xconroy (Gast) - 3. Apr, 18:14

So... mal ein Versuch, meine Gedanken zu diesem Text (bzw dieser Textreihe) zu strukturieren:

1.) es ist naheliegend, die Ereignisse "Fukushima" und "Protestwelle" zusammen zu betrachten, es ist nur fraglich, aus welchen Gründen man das tut.
- aus Gründen der "Prominenz" dieser Ereignisse - das kann und tut jede Stammtischdiskussion, einfach deshalb, weil mensch gerne Muster sieht und automatisch Linien zieht zwischen "Dingen" (aka medialen Ereignissen), die aus ihrer Umgebung herausragen. Dabei lassen sich mehr oder weniger tragfeste Sinnzusammenhänge konstruieren... soziale Gruppen, für die bspw. der Tod von "Knut" eine prominente Rolle spielt, schaffen es in ihrer internen Kommunikation ziemlich sicher auch, irgendwelche Anschlußmöglichkeiten an Fukushima zu finden (und sei es nur über einen "Achtsamkeits"-Diskurs und den Verweis darauf, daß Internet/Konsum/Kapitalismus uns vom "Wirklich Wichtigen" entfremden).
- weil man auf einer gewissen Ebene Zusammenhänge entdeckt, die tatsächlich auf eine gemeinsame Wurzel schließen lassen. Dies kann man ziemlich sicher, wenn man das Superereignis "Protestwelle" in seine Bestandteile aufspaltet - die Ereignisse in Tunesien, Ägypten, Syrien, Libyen usw. lassen sich kaum unabhängig voneinander betrachten, und selbst die Arbeiterproteste in den USA oder zukünftige noch zu erwartende Proteste woanders werden zwar ihre spezifischen unabhängigen Wurzeln haben, sich aber in einer Zeit, die Facebook und sonstige Echtzeitvernetzung kennt, nicht mehr "unkontaminiert" von dem betrachten lassen, was offenbar in Tunesien anfing: die Protagonisten entgehen dem Feedback nicht, nutzen es im Gegenteil bewußt aus (--> "walk like an Egyptian"-Plakate). In Vor-Internet-Zeiten waren die Leute viel mehr auf sich selbst zurückgeworfen, zumindest die einfachen Bürger... darum war wohl jedes globale Dingens damals nur unter Federführung von Eliten, Kadern, Internationalen denkbar und nicht auf Graswurzelebene. Das ist neu, das ist geil, hurra hurra die Schule brennt ;-)
- diese Zusammenhänge hast du in der Textreihe mmn außerordentlich scharfsinnig rausgemeißelt. Fukushima kam dann aber dazwischen, also stellte sich die Frage: konservativ vorgehen und die Ereignisse (vorläufig) getrennt betrachten (widerstrebt den meisten Menschen... ich kenne das von mir: wenn ich mit "Tasks" konfrontiert bin, die a) "prominent" erscheinen und viel Aufmerksamkeit haben wollen und b) aber nichts miteinander zu tun zu haben scheinen, dann umkreise ich sie geistig wie ein Schäferhund die Herde und versuche, sie "zusammenzutreiben"/einen gemeinsamen Nenner zu finden, um in der Folge ressourcenfressendes Multitasking vermeiden zu können) - oder einen vielversprechenden Weg suchen, der beides unter einen Hut bringt? Für Letzteres bietet sich der Blickwinkel "Versagen des globalisierten way of life" an und daran anschließende normative Überlegungen (s.o., "Entfremdung vom Wirklich Wichtigen"). Wobei da der Fakt wegfällt, daß die meisten Leute in Japan (bisher) nicht durch Fukushima getötet/verletzt/obdachlos gemacht wurden, sondern durch das Erdbeben und den Tsunami. Dieser Vergleich wäre allerdings schon ein neuer Diskurs, der nicht überraschend gerne in Blogs wie "politically incorrect" geführt wird und den man nicht übernehmen oder einbeziehen muß, dessen man sich aber zumindest aus dem Augenwinkel bewußt sein sollte, wenn man seine Analyse der Ereignisse so ausrichtet, daß als Lösungsmöglichkeit v.a. eine Änderung des besagten "way of life" in den Fokus gerät
(btw. nebenbei interessant, aber auch nicht überraschend ist, daß "Autarkie"- und "Nachhaltigkeits"-Überlegungen durchaus auch bei PI stattfinden, so in Richtung eigenes Gemüse anbauen usw.... dort aber nicht als Reaktionsmöglichkeit auf im weitesten Sinne kapitalismus-induzierte Verhältnisse, sondern auf schräge Endzeitszenarien, in denen der Islam Europa überrannt hat... der dahinterliegende Gedanke einer Gesellschaft, die so weit von ihren "Wurzeln" abgehoben ist, daß ein plötzlicher Fall sehr weh tun würde, scheint aber ähnlich zu sein).

