ist. Dabei ist `Bewußtsein´ immer falsch, wenn es in Gegensatz zum `Unbewußten´, zur Emotionalität, zur menschlichen Affektivität gesetzt wird, und das wird es in der Regel. `Richtig´ und `falsch´ ist eine Unterscheidungsmöglichkeit innerhalb axiomatischer Systeme."

(klaus theweleit "männerphantasien" bd. 1; hier zitiert nach einer ausgabe von 1977, s. 273/274)


wobei ich denke, dass sich die verwirrung zum begriff "bewusstsein" auch daraus ergibt, dass unsere sprache hier unpräzise ist (wahrscheinlich nicht zufällig): "ich bin mir bewusst" steht i.d.r. für eine position der scheinbaren objektiven erkenntnis, während "bewusstsein" als ganzes gesehen je nach kontext sowohl für die gesamten kognitiven und psychischen prozesse gesetzt wird, als auch gerne alleine mit den kognitiven fähigkeiten (und hier primär mit den objektiven und abstrakten) gleichgesetzt wird. und gerade die letztere position wird von theweleit imo berechtigt kritisiert, auch wenn in seinen worten nicht ganz herauskommt, dass es hier auch und gerade um die körperliche (psychophysische) basis der emotionen und der menschlichen affektivität geht. "klassisch" linke positionen neigen bis heute dazu, letztlich ideologien als "falsche gedanken", die dann sekundär auch "falsche gefühle" produzieren sollen, für die soziale passivität bis hin zum offen reaktionären handeln "der massen" verantwortlich zu machen. und das ist absolut unhaltbar, ignoriert alles heutige wissen um die menschliche struktur und führt zwangsläufig in die irre. sowie in der folge zur politischen bedeutungslosigkeit.

ohne direkten bezug zu dieser speziellen auseinandersetzung, aber mit sehr viel bezug zum allgemeinen thema, hat der hier bereits oft zitierte j.e. mertz (siehe literaturliste) in seinem buch einen meiner meinung nach sehr interessanten versuch gemacht, das verhältnis zwischen objektivität und subjektivität als ausdruck psychophysischer funktionen zu begreifen. ich kann das hier natürlich leider nur umreißen. in den grundzügen läuft seine analyse darauf hinaus, das das, was er als "konstruktivistisches ich" benennt (und was ich hier öfter "objektivistisches bewusstsein" nenne, gleichbedeutend mit der instrumentellen vernunft und dem westlichen begriff von rationalität), eine funktion, ein werkzeug darstellt (er geht sogar soweit, das als "nützlichen defekt" zu bezeichnen) - und zwar ein werkzeug der subjektivität, wobei letztere als primärer menschlicher zustand begriffen wird. das bedeutet nichts anderes als die aufhebung des scheingegensatzes - in diesem sinne ist die objektive position niemals ausserhalb der subjektivität zu finden, sondern - überraschung - ihr immanent! unsere subjektivität können wir ohne größere schwierigkeiten (wenn wir denn einigermaßen gesund sind) in all ihren gefühlen, intuitionen, erfahrungen, lüsten und schmerzen mit unserer körperlichkeit assoziieren, d.h. uns ihrer körperlichen basis bewusst sein. die objektive position hingegen beruht auf der gleichen basis - welche sollte sie auch sonst besitzen? -, ist daher also eigentlich immer ebenso subjektiv wie alles andere, wird aber quasi durch einen trick von dieser subjektivität scheinbar getrennt und gewinnt dadurch etwas, was sich als eine als-ob-eigenrealität bezeichnen lässt:

"Die wichtigste Besonderheit dieses Körpervorgangs vom psychischen Typus liegt wohl darin, daß er subjektive Erfahrungen generiert, die selbst ganz und gar körperliche Vorgänge sind, auch wenn sie niemals als solche erlebt werden, sondern immer nur als nicht-körperliche, als ob sie nicht körperlicher Art wären. Die subjektive Erfahrung täuscht: Als fundamentalste und folgenreichste Täuschung imponiert die erfahrungsmäßige Entkörperung des `Psychischen´, `Mentalen´, `Geistigen´. Diese Entkörperung ist reine Fiktion, sie ist real nicht möglich. Bei diesem fest eingebauten Programmfehler des Psychischen scheint es sich um einen nützlichen, kreativen Defekt zu handeln: Auf der Basis dieses scheinbar entkörperten Prozesses entsteht nämlich die ganze Welt der menschlichen Fiktion mit ihren schier unbegrenzten Möglichkeiten. Auch das Bewußtsein ist ein Teil dieses scheinbar entkörperten fiktiven Gesamtprozesses."

(j. e. mertz, "borderline..."; s.78)


wenn Sie oder ich heute nacht also träumen, wenn Sie sich zufällig gerade mit matheaufgaben herumschlagen oder pläne machen, wie Sie weihnachten verbringen wollen und dafür eine einkaufsliste im kopf zusammenstellen; wenn Sie sich eine phantastische geschichte ausdenken oder aber mit einer grippe flachliegen und im fieber halluzinieren - dann sind das zwar alles anscheinend körperlose vorgänge, sozusagen virtuelle realitäten und teils auch deutliche simulationen - bloß: all diese vorgänge sind real und konkret untrennbar an Ihren körper, besonders Ihr gehirn, Ihre nervensysteme und wahrnehmungsfähigkeiten, gebunden. sie existieren nicht irgendwo "außerhalb" in einer fiktiven imaginären sphäre. das klingt zwar beim nachdenken zunächst banal, ist aber eine realität, die nicht nur die westliche kultur - und da besonders etliche philosophische und auch psychologische strömungen - seit jahrhunderten nicht zur kenntnis nehmen will und in ihren modellen vom menschlichen leben meistens ignoriert. was auch an folgendem liegen dürfte:

"Entstehungsgeschichte und Funktionsmerkmale dieses fiktiven Arbeitsmodus haben womöglich etwas damit zu tun, daß das Gehirn selbst als Organ, das an der Produktion der subjektiven Erfahrung wesentlich beteiligt ist, dem Zugriff eben dieser subjektiven Erfahrung weitgehend entzogen ist: Als subjektive Erfahrungswesen können wir die ureigene körperliche Arbeitsbasis unserer Erfahrunng nicht vollständig wahrnehmen und bleiben diesbezüglich, also beim Versuch einer Selbstreflexion oder Selbstdefinition, immer auf Fiktionen angewiesen. Ein Vorgang, dessen materielle Grundlage nicht unmittelbar erkennbar ist, bekommt in der subjektiven Erfahrung immer eine (zumindest zusätzliche) gespenstische Qualität: Subjektive Erfahrung, die keinen unmittelbaren, d.h. sinnlichen Zugang zu ihrer eigenen körperlichen Arbeitsbasis hat, erfährt sich selbst ganz unvermeidlich als körperlosen Vorgang und muß sich selbst zunächst in solchen Kategorien reflektieren. Das fiktive, d.h. psychische bzw. bewußte Ich erlebt sich immer nur als vollkommen entkörpertes Gespenst, das sich als scheinbar Nicht-Körperliches in Opposition zum scheinbar Nur-Körperlichen (dem entseelten Körper) befindet: Das Psychische als illusionäres Artefakt erzeugt zwangsläufig das illusionäre Artefakt des Nur-Körperlichen. Beides, reine Psyche und bloßer Körper sind realitätswidrige Fiktionen aus der Werkstatt des fiktiven Arbeitsprozesses selbst.

Das Psychische wäre also ein Fabrikat, das keinen direkten Einblick in die Fabrikationsstätte hat, von der es unaufhörlich fabriziert wird. Bildlich: Ein Flugpassagier, der das Flugzeug, in dem er sitzt und das ihn trägt, nicht wahrnehmen kann, muß sich selbst als eine ganz besondere Art von Flugwesen wahrnehmen, als Flugwesen eben, das ohne Flugzeug fliegen kann und nunmehr mit den richtigen Flugzeugen um die Wette fliegt. Jede bewußtseinsorientierte Psychologie sitzt dieser kapitalen, ziemlich verrückten Illusion auf und vervielfältigt nur diesen immanenten Irrtum des Bewußtseins selbst."

