kontext 22: nörgeleien, betrachtungsweisen und fiktionen

tja, wenn ein autor polemisch sein möchte, und sich über die geschichte der objekte seiner polemik entweder nicht im klaren ist und/oder aber diese noch nie genauer betrachtet hat - dann kann dabei so etwas herauskommen:

"Krankheiten kommen und gehen. Manche verschwinden einfach. So wie die Hysterie, die Ende des 19. Jahrhunderts als nervöses Frauenleiden hoch im Kurs stand. Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, erwarb sich seine ersten Meriten mit den 1895 veröffentlichten „Studien über Hysterie“. Heute ist dieses merkwürdige Leiden praktisch verschwunden, es hat sich aufgelöst wie ein Federwölkchen in der Mittagssonne. Genauso wie einige andere Störungen, etwa die „vegetative Dystonie“ oder die „Neurasthenie“. Hoch im Kurs steht dafür zurzeit das „Borderline-Syndrom“, während die „multiple Persönlichkeit“ schon wieder auf dem absteigenden Ast ist."

lieber herr wewetzer, hiermit möchte ich Sie darüber informieren, dass Sie einem verbreiteten "als-ob"-eindruck aufgesessen sind - bei betrachtung der tatsächlichen verhältnisse ergibt sich bezgl. der oben genannten diagnosen doch ein etwas komplexeres bild:

erstens, die hysterie in der klassisch freudschen-psychoanalytischen fassung hat nach heutigem wissensstand bereits damals schon störungsbilder bezeichnet, die heute entweder unter borderline und/oder dissoziativer persönlichkeitsstörung und/oder posttraumatischer belastungsstörung (da wäre die hysterie als ersatzdiagnose dann eben auch als vertuschungsdiagnose zu werten) und/oder aber der "offiziellen" diagnostischen nachfolgerin der hysterie, der histrionischen persönlichkeitsstörung klassifiziert werden. dazu kommt der aspekt, der beziehungskrankheiten in ihrem erscheinungsbildern so rätselhaft machen kann: die symptome der "klassischen" hysterie enthielten so ziemlich alles, was in den damals herrschenden frauenbildern der bürgerlichen gesellschaft an geschlechterstereotypen zu finden war - ohnmacht, passivität, theatralische gefühle, überdrehte verzweiflung... die gesellschaftlichen veränderungen des frauenbildes berücksichtigend, verwundert es deshalb nicht allzusehr, das heute "dieses merkwürdige Leiden praktisch verschwunden" ist - in der form wie zu freuds zeiten sicherlich.

zweitens, die "vegetative dystonie" war tatsächlich immer eine pseudodiagnose, die - und das finde ich besonders bemerkenswert - faktisch nur in der alten brd während der 1960er und -70er jahre eine rolle gespielt hat - und sonst nirgends auf der welt. seit zehn bis fünfzehn jahren taucht innerhalb derjenigen forscherInnen und praktikerInnen, die sich aus verschiedener perspektive mit dem thema trauma beschäftigen, häufiger die spekulation auf, dass sich hinter dieser "diagnose" tatsächlich in der mehrzahl aller fälle (post-)traumatische störungen aus dem zweiten weltkrieg bei kriegs- und fluchtbetroffenen zivilpersonen in deutschland versteckt haben, die - weil gesellschaftlich tabuisiert - zum zeitpunkt ihres erscheinens nicht offen angesprochenen und erst recht nicht "erkannt" werden sollten und durften (einer meiner engsten verwandten* hatte übrigens auch diese "diagnose", und vor meinen erinnerungen betrachtet, enthält die obige hypothese für mich einigen sinn.)
im zukünftigen basisbeitrag "trauma" werde ich auf die "vegetative dystonie" näher eingehen.

drittens, die neurasthenie lässt sich bis heute noch in der icd finden, in der aktuellsten deutschen version unter f48.0; hatte aber ihre "hochzeit" vor dem ersten weltkrieg (siehe dazu auch zb. das buch "Das Zeitalter der Nervosität" von joachim radkau) und wird meines wissens nach - ebenfalls von minderheitenpositionen innerhalb der medizin- bzw. psychiatriegeschichte - als vorläuferin zweier heute wohlbekannter diagnosen angesehen: einmal dem sog. burn-out-syndrom, zum anderen aber - und das war ebenfalls für mich eine echte überraschung - vom "aufmerksamkeitsdefizitsyndrom" ad(h)s. betrachtet man(n) die relativ unspezifischen (eine gemeinsamkeit mit der hysterie) neurastheniesymptome, und macht sich dazu klar, dass in der vergangenheit unter dieser diagnose hauptsächlich männer erfasst wurden, so legt das die folgenden schlüsse nahe: zum einen, dass es sich hier vielleicht um das "komplementär" zur hysterie ("frauenkrankheit") gehandelt haben könnte, zum anderen aber, dass möglicherweise - gerade bei beachtung der kinderverstümmelnden erziehungspraktiken der damaligen zeit - auch hier von (post-)traumatischen folgen - hauptsächlich eben bei männern - ausgegangen werden könnte, die wiederum durch eine weitere individualisierende diagnose unter wissenschaftlicher mithilfe quasi "vertuscht" worden sind.