2.) sind die Schlußfolgerungen plausibel, die man ziehen kann, wenn man einen gemeinsamen Nenner gefunden hat? Für mich stellt sich da erstmal die Frage, ob wir es tatsächlich mit einem "tipping point" zu tun haben, wie du ja andeutest, oder einfach nur mit dem üblichen mehr oder weniger zyklischen Auf und Ab der Gesellschaft. Angeblich hat sich schon Sokrates darüber beschwert, daß "die Jugend von heute" usw., und Kritik an Raffgier und Rücksichtslosigkeit läßt meines Wissens kein schlaues Buch der Geschichte aus, von Konfuzius über die Bibel bis zum Kapital. Und es gab Zeiten (im Kalten Krieg, direkt nach 9/11), wo die allgemeinen Befürchtungen, die Menschheit würde sich selber demnächst in die Luft jagen, deutlich präsenter waren als in diesen Tagen, wo also der Gedanke an einen "tipping point" viel stärker in der Luft lag.
Wieso also ausgerechnet jetzt?
Denn: Kriege und Katastrophen kommen und gehen. Meistens funktionieren sie (ist jdf. mein Eindruck) nach einer Art Long-Tail-Prinzip: viel Bohei am Anfang, alle sind irgendwie betroffen (oder "betroffen"), und dann lassen Ereignisdichte und Aufmerksamkeit nach, so daß das Problem als solches sich zwar noch ewig hinziehen kann, aber nur noch ein Bruchteil derjenigen davon etwas mitbekommt, für die es am Anfang nix Wichtigeres gab (bestes Beispiel vllt der Afghanistankrieg). Solche Geschichten leisten zwar, wie alles, ihren Beitrag zur globalen gesellschaftlichen Evolution, aber so richtig, äh, "disruptiv" scheinen sie nicht unbedingt zu wirken. Nicht so, daß eine überwältigende Mehrheit der Leute langfristig dazu gezwungen wäre, ihr tägliches Leben zu ändern, schon gar nicht in Richtung auf "weniger ist mehr". Dazu bräuchte es wohl eine dauerhafte, heißt: nicht zyklisch auftretende und wieder verschwindende Wirtschaftskrise. Aber wo soll die herkommen?

3.) Ob nun akute Krise oder nicht, es gibt immer Leute, die für "Verzicht" werben. Und wie jedes halbwegs standfeste Mem gibts auch dafür bereits ganze Subkulturen, die neueste ist wohl die der Minimalisten ("digital nomads", obwohl: die Gruppen überschneiden sich wohl nur und sind nicht identisch). Die haben regelrechte Wettbewerbe, wer am wenigsten Gegenstände besitzt... und idR sind das Leute, die mindestens Mittelschicht sind, meistens sogar Gutverdiener. Niemand von denen ist *gezwungen*, mit wenig zu leben - gerade deshalb scheint es reizvoll zu sein. Wohingegen Leute, die eh nicht viel haben, berechtigterweise sauer sind, wenn die Sarrazine dieser Welt ihnen arrogant nahelegen, den Gürtel doch noch ein paar Löcher enger zu schnallen.
Soll heißen: wer Verzicht predigt, muß das psychologisch geschickter anfangen - weder Appelle an Moral noch an engere Gürtel sind da hilfreich, weil beide normativen Charakter haben. Die Minimalisten (so freakig die auch sein mögen) ziehen dieses Ding *gerne* und *freiwillig* durch - klar, mit dem Background, daß sie jederzeit zurück können, wenn sie wollen, nur nach einer gewissen Zeit wollen eben viele gar nicht mehr. Ich merk es doch selber... das bekannte befreiende Gefühl, mal so richtig viel Kram losgeworden/weggeworfen/bei ebay verkloppt zu haben.

4.) aber: ist "Verzicht" für breite Bevölkerungsteile derzeit a) nötig und b) möglich? Oder ist das nur (wie gesagt: derzeit) eine von vielen eher nachrangigen Strategien, um mit dem Leben klarzukommen? Für die meisten scheint es derzeit eben *keinen* tipping point zu geben, der sie dazu animieren würde, Dinge komplett umzustellen. Und klar: vernünftig wäre es, auch und gerade in Zeiten nichtvorhandener Notwendigkeit bereits nachhaltig zu leben und zu wirtschaften, um das Auftreten eines solchen tipping points bereits im Vorfeld zu verhindern. Aber auch das steht bereits in den erwähnten schlauen Büchern seit mindestens Konfuzius, es ist also nicht so, daß nicht shcon immer entsprechend gemahnt wurde. Trotzdem ist die Menschheit bis dato klargekommen, auch wenn sie ihre selbstbeschränkenden und altruistischen Fähigkeiten eher in Reaktion als in langfristiger koordinierter Planung eingesetzt hat. Sie zu letzterer zu motivieren braucht es andere Antriebe als moralische Appelle (s.o., Minimalisten).

Das war das Wort zum Sonntag ;)

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