(mertz, "borderline..."; s.78)


ich finde diese argumentation ersteinmal plausibel, besonders vor dem hintergrund der bisherigen ergebnisse der neurowissenschaften, aber auch aufgrund meiner eigenen persönlichen erfahrungen gerade mit körpertherapeutischen prozessen. beim näheren nachdenken zwingen sich jedoch unzählige fragen und konsequenzen regelrecht auf, von denen einige auch wieder zurück zum eingangsthema - folter, ihre mediale propagierung und die voraussetzungen dafür - führen werden.

zunächst aber noch dieses: mertz begreift psychotische prozesse - die er in zwei strukturell unerschiedliche formen teilt: eine grundsätzlich autistische form, die unter bestimmten bedingungen durchaus kompatibel mit den jeweiligen, gesellschaftlich produzierten normen der sog. objektiven realität ist, sowie eine schizophrene form, die von der heutigen zuständigen psychiatrie meist alleine als psychotisch gewertet wird, und zwar hauptsächlich deshalb, weil sie ganz offensichtlich bspw. durch halluzinationen nicht kompatibel mit der herrschenden aktuellen realitätsnorm ist (mit dieser postulierung von zwei qualitativ unterschiedlichen psychotischen wegen ähnelt sein modell übrigens auch ähnlichen gedanken bei arno gruen und theweleit) - grundsätzlich als ausdruck einer aus dem gleichgewicht geratenen und sich verselbstständigen objektiven position innerhalb des "menschlichen funktionsganzen". in seinen worten:

"Die Psychose beginnt in der Regel nicht erst mit dem offensichtlichen Wahnsinn, der auffällig störenden Verrücktheit, sondern lange, lange vorher, die Psychose beginnt haargenau als beliebig rationales, im objektiven Sinne beliebig realitätstüchtiges Kontrollbewußtsein, das allerdings in einer funktionalen Monopolposition operiert. Kurzum, der psychotische Prozeß wäre weitgehend identisch mit dem an sich gesunden Prozeß des objektiven Kontrollbewußtseins, das jedoch im Falle einer Psychose aus dem Funktionsganzen ausbricht, sich verselbstständigt und auf das vollständige Subjekt, dem es entstammt und von dem es sich funktional quasi emanzipiert hat, wie auf ein Fremdes, Nichtichhaftes zurückblickt. Das, was den Psychotiker hauptsächlich plagt, quält und verfolgt, ist das vollständige Subjekt, das er (fiktiv) hinter sich gelassen hat."

"Weicht die stets objektive Realitätsbewältigung des Psychotikers von den jeweils geltenden objektiven Realitätsnormen seiner Bezugskultur ab, so gilt er als `verrückt´, gelingt ihm eine flächendeckende Anpassung an die geltenden objektiven Realitätsnormen, so könnte er z.B. die unauffällige Existenz eines theoretischen Physikers führen oder vielleicht sogar durch die Konstruktion einer wissenschaftlichen Theorie, etwa einer Relativitätstheorie, auffallen." (ein deutlicher hinweis auf einstein, der u.a. von temple grandin als aspergerautist definiert wurde; anmerk. mo)

"Den Endprodukten des objektiven Arbeitsmodus ist es prinzipiell nicht anzusehen, ob sie von einer psychotischen oder intakten Person stammen. Es besteht jedenfalls kein grundsätzlicher Unterschied zwischen den Perspektiven einer strikt objektiv operierenden Wissenschaft einerseits, unserem gewöhnlichen objektiven Kontrollbewußtsein anderseits oder der strikten Objektivität des Psychotikers in einer akuten Phase.

Es ist der Psychotiker selbst, der mit seinen auffälligen objektiv abnormen Entgleisungen, die immer innerhalb des objektiven Modus stattfinden (von der objektiven Normkonformität zum objektiven Normverstoß), die verborgene Wahrheit der Wissenschaft und des Alltagsbewußtseins endgültig auffliegen läßt. Der Psychotiker widerlegt die objektive Methode im existenziellen Selbstversuch und am eigenen Leib, er zahlt meist einen hohen Preis für diese endgültige Widerlegung."

(mertz, "borderline..."; s.84/85)


bevor ich nochmals auf die wahrscheinlich für die meisten ungewohnten ansichten eingehe, noch eine anmerkung zur frage, wie vor dem hintergrund des obigen modells dann die subjektivität zu begreifen ist:

"Das authentische (inter)subjektive Geschehen wird jedoch keineswegs von den Gesetzen der Rationalität oder einem objektiven Realitätsverständnis regiert. Trotz fehlender Rationalität im engeren Sinne und fehlender Objektivität muß der subjektive Prozeß dadurch nicht unbedingt ir-rational im weiteren Sinne oder ir-real werden. Der subjektive Prozeß repräsentiert eine ganz eigene, andere Realität, die einer ganz eigenen, `anderen´ Rationalität gehorcht (das, was ich weiter oben als emotionale Rationalität benannt habe, mo)

Diese subjektive Welt kann mit den Mitteln des rationalen und objektiven bzw. objektivierenden Kontrollbewußtseins nicht adäquat erschlossen und auf dieser Ebene nicht angemessen abgebildet werden (...)"

(mertz, "borderline..."; s.83)


so. auch die obigen thesen dürften mit dafür verantwortlich sein, dass dieses buch so hartnäckig ignoriert wird. dabei haben sie durchaus das potential, einige destruktive kulturelle mythen zu zerstören. ich fasse sie nochmals mit eigenen worten zusammen, und möchte auch auf ein paar auf der hand liegende konsequenzen hinweisen.

1. das, was wir als "objektivität" begreifen, ist kein echter gegensatz zur subjektivität, sondern ein funktionaler teil von dieser. wie der effekt dieser scheinbar eigenen und körperlosen qualität der objektiven position wahrscheinlich zustande kommt, ist weiter oben beschrieben.

2. der objektivistische modus ist "für sich" keineswegs krankhaft, sondern ein integrierter teil der menschlichen struktur. er zeichnet sich aus durch die produktion von virtuellen räumen, welche die voraussetzungen für die produktionen von fiktionen, abstraktionen und simulationen bilden. das können sowohl bspw. abstrakte mathematische uind logische gesetze, baupläne usw. einerseits, als auch träume, phantasien aller art, erdachte geschichten, halluzinationen usw. sein (hier leigt imo auch die berühmte bruchstelle zwischen "genie und wahnsinn"). die verschiedenheit der möglichen produktionen macht bereits deutlich, dass es sich hier um eine art werkzeug handelt - und nicht um eine tatsächliche eigene qualität, wie sie etwa die subjektivität darstellt.nebenbei gesagt, dürfte dieser modus auch den entscheidenden unterschied zwischen menschen und tieren ausmachen sowie die dominante position der spezies mensch auf diesem planeten ermöglichen (fähigkeiten wie bspw. die zur kalkulierenden planung sind imo bisher bei keinem einzigen tier beobachtet worden).

3. der objektivistische modus kann nichts "aus sich selbst heraus" schaffen, sondern verwertet für seine produktionen immer den sensorischen input unserer wahrnehmung in all ihren facetten - das bildet selbst dann immer noch die untrennbare körperliche basis, wenn sich dieser modus fiktiv selbstständig gemacht hat. alles, was wir fiktional produzieren können, lässt sich auf existierende phänomene der realität beziehen. und das, was in diesem bereich als kreativität gilt, dürfte sich hauptsächlich auf die fähigkeit beziehen, verschiedene elemente dieser realität in neuer und überraschender weise zu kombinieren.

4. der objektivistische modus dürfte der hauptverantwortliche faktor für die existenz von durch und durch fiktiven göttern, nationen und ähnlichen kulturellen produktionen darstellen.

5. der objektivistische modus ist strukturell eine autistische position, da er funktional mittels mehr oder weniger starker wahrnehmungsreduktion arbeitet, von der besonders die körperlichen wahrnehmungsarten (zb. propriozeption) betroffen sind. die virtuellen räume des bewußtseins müssen mittels focussierung und abziehung der aufmerksamkeit von der dominanten äußeren realität erzeugt werden - die ständig vorhandenen vielfältigen beziehungen des menschen zur welt werden fiktiv aufgehoben. im ungleichgewichtsfall ist er verantwortlich für die extremensten formen zwischenmenschlicher isolation.

6. der objektivistische modus kann vom menschlichen funktionsganzen auch bei der bewältigung gefahrvoller situationen genutzt werden - er unterliegt in solchen situationen normalerweise keiner bewußten kontrolle und arbeitet dabei mit einer enormen geschwindigkeit sowie gesteigerter wahrnehmungsreduktion. das eröffnet eine breite spur zum bereich traumatischer folgen von zwischenmenschlicher gewalt einerseits sowie zur frage, wie sich dieser modus bei ungünstigen pränatalen einflüssen während seiner entwicklung verhält.

7. wenn menschen innerhalb sozialer beziehungen anscheinend zueinander "auf distanz gehen", misstrauen entwickeln oder sonstige störungen auftreten, bedeutet das auch immer eine verobjektivierung der gegenseitigen wahrnehmung, dementsprechung auch eine reduktion von gegenseitiger aufmerksamkeit und empathie sowie eine focussierung auf bestimmte verhaltensweisen und mögliche gefahrensignale. als korrekturinstanz würde dieser modus damit auch die möglichkeit eröffnen, innerhalb von beziehungen auf die berühmte metaebene zu wechseln, um dort mögliche quellen von störungen auszumachen. lösen lässt sich auf dieser ebene allerdings nichts, sondern als nächster schritt muss die rückkehr zur qualitativ anders funktionierenden vollen subjektivität mitsamt der aufgabe von kontrolle (und der wiederkehr von vertrauen) folgen. funktional bedeutet das eine verkleinerung des objektiven modus mit der folge, dass mehr und andere wahrnehmungen zugelassen werden können.