viertens stimmt zwar die beobachtung, dass borderline schon seit jahren sozusagen "im trend" liegt - aber dazu sollte auch erwähnt werden, dass die diagnostische konstruktion "borderline" sehr wahrscheinlich nur teilwahrheiten über die dahinterstehende komplexe realität aussagt - mehr dazu lässt sich hier in den entsprechenden beiträgen nachlesen.
die "multiple persönlichkeit" hingegen firmiert heute unter der dissoziativen persönlichkeitsstörung, weist zudem etliche querverbindungen richtung borderline und posttraumatischen störungen auf (klassische komorbiditäten alle drei) und ist meines wissen leider alles andere als "auf dem absteigenden ast".

und während ich mir das alles nochmal so anschaue, kommt mir der gedanke, dass die obigen diagnostischen modelle - fast alle von der zeit ihrer entstehung an bis heute heftig umstritten - vielleicht genau in ihrer wechselhaftigkeit eines der zentralen merkmale von beziehungskrankheiten wiederspiegeln: die gedanklichen konstrukte der diagnosen scheinen ebenso wie die phänome, die sie zur erfassen versuchen, ihre inhalte/identität zu wechseln - und zwar zu einem großteil ebenfalls anhand des jeweiligen kulturellen und sozialen zeitgeistes.

jedenfalls scheinen mir die genannten beispiele nicht besonders tauglich zu sein zur kritik dessen, was der herr wewetzer eigentlich aufs korn genommen hat: das "disease mongering" ist auch nach meinem eindruck durchaus sowohl als problem/ausdruck als auch symptom kapitalistischer logik zu betrachten, und dass die pharmakonzerne - wie alle anderen profitorientierten unternehmen - keinesfalls primär aus humanistischen und altruistischen motiven handeln, ist eine binsenweisheit. aber wie eingangs schon gesagt: etwas mehr könnte - und sollte - sich auch der autor einer polemik mit seinem gegenstand beschäftigen.

(*hier stand ursprünglich ein genauerer begriff, den ich aber aus verschiedenen gründen geändert habe).

***

und wo ich schon gerade mal am herumnörgeln bin, möchte ich das gleich weiter betreiben - der journalist und autor ulf poschardt äußert sich in einem radiointerview zu seinem neuen buch "Einsamkeit - Die Entdeckung eines Lebensgefühl" zu mehreren punkten derart, dass ich heftig widersprechen möchte:

"Was ist für Sie Glück?

Ulf Poschardt: Glück ist der Versuch, seinem Leben beim Gelingen habhaft zu werden. Glück ist trainierbar: aus Erfahrung und Instinkt, Reflexion und emotionaler Balance kann jeder Mensch für sich die richtige Harmonie finden. Glück ist ein dynamisches Konzept: es ist ebenso schnell erkämpft wie verflogen. Glücklich sein zu wollen, fordert den Menschen. Es ist kein Geschenk des Himmels."


*grmpf* managementgeschwätz - glück ist keinesfalls "trainierbar", genausowenig "erkämpfbar" - es ist primär eine wahrnehmung, die gerade dann umso flüchtiger werden wird, je mehr versucht wird, sie bewusst anzustreben. trainierbar sind in einem gewissen sinne höchstens die eigenen wahrnehmungsfähigkeiten. aber was poschardt da sagt, läuft imo lediglich auf die zehntausendste version der alten und üblen ideologie hinaus: "alles ist machbar".

"Der konstruktive Ansatz des Buches versucht, die Traumatisierung der Einsamkeit als Teil seiner mitunter verheerenden Wirkung zu erklären. Indem mein Buch der Einsamkeit ihren schlechten Ruf raubt, eröffnet es neue Chancen. Zudem appelliert es an den unglücklich Einsamen, nicht in Trauer und Selbstmitleid zu versinken, sondern Momente der Einsamkeit als Chance und Glücksfall zu begreifen."

das wörtchen "konstruktiv" ist hier vielleicht als leitfaden zu begreifen - erstens muss meiner ansicht nach deutlich zwischen alleinsein und einsamkeit unterschieden werden - ersteres ist ein eigentlich für uns alle existenziell notwendiger zustand, dessen ausmaß und gestaltung individuell sehr unterschiedlich sein kann. alleinsein ist zur eigenen besinnung und zur eigenen reproduktion unverzichtbar, und ich bin gegenüber menschen, die nicht alleine sein können, recht mißtrauisch - imo verweist eine solche unfähigkeit auf ernste probleme.

einsamkeit hingegen kenne ich selbst genauso gut wie alleinsein, und beides sind - für mich - deutlich unterscheidbare zustände. sie ist von generell schmerzhafter natur - einsamkeit lässt sich imo ähnlich betrachten wie ein hungergefühl: ein mangel ist vorhanden, etwas existenziell notwendiges fehlt - und unsere psychophysische ausstattung lässt uns das über die zugehörige wahrnehmungen spüren. alleinesein kann ich genießen, und ich muss mich dabei keinesfalls einsam fühlen - mit sich selbst gut umzugehen, und die eigene zeit mit sich erfüllend zu gestalten und zu genießen, zeichnet zustände von alleinesein dann aus, wenn ich (mich selbst) gut wahrnehmen kann. oder besser: wenn ich sein kann.