8. innerhalb des objektiven modus lassen sich zwar erklärungsmodelle und simulationen realer vorgänge entwerfen und durchführen, niemals jedoch kann sich tatsächlich echtes verständnis auf dieser ebene entwickeln (und das dürfte selbst für das verstehen von bspw. mathematischen aufgaben gelten). das lässt sich nur mittels der vollen subjektivität mit all ihren wahrnehmungsoptionen erreichen - die berühmte intuition ist u.a. in diesem bereich angesiedelt. ich würde mich hüten, zu den themen dieses blogs zu schreiben, wenn ich nicht ganz persönliche erfahrungen und erlebnisse hinter mir hätte, die mir die hier skizzierten modelle und berichte von anderen in entscheidendem maße verständlich machen würden. ohne diese persönliche basis wäre das hier nichts als eine intellektuelle spielerei.

9. der objektivistische modus kann krankheitswertig entgleiten und funktional hypertrophieren (sich aufblähen). was dann zur folge haben kann, dass a) der eigene körper als "fremd", bzw. als objekt empfunden wird; b) eine extreme wahrnehmungsreduktion v.a. der körperlich basierten wahrnehmungen, die z.b. für die empathiefähigkeiten eine rolle spielen, dauerhaft einsetzt; unter anderem auch wg. dieser reduktion c) die eigenen fiktionen sich als dominant vor bzw. über die realität schieben und im extremfall als äußeres erlebt werden (halluzinationen); und d) das eigene "ich" als pures geistiges und isoliertes gebilde erlebt wird. falls eine oder mehrere der beschriebenen zustände von dauer sind, so ist imo die wahrscheinlichkeit dafür groß, dass beim betroffenen über kurz oder lang eine der hier im blog als beziehungskrankheiten bezeichneten störungen diagnostiziert wird - wenn die betreffende person nicht über große simulative fähigkeiten zur anpassung an den objektiven realitätsbegriff verfügen sollte.

10. es ist meiner meinung nach eine erschreckende wahrscheinlichkeit dafür vorhanden, dass die jahrhundertelange realität traumatischer sozialer gewalt bis heute bei uns allen nicht nur zu der mehr oder weniger starken eben skizzierten entwicklung eines ungleichgewichts zwischen dem objektiven werkzeug und der subjektivität geführt hat - wofür eben auch die auffällige verherrlichung der objektiven position innerhalb der westlichen kultur ein indiz darstellt -, sondern wir auch davon ausgehen müssen, dass es parallel zu einer mehr oder weniger deutlichen schädigung bzw. vielleicht sogar rückentwicklung der qualitativ anderen subjektiven fähigkeiten bei uns gekommen ist. gerade die arten der kinder"erziehung", wie zb. von deMause dargestellt, führen ganz zwangsläufig zu einem mißtrauen gegen die meistens schmerzhaften eigenen authentischen gefühle, gegen die - im kontakt mit machtmenschen meistens schmerzerzeugenden - eigenen authentischen bedürfnisse sowie ganz allgemein gegen die eigenen wahrnehmungsfähigkeiten. letzteres ist im falle von gewalt gegen kinder für diese sogar fast die einzige option, den absolut unerträglichen und nicht zu verarbeitenden schmerzvollenn input zu überleben - eben mittels wahrnehmungsreduktion per dissoziation, derealisierung usw.
(dazu ist ebenso auffällig, dass zb. gefühle in einer vielzahl von fällen tatsächlich sehr verzerrt sein können und sind, viele menschen die existenz von intuition nicht zu kennen scheinen und sogar leugnen etc.etc. woher aber diese verzerrungen stammen können, ist eine frage, über die wir uns schleunigst gedanken machen sollten.)

all das führt in der folge zu einer im wahrsten sinne des wortes ver-rückten weltwahrnehmung. und wenn solche prozesse vorgänge innerhalb einer kultur quasi zum mainstream gehören, bleibt keinerlei ausweichmöglichkeit vor dem schluß übrig, dass wir es in solchen fällen mit einer insgesamt ver-rückten kultur zu tun haben...in der sich dann eben auch verrückte eliten nicht nur als "normal" darstellen können, sondern auch hauptsächlich mit dem eigenen und stellvertretenden ausagieren verrückter bedürfnisse beschäftigt sind.

11. eine ganz persönliche einschätzung: ich halte das gerät, an dem ich und Sie gerade sitzen, für eine fast perfekte materialisation des objektivistischen bewußtseins. ein computer ist a) ein werkzeug; b) ein produzent von virtuellen räumen und simulationen (und zwar ausschließlich); c) arbeitet - ebenso wie das objektivistische bewußtsein unter stress - mit einer enormen geschwindigkeit; d) ist primär eine ordnende maschine; und e) sowohl ohne äusseren input - software, energie - als auch ohne die materielle basis der hardware einfach ein haufen schrott (womit der wesentliche unterschied zum objektivistischen bewusstsein benannt wäre).vor diesem hintergrund wird es besonders interessant sein, sich einmal die schon angedeuteten verbindungen zwischen autismus und computern näher anzuschauen. aber das ist ein zukunftsprojekt.

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das war jetzt ein recht weiter rundblick, der uns am ende aber wieder zum bedrohlichen thema folter führt. wie inzwischen deutlich geworden sein sollte, bestehen jede menge gründe dafür, auch die folter als maßgeblich vom objektivistischen bewußtsein geprägtes mögliches verhalten von menschen anzusehen. ich habe mich in der letzten zeit intensiver mit diversen berichten und analysen zum thema folter beschäftigt, u.a. in bezug auf verschiedene zeiten und epochen: relativ aktuell mit kolumbien, türkei, argentinien, usa, sowie historisch mit nazideutschland und der offen stalinistischen phase der sowjetunion.und dabei sind für mich mehrere strukturen deutlich geworden (und glauben Sie nicht, dass ich beim lesen so kühl geblieben bin, wie es jetzt hier virtuell rüberkommt):

1. die methoden und einstellungen der folterer ähneln sich ebenso weltweit wie die berichte derjenigen, die noch unter der folter zur wahrnehmung ihrer folterer und zur analyse ihrer gefühle fähig waren.

2. die rechtfertigungen der folter seitens der jeweils herrschenden eliten ähneln sich ebenso - primat haben die jeweils aktuellen ideologischen fiktionen. ein beispiel dafür, in dem auch noch staatliche und religiöse fiktion zusammenfließen, aus der türkei - anlässlich eines staatlichen massakers gegen teilnehmerInnen an einer demonstration zum ersten mai 1989, bei dem viele überlebende verhaftete gefoltert wurden, sagte der damalige zweite vorsitzende der damals regierenden "mutterlandspartei", galip demirel, folgendes:

"Sultan Mehmet der Eroberer hat folgendes Gesetz erlassen: `Im Interesse der öffentlichen Ordnung ist der Brudermord heilig.´ Er hat gut daran getan. Das heißt, im Interesse des Staates ist das Töten des Bruders gerechtfertigt und richtig, wie ein Befehl Allahs. Im Interesse der öffentlichen Ordnung ist alles erlaubt. Wenn der eigene Bruder sich gegen die öffentliche Ordnung auflehnt, darf er getötet werden."

(ömer erzeren,"septemberspuren"; rororo aktuell, reinbek 1990; s.39/40; 980-isbn 3 499 127288)


die "öffentliche ordnung", die hier absolutistisch von einem offiziellen vertreter des staates beschworen und über allem - vor allem menschlichen leben - positioniert wird, ist nichts weiter als eine abstraktion - eine abstraktion im dienste der interessen einer kleinen elitären herrschaftsschicht. ich bleibe an dieser stelle bei meiner einschätzung, dass sich solches vorgehen strukturell kein stück von den methoden unterscheidet, die zb. auch die mafia zur aufrechterhaltung ihrer "ordnung" einsetzt - gewalt, mord und einschüchterung.

3. die psychophysische verfassung der folterer hat verdammt viele strukturelle ähnlichkeiten mit dem wissenschaftlich unbeteiligten und objektiven blick, wie er in unserer kultur als "vorbildlich" dargestellt wird. ein interview mit einem ex-folterer in der türkei, welcher 1986 in einer türkischen zeitung über die foltermethoden berichtete (und damit einigen wirbel verursachte), macht das deutlich:

"Es ist die Rede von `Operationstisch´, `Metzgerhaken´, `Technik´, `Verfahren´. Ist die Tätigkeit eines Folterers mit der Tätigkeit eines Arztes - sagen wir eines Chirurgen am OP-Tisch, der einen Nierenstein entfernt - vergleichbar?"

Sedat Caner: "Ja. Der Chirurg hat ein bestimmtes Ziel vor Augen. Um den Patienten zu heilen, entfernt er durch die Operation irgendeinen Teil im Körper. Der Folterer hat auch ein Ziel vor Augen. Der Verhörte ist ein Vaterlandsverräter, ein Schädling. Du mußt ihn zum Sprechen bringen. Aus seinem Mund muß ein Geständnis kommen. In diesem Augenblick ist der Verhörte kein Mensch. So bist du erzogen worden. Der Folterer ist wie ein Roboter. (...)"

(ömer erzeren, "septemberspuren"; s.93)


das ist deutlich genug - "In diesem Augenblick ist der Verhörte kein Mensch", sondern wird in der wahrnehmung des folterers zum objekt verwandelt. der sich bereits vorher ebenso zum objekt ("roboter") verwandelt hat - empathie und mitgefühl mehr oder weniger völlig ausgelöscht. das ist eine elementare vorbedingung dafür, überhaupt foltern zu können. und dieser prozeß ist funktional absolut identisch mit der objektivistischen position, die ein wissenschaftler (und die ihn unterstützenden politikerInnen) bspw. bei tierversuchen einnimmt, und überhaupt bei jeder wissenschaftlich-objektiven beobachtung.

es gibt unter folterern durchaus auch wahrscheinlich gehäuft leute, die selbst nach den mangelhaften modellen der heutigen psychiatrie bspw. als sadistische psychopathen verstanden werden können, die tatsächlich einen lustgewinn aus der folter anderer ziehen. ich habe quer durch die länder und epochen immer wieder berichte von solchen leuten gefunden. die mehrheit der folterer jedoch dürfte eher dem typ eines eichmanns entsprechen - pflichtbewußt, autoritätshörig und hierarchiesüchtig. und extrem objektiv. aber aus dieser relativen "normalität" ist imo keinesfalls zu schließen, dass wir es hier nicht mit einer schweren pathologie zu tun haben. im gegenteil.
wahrscheinlich haben die meisten leserInnen hier schon vom milgram-experiment gehört. weniger bekannt ist ein kleines detail aus diesem experiment:

"Psychosomatische Symptome sind oft die Folge verweigerten empathischen Mitfühlens. (...) Die meisten Versuchspersonen (im Milgram-Experiment) führten die Anweisungen des Versuchsleiters zwar gehorsam aus, hatten dabei aber psychosomatische Symptome wie Zittern, Schwitzen oder auch Krämpfe."

(arno gruen, "der wahnsinn der normalität"; s.62 - siehe literaturliste)


auch der oben zitierte folterer konnte aufgrund verschiedener psychophysischer (ein präziserer begriff) symptome nicht mehr "weiterarbeiten". interessant in diesem zusammenhang ist auch die information, dass von den medizinischen berufen sowohl zahnärzte als auch chirurgen meines wissens nach sowohl eine erhöhte suizidrate aufweisen als auch öfter mit suchtproblemen zu kämpfen haben. der dauernde zwiespalt zwischen schmerzzufügung im zahnarztstuhl, empathie beim aufschneiden von bäuchen sowie der notwendigkeit, eben diese empathie zugunsten eines objektivistischen blickes zeitweise zu reduzieren, macht sich anscheinend auf diese art bemerkbar. so wie die wissenschaftliche position, die die teilnehmerInnen am milgram-experiment in unterordnung unter die "wissenschaftliche autorität" als "notwendig" akzeptierten, mit ihren eigenen empathischen fähigkeiten kollidierte. in solchen situationen jedenfalls scheinen menschen aus kulturen mit einer "wissenschaftlichen" bzw. objektivistischen sozialisation (wobei wahrscheinlich grundsätzlich vorhandene gewaltstrukturen innerhalb einer gesellschaft diese position erst so richtig fördern) dazu zu neigen, dieser position auch die ausdehnung in den bereich sozialer beziehungen zu erlauben - und in diesem bereich hat diese objektivität aber so ziemlich nichts verloren, bzw. sollte dort nur sekundär als möglichkeit zur beziehungskorrektur eingesetzt werden.

der eingangs erwähnte sponautor hat sich bei seiner argumentation jedenfalls die gleiche objektivistische position zu eigen gemacht (die auch die grundlage für die konkrete folter darstellt). und die normalität und gewohnheit eines solchen vorgehens ist es, die absolut besorgniserregend ist.

Freitag, 25. November 2005

basis: borderline 2 - nachträge und ergänzungen

war ja klar, das zu diesem thema noch einiges zu sagen bleibt - was sich auch nach meinen nachträgen zum gestrigen beitrag nicht ändern wird.

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im weitesten sinne zum komplex svv gehört folgende meldung:

"Patientinnen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) fügen sich unter Stressbedingungen typischerweise selbst Verletzungen zu und berichten dabei von reduzierten Schmerzen bis hin zu völliger Schmerzlosigkeit. Diesem Phänomen gingen Forscher um Dr. Wolfgang Greffrath (Johannes Gutenberg-Universität Mainz) und Dr. Christian Schmahl (Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim) auf den Grund: Sie fanden heraus, dass die Schmerzentstehung und -weiterleitung bei diesen Patientinnen völlig normal funktioniert und auch dass die schmerzverarbeitenden Nervenzellen im Gehirn zunächst normal reagieren. "Es muss sich also um einen völlig neuartigen neurobiologischen Mechanismus der Schmerzunterdrückung durch eine aktive Leistung des Gehirns handeln", folgern die Forscher.
(...)
Somit bestätigt diese Studie frühere Befunde einer reduzierten Schmerzwahrnehmung bei Patientinnen mit BPS. Eine generelle Beeinträchtigung der sensorisch-diskriminativen Schmerzverarbeitung konnte jedoch erstmals vollständig ausgeschlossen werden. Die Wissenschaftler folgern, dass das periphere System der Schmerzwahrnehmung sowie die frühe Verarbeitung schmerzhafter Reize im Gehirn bei Patientinnen mit BPS vollständig intakt sein müssen und es sich um einen aktiven Mechanismus der Schmerzunterdrückung durch das Gehirn handelt. "Der Schmerz wird als Ereignis zwar wahrgenommen, aber nicht als schmerzhaft empfunden, das heißt er wird subjektiv anders bewertet", sagte Greffrath."


auf die schlüsse, die daraus gezogen werden, bin ich sehr gespannt.

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thema piercing/tatto: mir ist schon früher dazu eingefallen, dass noch in den 1970er jahren tätowierungen - zumindest in dem mittelstandsbürgerlichen milieu, in dem ich aufgewachsen bin - eindeutig suspekt bis negativ kodiert waren. nämlich a) mit knast und unterwelt, b) mit seefahrer- und hafenmilieu, fließend übergehend zum bild des blutrünstigen tätowierten piraten. als ausnahme kamen noch musikerInnen hinzu. das waren auch unter "uns" jugendlichen damals die verbreiteten assoziationen, und ich kann mich an niemanden erinnern, der/die tätowiert gewesen ist - das hätte sofort einen subtilen, aber deutlichen sozialen druck für die person bedeutet. und piercing war natürlich völlig unbekannt und auch undenkbar.

nun lässt sich eine derartig unreflektierte spontane abwehr durchaus als spießig und reaktionär ansehen, wobei in den bildern zu den milieus, mit denen tattos verbunden wurden, auch ein realer kern drinsteckt. und in der rückschau finde ich es immer bemerkenswerter, wie sich innerhalb von ca. 25 - 30 jahren ein zuvor eindeutig stigmatisierten randgruppen zugeordneter style faktisch zu einem teil des heutigen normalen mainstreams entwickeln konnte. an etwas vergleichbares wie das sich erst in den 1990ern durchsetzende piercing (dessen quelle auch in der s/m-szene liegt), kann ich mich mit einer ausnahme nicht erinnern: und diese ausnahme bilden die durch backen und ohren gezogenen sicherheitsnadeln der frühen punks. ich war zu beginn der 80er jahre kurzzeitig einmal sympathisierend mit den punks, und habe dabei diverse leute kennengelernt, die ich von heute aus als eindeutig gestört ansehen muss - es waren damals bereits die ersten punkgenerationen dabei, richtung sucht - v.a. heroin - abzugleiten.

und wenn ich mir die oben beschriebenen wahrnehmungen so anschaue, beschleicht mich irgendwie ein mulmiges gefühl - ich frage mich, was die verbreitung von mehr oder wenigen rituellen elementen aus knast- und s/m-welten eigentlich tatsächlich bedeutet. womit ich nicht nicht sagen will, dass alle heutigen piercing/tatto-trägerInnen irgendwie als besonders gestört anzusehen seien. nicht gestörter als der rest der gesellschaft jedenfalls.

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ergänzung zum abschnitt über die pränatalen geschehnisse: es muss natürlich nicht unbedingt die erwähnte ablehnung der mutter als grund für pränatale schäden vorhanden sein. ebenso können belastende ereignisse jeglicher art und besonders gewalt gegen die schwangere für ähnliche entwicklungen sorgen.