einsam sein hingegen bedeutet, aktuell oder innerhalb beliebiger zeiträume beziehungslos (im weitesten sinne begriffen) zu sein, auch und gerade zu sich selbst (was dann die quasi automatische folge nach sich zieht, auch gegenüber anderen beziehungslos zu sein). und solche momente lassen sich imo keinesfalls als "Chance und Glücksfall" begreifen. ich meine, dass poschardt hier der eben erwähnten verwechslung aufsitzt. wobei: die wahrnehmung von einsamkeit als "chance und glücksfall" lässt sich vielleicht von denjenigen konstruieren (als objektivistische wahrnehmung), für die eine allgemeine und umfassende beziehungslosigkeit eh schon den normalfall darstellt. diese situation kann unter umständen mit diversen fiktionen bzw. simulationen "gefüllt" werden, wie wir gesehen haben. weitergedacht könnte das auch bedeuten, dass die fähigkeit der wahrnehmung von einsamkeit eigentlich etwas positives ist, ließe sie doch den rückschluss zu, dass der wahrnehmende mensch auch schon das gegenteil kennengelernt haben muss. aber vorsicht: auch dieser kontrasteffekt lässt sich vom objektivistischen bewußtsein konstruieren, eine simulative persönlichkeit zb. kann sich aus der objektiven beobachtung dieses kontrastes (anhand von erzählungen anderer bspw.) eben eine genauso objektive nachbildung dieses effektes zusammenbasteln.

weiter im interview:

"Am Ende Ihres Buches heißt es: "Die Unmöglichkeit Liebe zu finden, ist die einzige Entschuldigung für Einsamkeit." Wenn es nun aber jemandem wirklich unmöglich ist, die Liebe zu finden, kann die Einsamkeit dann dennoch ein Lebensgefühl sein, das ein Leben lang beglückend ist?

Das will ich nicht ausschließen. Jeder muss nach seiner Fasson glücklich werden. Mir ging es am Ende nur darum, die Einsamkeit nicht als Lösung aller sozialen Probleme zu überhöhen. Das wäre eine billige Lösung. Weit verbreiteter Autismus führt eine Gesellschaft in den Untergang."


den letzten satz unterschreibe ich - natürlich.

aber ich bezweifle, ob poschardt hier tatsächlich weiß, worüber er eigentlich redet. die einsamkeit als ein "lebenslang beglückendes lebensgefühl" anzusehen, stellt für - wieder in relation - gesunde menschen ein ding der unmöglichkeit dar. stellen Sie sich nur mal vor, Sie würden dazu aufgefordert werden, hunger als "lebenslang beglückendes lebensgefühl" zu betrachten - nichts weiter als eine unverschämte zumutung.

und diese zwanghafte perspektive "jeder muss (!) nach seiner fasson glücklich werden" - schon wieder managementgeschwätz. vor nichts scheint eine gewisse (und gesellschaftlich tonangebende) art von menschen so viel angst zu haben wie vor der erkenntnis, dass eben nicht alles im leben einen guten ausgang nimmt; dass für uns alle grenzen existieren, dass nicht alles machbar und nicht jede existenzielle schädigung korrigierbar ist. stattdessen "sei glücklich!" als quasibefehl. daraus lassen sich zwar fiktionen und simulationen konstruieren, die ein happy-end besitzen mögen - aber mit der realität hat das dann eben nicht mehr eben viel zu tun. es gibt ereignisse und verluste, die nicht oder nur mit schweren konsequenzen zu verarbeiten sind - und gerade die beziehungskrankheiten zeigen das in aller deutlichkeit. ich habe das gefühl, hier will poschardt den "weit verbreiteten autismus" - vermutlich als metapher gemeint, aber eine durchaus treffende beschreibung - mittels empfehlungen zur simulation eher unsichtbar machen.

richtig unsinnig wird es dann spätestens hier:

"Auf das oben genannte Zitat bezogen: Ist Einsamkeit etwas, wofür sich der Mensch entschuldigen muss? Gerade in einer Zeit, in der jüngeren Menschen Bindungs- und Kinderlosigkeit vorgeworfen wird?

Niemand muss sich entschuldigen. Dieses Buch verhindert Stigmatisierung. Der Einsame kann ein künftiger, glücklicher Familienvater sein. Die ewig Einsame eine hervorragende Mutter und Patentante."


schlicht und einfach zu den letzten aussagen: nein. wer beziehungslos ist und das durch die wahrnehmung als einsamkeit "angezeigt" bekommt, kann nur innerhalb von und mittels simulationen ein "glücklicher Familienvater" oder eine "hervorragende Mutter" sein. nicht aber in der realität, in der das gleichzeitige vorhandensein von einsamkeit und authentischer beziehung ein ding der schieren unmöglichkeit darstellt. während das alleine sein innerhalb von authentischen beziehungen, wie schon gesagt, eher als notwendigkeit zu begreifen ist.

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