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und wem die im letzten abschnitt erwähnten thesen von mertz zu den möglichen zusammenhängen zwischen politischer macht und borderline zu weit hergeholt erscheinen (auch vor dem hintergrund der tatsache, dass seine thesen in der "offiziellen" bl-debatte hartnäckig - und zum schaden aller, wie ich finde - ignoriert werden), sei auf folgende passage aus dem vorwort zum handbuch der borderline-störungen (siehe literaturliste) verwiesen - geschrieben von kernberg, dulz und sachsse, denen wohl kaum jemand einen outsider-status unterstellen kann:

"Borderlinestörungen sind Bestandteil gesellschaftlichen Verhaltens, sind ein Zeitthema. Das Thema Borderline geht alle an, schon alleine wegen der daraus resultierenden gesellschaftlichen und individuellen Schädigungen durch Drogendelinquenz, Körperverletzungen, Suizidhandlungen, innerfamiliäre Gewalt und Inzest, um nur einige Aspekte zu benennen, die über das persönliche Leid betroffener Patienten hinausgehen. Wir gehen davon aus, daß
  • Borderline-Störungen durch gesellschaftliche Entwicklungen akzentuiert oder auch gebessert werden.
  • gesellschaftliche Entwicklungen durch Borderline-Persönlichkeiten in leitenden politischen oder wirtschaftlichen Positionen akzentuiert werden (...)"
("handbuch der borderline-störungen"; vorwort s. VI)


nun, das dezent-elegante wörtchen "akzentuiert" kann dabei ruhig als "verschlechtert bzw. massiv zum schlechteren hin beeinflussend" gelesen werden. aber die eloquent formulierenden herren haben natürlich auch einiges an ruf und reputation zu verlieren. inhaltlich jedoch liegen sie vermutlich sehr nah an der realität (wenn dazu noch leute mit narzisstischer ps bzw. narzisstischen tendenzen sowie pure psychopathen berücksichtigt werden), und vor diesem hintergrund erscheinen äusserungen wie die hier zitierte des generalstaatsanwalts von berlin noch einmal eine ganze ecke dümmer und zerstörerischer als sowieso schon.

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und zum vorläufigen schluss noch zwei sätze aus den beiden zeitungsartikeln, über die ich gestern noch lange nachgdacht habe:

"Und eine wachsende Zahl von Eltern ist nicht mehr in der Lage, ihren Kindern die Liebe und Anerkennung zu geben, die ein Mensch zum unbeschadeten Aufwachsen braucht." (zeit)

"Deshalb würden immer mehr Kinder misshandelt oder missbraucht." (taz)


ich frage mich schlicht und einfach - gerade vor dem hintergrund der in der letzten zeit hier näher vorgestellten ansätze von lloyd deMause -, ob diese wahrnehmungen eigentlich zutreffend sind, oder ob sie nicht eher darauf hindeuten, dass bereits seit jahrhunderten bestehende verhältnisse jetzt einfach anders bzw. überhaupt erstmalig breiter wahrgenommen werden. und letzteres wäre - paradoxerweise - überhaupt erst die grundlage für eine sehr, sehr langsam eintretende verbesserung der allgemeinen situation für kinder. verständlich, was ich meine? klar - und das ist hier im blog auch teilweise dokumentiert - existiert heute gewalt gegen kinder in teils unglaublichen formen. aber da das historisch nach psychohistorischer forschung jahrhunderte völlig "normal" war und niemanden interessiert hat, könnte der effekt heute, wo wir das zumindest immerhin in vielen fällen schon realistisch als gewalt wahrnehmen, eben vor einer fiktionalen und so niemals existierenden "besseren" vergangenheit tatsächlich so ausfallen, dass eine verschärfung der situation wahrgenommen wird. obwohl sich die realität langsam diesbezgl. bessert, zumindest in gesellschaftlichen teilbereichen.

soweit erstmal.

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edit am 29.11.: auch die frankfurter allgemeine hat vor zwei tagen einen artikel zum thema borderline gebracht, den ich zur information und unkommentiert hier verlinke.

Donnerstag, 24. November 2005

basis: borderline

da die zeit heute bereits mit dem zweiten artikel zum thema borderline diese woche herauskommt, nutze ich das dann gleich mal für einen schwerpunktbeitrag. dabei wird es mir weniger darum gehen, die an vielen anderen virtuellen stellen zu findenden "offiziellen" informationen hier nocheinmal wiederzugeben - interessierte seien z.b. auf den infoteil der borderline-community (siehe linkliste), die momentanen definitionen der diagnosenklassifikationen (dito) oder auch seiten wie die borderline-plattform oder das borderline-netzwerk verwiesen. zur entwicklung des begriffs und der diagnose gibt es hier eine zusammenfassung.

da ich selbst einige jahre "offiziell" mit dieser diagnose herumgelaufen bin (inzwischen ebenso "offiziell" nicht mehr), etliche gleich diagnostizierte menschen kennengelernt habe und dazu auch noch diverse ansichten und handlungsweisen von psychotherapeutInnen und psychiatrischen ärzten/fachkräften studieren konnte, schreibe ich hier also auch primär vor dem hintergrund eigener erfahrungen und den schlüssen, die ich heute daraus ziehe. der aktuelle artikel sowie ein älterer zweiter, auf den ich später zurückkomme, sind dabei ganz gute aufhänger, um die eben erwähnten schlüsse darzustellen.

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der artikel in der zeit ist dabei einer der wenigen mir bekannten, der sich zumindest bemüht, tiefer ins thema einzusteigen. und dabei aber aus gründen, die ich der autorin weder vorwerfen kann noch möchte, ebenso zwangsweise scheitert wie sogar diverse fachpublikationen.

etliche wichtige themen im bl-kontext werden ohne besondere reihenfolge angerissen - ich halte mich jetzt mal einfach an den artikel.

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"Die Theorie besagt, dass Selbstverletzungen den Betroffenen helfen, eine schier unerträgliche emotionale Spannung abzuleiten. Die Kranken sind gewissermaßen so außer sich, dass sie sich Schmerz zufügen müssen, um in die Gegenwart »zurückzukommen«.

hier hätte es heissen müssen: eine theorie unter mehreren. erstens ist "selbstverletzendes verhalten" (svv) nicht auf borderline beschränkt (auch autistische menschen sowie traumatisierte können dieses symptom entwickeln); zweitens taucht es nicht zwangsläufig bei borderline auf; drittens können die formen stark variieren (das "ritzen" ist dabei in gewisser weise eine der spektakulärsten und zugleich für die umgebung beunruhigendsten arten von svv); viertens sind die zusammenhänge zu - von der form her gleichartigen - initiationsriten anderer kulturkreise sowie die fließenden grenzen in die bereiche von extrempiercing und -tattoing imo noch nicht genügend untersucht; fünftens kann svv durch die eigenart der beteiligten psychophysischen prozesse - u.a. extreme endorphinausschüttung - im strengen sinne des wortes zur sucht werden; sechstens lässt sich das benannte "außer-sich-sein" als dissoziation begreifen; siebentens aber lässt sich auch die frage stellen, ob der begriff selbstverletzung überhaupt treffend ist:

"Im Grunde genommen dürften wir (...) gar nicht mehr von Selbstverletzung sprechen, erstens, weil die Verletzung nur bedingt ein Selbst trifft, sondern eher etwas nicht Ichhaftes (Fremdkörper als Außenweltsegment), zweitens deshalb, weil die vermeintliche Verletzung subjektiv-erfahrungsmäßig meist gar nicht als Verletzung im eigentlichen Sinne beabsichtigt ist und auch nicht so funktioniert, sondern eher wie die Einnahme eines Medikaments oder wie ein psychochirugischer Eingriff. Die angebliche Verletzung des "Selbst" ist ein rein objektiver Beobachterbegriff, der sofort (falsche) Assoziationen aus dem authentischen Erfahrungsspektrum aufruft und dem "auto"-destruktiven Akteur beharrlich übergestülpt wird, auch wenn der Akteur absolut nichts dergleichen im Sinn hat. Subjektiv-erfahrungsmäßig handelt es sich weder um Verletzungen noch um ein verletztes Selbst, sondern um gezielte Interventionen, d.h. regulierende Eingriffe in ein Fremdkörper-Geschehen, d.h. in ein nichtichhaftes Geschehen."

(j.e. mertz, "borderline...", s. 177; siehe literaturliste)


das, was mertz hier abstrakt ausdrückt, können Sie selbst an sich nachvollziehen: stellen Sie sich einfach vor, Sie hätten ein messer oder eine brennende zigarette in der hand und wären dazu aufgefordert, sich jetzt selbst schmerzen zuzufügen. nun? was nehmen Sie wahr? wie fühlt sich diese vorstellung an?

aus eigener erfahrung tippe ich darauf, dass Sie einen mehr oder weniger deutlichen, mehr oder weniger diffusen und primär körperlich fühlbaren widerwillen gegenüber dieser vorstellung wahrnehmen, vielleicht sogar eine art ekel, und das es unmöglich und völlig absurd erscheint, die geforderte aktion auszuführen. meiner meinung nach ist das ein (nicht das einzigste und entscheidende) indiz für psychophysische gesundheit.und macht gleichzeitig deutlich, wie verschoben gewisse verhältnisse und funktionen in der körperpsyche sein müssen, um zu so einem handeln zu kommen. Sie müssen sich tatsächlich in eine fiktive aussenposition jenseits des eigenen körpers begeben, die wahrnehmungsmässig als die "tatsächliche realität" empfunden wird, um den eigenen körper als objekt zu sehen - und derart die eben benannten und (hoffentlich) von Ihnen selbst gespürten widerstände zu umgehen. oder in mertz´scher terminologie: Sie müssen den eigenen körper als fremdkörper empfinden - und sich damit in eine strukturell autistische position der fiktiven körperlosigkeit bringen. ich kann mir keine andere allgemeingültige grundvoraussetzung für derlei aktionen vortellen.die für die betroffenen allerdings tatsächlich sinn machen und erleichternd wirken können. dabei scheint es übrigens weniger auf den reiz an sich anzukommen - einige spezielle borderlinetherapieformen arbeiten mit sog. skills, zu denen auch "ersatzangebote" für svv wie z.b. reizsetzung durch eisbeutel, scharfe gewürze im mund, kalte duschen u.ä. gehören - sondern tatsächlich primär um die tatsache, das eigene blut fließen zu sehen (was insbesondere psychoanalytische bl-professionelle schon zu einigen spekulationen zur symbolik veranlasst hat). das könnte auf eine ins symbolische verschobene re-inszenierung eigener erfahrener traumatischer verletzungen hindeuten, mit dem gleichzeitigen effekt eines entgegenwirkens gegen die damit verbundenen dissoziationen. wie gesagt: könnte.

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weiter im artikel:

"In der medizinischen Diskussion wird die Persönlichkeitsstörung Borderline mit einer ungünstigen Kombination biologischer und sozialer Faktoren erklärt: Wer genetisch vorbelastet ist, als Embryo im Mutterleib durch Alkohol geschädigt wurde und in der Kindheit oder Jugend ein tief verstörendes Erlebnis hatte – sexuellen Missbrauch oder Vergewaltigung –, ist besonders gefährdet. Ähnlich verheerend wie ein sexueller Übergriff können totale Missachtung, Abwertung oder Überforderung von Kindern durch ihre Eltern wirken."

soweit zustimmung, wenngleich ich das als zu einschränkend/ungenau empfinde: die genetische disposition dürfte überhaupt erst durch ungünstige soziale einflüsse aktiviert werden, vielleicht sogar schon pränatal; und ebenso ist pränatal ist nicht nur alkohol, sondern auch z.b. eine die meiste zeit der schwangerschaft dem kind gegenüber ablehnende mutter durch psychophysische beeinflussung z.b. mittels hormonen und neuropeptiden auf den embryo in der lage, psychophysiologische schäden bereits während des wachstums der allergrundsätzlichsten (wahrnehmungs-)fähigkeiten und anatomischen ausstattung zu erzeugen. vielleicht macht das geschehen in der pränatalen phase sogar den grundsätzlichen unterschied zwischen einer posttraumatischen belastungsstörung und borderline aus. beide diagnosen tauchen sehr häufig jeweils als komorbidität der anderen auf, und zwischen psychotraumatologie und bl-forschung ist immerhin seit ein paar jahren ein lebhafter austausch im gange. ich selbst war bis zum letzten jahr ebenfalls dem standpunkt zugeneigt, der da sagt, dass sich letztlich alle bl-diagnosen als besonders schwere und chronifizierte fälle von ptbs herausstellen würden. aber inzwischen denke ich, dass das zwar in etlichen fällen tatsächlich zutreffen dürfte, aber eben nicht in allen. die gewohnheitsmässige psychiatrische vertuschung und individualisierung von durch gesellschaftlich produzierter gewalt erzeugten traumatischen folgen spielt bei diesem ganzen themenbereich eine erschwerende rolle und erhöht die allgemeine konfusion.

"In gewisser Weise hat Borderline die klassische Hysterie als seelische Frauenkrankheit abgelöst; mindestens siebzig Prozent der Betroffenen sind weiblich. Überwiegend tritt die Krankheit oder eine ihrer Vorstufen zwischen dem 12. und 45. Lebensjahr auf; von allen Frauen in dieser Altersgruppe sind laut Schätzungen gut vier Prozent betroffen. Männliche Erkrankte richten ihre Ausbrüche eher gegen die Außenwelt als gegen sich selbst. Sie sind häufiger in Gefängnissen zu finden als in Krankenhäusern – auch wenn ihre Störung die gleichen Ursachen hat wie die der Frauen."

dieser frauen"überhang" ist einer der interessantesten aspekte beim nachdenken über borderline, wie ich finde. und er kann sehr verschieden interpretiert werden - eine eher psychotraumatologische interpretation wäre z.b. die, dass ebenso wie früher die "hysterie" heute borderline die funktion erfüllt, besonders sexualisierte gewalt gegen frauen und mädchen und die daraus entstehenden traumata durch eine diagnostische konstruktion quasi unter den teppich zu kehren. ich denke auch, dass da was dran ist. aber ist das alles? als professioneller outsider in der bl-diskussion schmeisst wieder der herr mertz einige verstörende gedanken in den ring - vor dem hintergrund eigener gedanken zum autonomiebegriff der westlichen gesellschaften allgemein und der westlichen psychiatrie/psychologie im besonderen, den er scharf kritisiert und einerseits als (reale) scheinautonomie (die reale und dauernde menschliche abhängigkeiten permanent leugnet) analysiert und andererseits als (quasiautistische) fiktion bezeichnet, schreibt er zur auffälligen frauenquote:

"Die allgemeine Erwartung geht dahin, daß Frauen im (inter)personalen Feld wesentlich mehr und anderes leisten sollen bzw. "von Natur aus" können (sollen) und wollen (sollen). Dieser immer wieder auch ziemlich konkrete Handlungsdruck, der auf die durchschnittliche Frau ausgeübt wird, trifft die borderlinekranke Frau doppelt.
Einerseits verfügt sie genau in diesem interpersonalen Bereich über keinerlei authentische Fähigkeiten, andererseits wird sie wegen der fehlenden (authentischen) Biographie stark außenorientiert sein und ihren eigenen Persönlichkeits- bzw. Lebensentwurf entlang irgendwelcher, u.U. häufig wechselnder Fremdvorgaben modellieren (externales Korsett). Die borderlinekranke Frau erlebt diese verschärften authentischen Anforderungen konkretistisch, d.h. die Anforderungen werden als eine objektive Aufgabenstellung von quasimaterieller Eindringlichkeit erlebt. Da sie über keine authentischen Optionen verfügt, gerät sie als interpersonal Simulierende unter verstärkten Druck, ihre simulative Kompetenz wird dabei wesentlich heftiger herausgefordert, genauer beobachtet und strenger beurteilt als (...) beim männlichen Borderlineautisten."

(mertz, "borderline..."; s.150/151)


mit anderen worten: die gesellschaftlichen anforderungen an frauen, bei denen die liebes- und beziehungsfähigkeit, empathie und der sinn für´s soziale quasi "naturgegeben" sein sollen, können gerade von bl-kranken frauen (borderline ist ebenso wie andere diagnosen primär als beziehungskrankheit am besten auf den punkt gebracht) aufgrund ihrer defekte nicht erfüllt werden, werden aber bei der eigenen identitätskonstruktion primär verwendet. was sich dann z.b. katastrophal auswirken könnte, wenn eine solche frau ohne reale (emotionale) basis sich die rolle einer mutter anhand rein äusserer vorgaben (muttersein z.b. als unbedingte erfüllung für jede frau) konstruiert - zu lesen ist das in der mitte dieses beitrags. nicht umsonst wird bei misshandelnden müttern öfter die bl-diagnose gestellt.

und die männer? zu denen später.

"In Kiel wie anderswo wird die Diagnose Borderline anhand eines Neun-Punkte-Katalogs gestellt: Panische Angst vor dem Alleinsein gehört dazu, ein düsteres Selbstbild, Selbstmordgedanken und -versuche; schwer kontrollierbare Wutausbrüche, eine Neigung zum verschwenderischen Geldausgeben, Drogen- oder Alkoholmissbrauch, ein Gefühl der Leere – und die gefürchteten »dissoziativen Zustände«, in die Traumatisierte geraten, wenn sie durch einen beliebigen Auslöser an ihr schlimmes Erlebnis erinnert werden. Wer fünf der neun Kriterien erfüllt, gilt als Borderline-positiv.

das starren auf positivistische und objektivierbare symptome also. nicht nur von mertz, auch von anderen autorInnen in der borderlineliteratur wird hingegen auf die wahrscheinliche existenz eines blanden (= frei von massiven symptomen) borderlinetyps hingewiesen, der den psychiatrischen institutionen kaum bekannt wird und sich hingegen aufgrund der massiven unfähigkeit zu authentischen (nichthierarchischen) beziehungen in den heutigen gesellschaftlichen eliten und institutionen mit ihren simulationen von zwischenmenschlichen beziehungen (als-ob) bevorzugt wohl fühlen dürfte. (worin er oberflächlich den echten psychopathen gleicht. aber hier denke ich, dass beides nicht gleichzusetzen ist, auch wenn sich die durch beide gruppen hervorgerufene destruktivität sehr ähnelt. mehr dazu in einem zukünftigen schwerpunkt psychopathie).

der folgende abschnitt macht schlaglichtartig ein paar wichtige strukturen deutlich:

"Dann habe sie Rasierklingen gekauft. »Das war ja auch ein schweres Wochenende für Sie«, sagt die Psychologin. »Was war da passiert?« Melanie K., körperbehindert, vom Onkel sexuell missbraucht, geplagt von inneren Stimmen, die auf sie einbrüllen, erzählt von ihrer Mutter, die sich mit der Krankheit der Tochter nicht abfinde. Von einem nervenaufreibenden Drei-Stunden-Termin mit dem Sozialpädagogen in der betreuten Wohneinrichtung, in die sie nach Ende des DBT-Programms ziehen wird. Von der Beziehung zu ihrem Freund, der Alkoholiker ist.
Der Freund mache ihr Vorhaltungen: Er trinke, weil er durch ihre Krankheit viel allein sei. Bei dem Versuch, mit ihm zu schlafen, fühlte sie sich schlagartig in die Missbrauchssituation zurückversetzt, sagt Melanie K. »Ein Flashback. Es war, als ob ich das alles gerade eben erst durchgemacht hätte.«


erstens wird ein nach meiner persönlichen erfahrung häufig vorhandenes problematisches bis offen schlechtes verhältnis zur mutter sichtbar. zweitens aber wird hier umstandslos von einer "beziehung" geredet - und das könnte hinsichtlich borderline einer der zentralsten irrtümer überhaupt sein, weil "beziehung" erstmal korrekt definiert werden muss, und nicht alleine schon deshalb automatisch vorhanden ist, weil zwei menschen "objektiv" zusammen sind:

"Das DSM-IV betont zurecht die borderlinespezifischen Probleme, die sich im Kontext personaler Beziehungssituationen ergeben. Der diagnostische Kriterienkatalog wird folgerichtig von zwei Beziehungssymptomen angeführt. Kriterium Nr. 2 nennt `ein Muster instabiler, aber intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen, das durch einen Wechsel zwischen den Extremen der Idealisierung und Entwertung gekennzeichnet ist´. Auch diese Definition enthält einen schweren und verhängnisvollen Fehler: Nicht alles, was zwischen zwei Menschen passiert, verdient den Namen Beziehung. Extreme Idealisierung und extreme Entwertung haben mit Beziehungen eigentlich auch nichts zu tun, das sind zumindest massive Beziehungshindernisse, wenn nicht gar deutliche Zeichen dafür, daß eine Beziehung im engeren Sinne eben nicht vorhanden ist. Wenn eine Interaktion zwischen zwei Menschen stattfindet, so heißt das noch lange nicht, daß es sich um eine interpersonale Beziehung im üblichen Sinne handelt: Wir wissen mit Sicherheit aus unserer Alltagserfahrung, aber auch aus wissenschaftlichen und anderen Fremdquellen, daß Menschen keinesfalls zwangsläufig wie Menschen behandelt und Personen nicht unbedingt immer als Personen wahrgenommen werden müssen, daß also zwei Menschen interagieren können und sich dabei womöglich interpersonaler Formen bedienen, in Wirklichkeit aber etwas ganz anderes abwickeln, etwa ein anonymes Geschäft, einen ebenso anonymen bürokratischen oder juristischen Akt oder eine anonyme medizinische Intervention. (...) Das DSM (...) ist stumpf gegen diese fundamentale Differenz (zwischen personaler Beziehung und personaler Nicht- oder Pseudobeziehung), die am Anfang und im Zentrum jeder ernstzunehmenden Psychologie und Psychopathologie steht."

(mertz, "borderline...", s.39/40)


u.a. wegen solcher seitenhiebe wie im letzen satz dürfte dieses buch bis heute von den kollegInnen von mertz in der professionellen zunft totgeschwiegen werden...aber ändert das etwas daran, dass er hier sehr einleuchtend tatsächlich argumente für eine absolut notwendige unterscheidung zwischen simulation und authentizität, zwischen pseudo und echt, zwischen als-ob und lebendig liefert? ist das "objektive zusammensein" zwischen einem mörder/vergewaltiger und seinem opfer, zwischen gewalttätigen eltern und ihrem geprügelten kind, zwischen folterer und gefangenen, zwischen versuchsleiter und versuchsobjekt(!) tatsächlich das gleiche wie ein liebevoller und zärtlicher, solidarischer umgang zwischen menschen, die sich gegenseitig als subjekte wahrnehmen und deshalb ihre gegenseitigen grenzen respektieren können?

natürlich nicht. genausowenig wie die oft zu beobachtenden "beziehungen", die anscheinend durch ein "gleichgewicht des schreckens" funktionieren. ist der oben im zeitartikel skizzierte freund, der der frau die verantwortung für seinen alkoholismus zuschiebt und sich entweder nicht für ihre geschichte interessiert und/oder sie schlicht nicht als person wahrnehmen kann, tatsächlich ein liebevoller freund in einer authentischen beziehung? oder zeigt nicht alleine schon dieser kleine ausschnitt, dass er - wie viele andere männer, aber auch frauen - eher eine selbst konstruierte fiktion in seinem kopf "liebt", die mit der realen frau - die dann nur noch als projektionsfläche bzw. als objekt zur umsetzung der fiktionen herhalten muss - mehr oder weniger nichts zu tun hat? call this objektwahrnehmung. aber die offizielle psychiatrie von heute kennt diese unterscheidung tatsächlich nicht. oder will sie nicht kennen.

weiter im artikel:

"Eine wahre Königin der Finsternis richtet sich selbstverständlich auch ihr WG-Zimmer angemessen ein: mit Fotos von nebligen Friedhöfen und Grabsteinen zum Beispiel, mit schwarzen Kerzen und Kreuzen und anderen düsteren Accessoires. An diesem Punkt wird augenfällig, dass es – nicht im seelischen Kern, aber gleichsam an der Oberfläche der Erkrankung – durchaus einen inszenatorischen Teil gibt, der fließend in »normale« Ausdrucksformen der Jugendkultur übergeht. »Letztlich sind Tätowierungen und Piercings an allen nur denkbaren Körperstellen ja auch nur eine Form der (gesellschaftlich akzeptierten) Selbstverletzung«, sagt Franz Resch, der Chef der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universitätsklinik Heidelberg.
Auf manchem Arm einer Borderline-Patientin sind Schnitte, die durchaus nicht immer schamhaft verborgen werden, säuberlich nebeneinander angeordnet wie ein makaberer Schmuck – kein Zeichen unkontrollierter Raserei, sondern planvolle Zeichnung des Körpers.


yo. und gerade dieser fließende übergang zu den formen "gesellschaftlich akzeptierter" svv muss wachsamkeit erregen - hier scheinen tiefe kollektive strömungen unguter art wirksam zu sein. viele borderlinemenschen werden sich nach meiner eigenen erfahrung vor allem in der sog. gothic-szene, aber auch im punkbereich, antreffen lassen. aber das sind in der mehrheit die auffälligen, an deren symptomen sich eben auch die psychiatrischen institutionen und kataloge orientieren.

der letzte abschnitt des artikel ist imo der beste (mit der einschränkung, dass das unterstellte "verzweifelte bemühen um zuwendung" möglicherweise einen wahrnehmungsfehler enthält):

"Was uns an der Krankheit bewegen muss, ist die Tatsache, dass der Wahnsinn, der unter dieser gestalteten Oberfläche wütet, gesellschaftlich mitverursacht ist. Es gibt Menschen – einen Täter oder ein ganzes Umfeld –, die schuld daran sind, dass andere Menschen so leben müssen: mit zerstörten Gefühlen, mit Selbstverachtung und dem verzweifelten Bemühen um Zuwendung.
Und eine wachsende Zahl von Eltern ist nicht mehr in der Lage, ihren Kindern die Liebe und Anerkennung zu geben, die ein Mensch zum unbeschadeten Aufwachsen braucht. Die Zahl der Borderline-Kranken wird nicht kleiner werden."


*

wir machen einen kleinen zeitsprung zurück zum 30.09.2000. an diesem tag erschien in der taz-hamburg ein artikel zum gleichen thema, den ich aus meinem eigenen kleinen archiv entnommen habe. interessant ist hierbei v.a. die etwas andere inhaltliche gewichtung - auszüge:

"Leben im Grenzland
Immer mehr Menschen sind "Borderliner". Nicht allen von ihnen ist klar, dass sie psychisch krank sind, denn manche scheinen gnadenlos erfolgreich zu sein

Adolf Hitler war wohl einer und Slobodan Milosevic dürfte einer sein: Borderliner sind aber auch ein Drittel aller männlichen Häftlinge, ein Drittel aller Essgestörten und ein Drittel aller Drogenabhängigen, weiß Birger Dulz.
Er ist Oberarzt der vierten Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie im Klinikum Nord/Ochsenzoll, und er ist einer der wenigen Spezialisten, die sich seit vielen Jahren in Klinik und Forschung mit Borderlinern beschäftigen."


zu hitler und der bl-diagnose mehr hier. interessant auch der bezug auf den "gnadenlosen erfolg" in der überschrift.

"Die sind meistens seht gut informiert", sagt Dulz. Die "Grenzgänger" sind schwer zu diagnostizieren, denn ihre Symptome wechseln. Manche von ihnen sind massiv suizidgefährdet, andere drogenabhängig oder essgestört, wieder andere verletzen sich selbst, und manche vereinigen all diese Merkmale auf sich. Es gibt aber auch Borderliner, die erfolgreiche Unternehmer, Politiker, Künstler, Wissenschaftler, Journalisten oder Sportler sind. Häufig sind es exzentrische und extrem leicht kränkbare Persönlichkeiten, die mit Idealisierung und Entwertung arbeiten, die polarisieren, ein extremes Leben führen oder sich aber, sich selbst aufopfernd, um leidende Menschen und Tiere kümmern. Sie scheinen also Menschen zu sein, die etwas aus ihrem Leben gemacht haben.

ein mögliches beispiel?

Der zentrale Faktor bei Borderlinern sei das Schwanken zwischen den Extremen: Sie fänden sich etwa nur richtig klasse oder nur richtig schlecht. Und das kann rasch, sogar innerhalb von Minuten wechseln. "Borderliner führen intensive, aber instabile Beziehungen. Sie teilen die Welt in Gut und Böse ein." Die Welt ohne Grautöne schafft Ordnung, und Ordnung nimmt Angst. Denn das ist das eigentlich bestimmende Gefühl der Borderliner: Eine allgemeine, aber ständig
anwesende Furcht. "Einige kanalisieren sie durch S-Bahnsurfen, andere werden Neonazis", sagt Dulz.


wieder der unbefriedigende beziehungsbegriff. dazu der hinweis auf ein weiteres merkmal: das teils blitzschnelle "umschalten" von gefühlen, dass nur real erlebt in seiner vollen wucht begriffen werden kann. und bei mir zur frage geführt hat, ob das überhaupt tatsächlich gefühle sind, was da umgeschaltet wird. ich kann das jedenfalls nicht, weil ich gefühle und den gesamten emotionalen prozeß bei mir grundsätzlich anders wahrnehme. ich brauche zeit, um rauf- und runterzukommen, sozusagen.

die thematisierte ständige furcht ist sowohl im trauma- als auch im autismuskontext ebenfalls bekannt - das gesamte nervensystem ständig in alarmstimmung.

"Angst aber gibt ein Borderliner nicht unbedingt zu, ist sich ihrer oft nicht einmal bewusst. Er behauptet dann, im besten Glauben, sich vor Nichts und Niemandem zu fürchten. Diese verleugnete und dennoch lebensbestimmende Furcht stammt meistens aus einer Traumatisierung. Viele Borderliner wurden als Kinder vernachlässigt, missbraucht, misshandelt. "Es kann auch an häufigen Krankenhausaufenthalten liegen, wobei als Störungsursache letztlich das subjektive Gefühl, vernachlässigt worden zu sein, eine Rolle spielt."

Dulz bringt den Teufelskreis auf eine Formel: "Wer missbraucht wird, reagiert eher autoaggressiv, wer misshandelt wird, eher fremdaggressiv." Das sei bei beiden Geschlechtern gleich. Weil aber Mädchen eher missbraucht werden, entwickeln sie häufiger Esstörungen oder verletzen sich selbst und landen eher in der Psychiatrie. Jungs werden häufiger misshandelt, werden als Erwachsene gewalttätig und kommen in den Knast. Dort wird ihre Krankheit oft weder diagnostiziert noch behandelt, obwohl bereits nachgewiesen ist, dass ein Drittel aller deutschen Häftlinge Grenzgänger sind. Rückfälle sind somit wenig überraschend."


bei diesen tatsachen wird das repressionsinstrument "knast" noch fragwürdiger als sowieso schon. aber das stichwort "männer" erlaubt mir jetzt auch den oben angekündigten nachtrag der gedanken von mertz zum thema bl-männer (von denen nur ein teil im sinne des aktuellen strafgesetzbuchs auffällig werden dürfte - die anderen werden jetzt thema):

"Der durchschnittliche borderlinekranke Mann dagegen dürfte keine Mühe damit haben, den absolut identischen und gleichermassen massiven Borderlinedefekt in ein anderes externales Korsett (...) derart einzupassen, daß er beinah vollständig zum Verschwinden gebracht wird. Dieses nach wie vor ungemein mächtige, objektiv normative Schema des Männlichen schreibt den Männern ein ganz "natürliches" Defizit im Bereich authentischer Interpersonalität (Beziehung, Empathie usw.) zu und stellt ihnen großzügig dimensionierte (...) Freiräume zur Verfügung, in denen sich v.a. zahllose Borderlinekranke männlichen Geschlechts vollständig unangefochten bewegen und verstecken können. (...)

Diese privilegierten Nischen werden traditionell überall und auf allen Ebenen eingerichtet, in der privaten Sphäre, in den anonymen Mechanismen der Arbeitswelt und auch in den politischen Apparaten. Diese Nischen haben etwas mit Macht; Gewalt und Destruktion zu tun. Gesellschaftliche Macht, egal in welcher Form (Geld, Prominenz, `Erfolg´ usw.) scheint als anonyme "Ersatzwährung" für interpersonale Authentizität (Beziehung) zu fungieren: Je mehr Macht, desto geringer die authentischen Anforderungen der Mitwelt."


(die letzte aussage lässt sich bei betrachtung des verhaltens unserer "eliten" fast schon als faustformel gebrauchen. inzwischen werden aber auch manchmal als-ob-simulationen vom publikum verlangt.)

"In diesen geschlechtspolitischen Nischen, befreit vom Druck gewöhnlicher authentischer Anforderungen, Anstrengungen und Abhängigkeiten, wurden unter anderem auch die Genozide des zwanzigsten Jahrhunderts erfunden und geplant. Außerhalb dieser Nischen würden die Protagonisten viel eher mit ihren massiven authentischen Defiziten oder Defekten (hitler, stalin, pol pot usw., anmerk. mo) konfrontiert und marginalisiert werden" (...)

(beide zitate oben: mertz, "borderline..."; s.151/152)


klaus theweleit hat in den männerphantasien die untersuchten soldatischen männer der präfaschistischen freikorps sinngemäß als für das zivile (authentische) menschliche leben faktisch ungeeignete a-soziale beschrieben, die eigentlich nur innerhalb des starren korsetts der militärischen hierarchien einigermaßen funktionsfähig waren. daraus lässt sich der schluss ziehen, dass der kern von sa und ss von einem ganz speziellen typ borderlinemänner gebildet wurde. eine unschöne vorstellung.
wie sieht das wohl heute mit denjenigen bl-männern aus, die nicht in den knästen landen? und eher als blande bl zu begreifen sind?

*
weiter im artikel:

"Dulz begreift die Arbeit seines Teams als Prophylaxe. "Bis zu 50 Prozent der Opfer werden später zu Tätern." Je schlimmer die Patienten - also die Opfer - gestört sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie ihre eigenen Kinder quälen. Je früher die gestörten Opfer therapiert würden, desto wahrscheinlicher ließe sich diese Zwangsläufigkeit durchbrechen. "Insofern helfen wir Staat und Krankenkassen langfristig, Geld zu sparen. Aber es wird ja immer nur in Jahresbudgets bilanziert", klagt Dulz.

ein mögliches beispiel für das geschilderte ist hier nachzulesen.

"Er ist davon überzeugt, dass Borderline-Störungen sich zu einem Massenphänomen entwickeln, weitgehend unbeachtet von den meisten psychiatrischen Kliniken. "Die Krankenhäuser haben auf Psychotiker gesetzt." Die aber könne man immer besser ambulant therapieren. Doch mehr als ein Viertel aller Patienten in den psychiatrischen Kliniken leiden unter Persönlichkeitsstörungen, die dann häufig falsch behandelt werden. "Weil der Druck in unserer Gesellschaft immer weiter wächst, benutzen immer mehr Menschen Gewalt als Ventil." Deshalb würden immer mehr Kinder misshandelt oder missbraucht"

das sind verdammt beschissene aussichten, wenn ich ehrlich sein soll. auch aus folgendem grund:

"Denn sie vernichten, was sie vernichtet - oder von dem sie glauben, dass es sie vernichtet. "Borderliner haben vor nichts so viel Angst, wie davor, verrückt zu sein."
Aus dieser Angst heraus bedrohen sie beispielsweise ihre Mitpatienten, die schizophren sind oder andere Psychosen haben. Sind sie hingegen unter ihresgleichen, helfen und unterstützen sie sich gegenseitig. "Ihre Umgebung sieht in Borderlinern häufig nur das Aggressive und Destruktive", sagt Dulz.
Dabei seien sie oft charmant, humorvoll und intelligent. "Und wer das nicht sieht, kann Borderliner nicht behandeln."


beim letzten satz sei noch einmal auf den unterschied zwischen simulation und authentizität hingewiesen.

*

so, das ist jetzt sehr lang und sehr viel geworden, und trotzdem nur ein komprimierter ausschnitt. wer mehr wissen will, sei auf die angegebene literatur verwiesen. und zur frage der epidemiologie von borderline und auch anderen hier im blog thematisierten störungen möchte ich mich in einem eigenen beitrag äussern.

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