Hallo Monoma, hier wieder ein vertiefter Kommentar. Ehrlich gesagt habe ich trotz ausführlichen Stöberns in Deinen Antworten nirgends etwas "Hartes, Knackiges" gefunden, wo ich wirklich anders drüber denke als Du es beschreibst. Wo Du differenzierst, finde ich das alles plausibel, ich sehe da wenig grundsätzlichen Dissens...
Überall, wo Du noch etwas genauer die Gedanken ausgearbeitet hast, hatte ich beim Lesen den Eindruck: ja, verstehe, worauf Du hinauswillst.
Der Punkt, den man vielleicht noch am ehesten grundsätzlich vertiefen könnte und der sich inhaltlich m.E. auch anbietet, wäre vielleicht die Schnittstelle zu Linehan hin. Hier habe ich aber auch das Gefühl, wenn Du die Ansätze von ihr sorgfältig durchackerst, würdest Du wahrscheinlich zu ähnlichen Eindrücken kommen, wie ich sie hier anzudeuten versucht habe.
Was die Rezeption von Mertz anbetrifft, vermute ich, die "Professionellen" haben vielleicht auch etwas Angst, sich daran die Finger zu verbrennen, oder wollten es vermeiden, nachher endlos lange in einem Atemzug mit Mertz genannt zu werden. In dem Buch gibt es ja so viel Kritik an der Helferzunft, daß dies auch sehr am Ego von Berufstherapeuten o.ä. kratzen mag.
Es gibt ein anderes Buch zum Thema Therapieschäden von einem Autor, dessen Name mir gerade nicht einfällt, ein ziemlich renommierter Fachbuchautor. In einem Interview zu diesem seinen Buch sagte er mal, alle seine Bücher hätten hohe Auflagen erlebt in rascher Folge, nur das Therapieschaden-Buch läge "wie Blei in den Regalen" - gerade 600 Stück habe er davon absolut gesehen verkaufen können, incl. Bibliotheken.
Er meinte dann abschließend in dem Interview sinngemäß: "Die Zeiten, wo die Helferberufe in der Lage sind, ihr Tun professionell zu reflektieren, sind wahrscheinlich noch nicht gekommen".
Ich mußte dabei auch an den Untertitel "Von der Konfession zur Profession" denken - vgl. das Buch zur Therapieforschung von Grawe et. al. Grawe sagte in einem eigenen Interview 2006, er sei sogar körperlich angegriffen worden nach dem Erscheinen seines Riesenwerkes, so hochemotional hätten viele Leute aus dem Berufsfeld reagiert.
Ich glaube, am Lohnenswertesten wäre es also tatsächlich, in unseren derzeitigen Dialog auch die Linehan-Ansätze noch einmal mit einzubauen. Ich glaube, da könnte man am tiefsten schürfen. Die Frage wäre dann für mich z.B., ob Mertz die Borderline-Wirklichkeit eigentlich tatsächlich vollständig abbildet, oder ob er nur einen ins Auge springenden Hauptbereich auseinandernimmt.
Oder anders gefragt: was an Borderline könnte denn authentisch sein? Da würde ich zunächst mal sagen: hochauthentisch sind die immer wieder einschießenden hohen Spannungszustände. Vielleicht werden sie nicht immer sogleich wahrgenommen, oder sie sind sogar so hoch, daß das ganze Fühlsystem kapituliert und stattdessen Dissoziationen oder Taubheit produziert. Aber vorhanden sind sie sicher, auch ganz authentisch angelegt und biographisch sozusagen im Schweiße des Angesichts erworben (diese Formulierung dürfte ja sogar noch untertrieben sein).
So wird auch in vielen anderen Büchern Borderline definiert, im Grunde als Störung der Emotionsregulierung - und über die ständigen hohen Spannungszustände! Eigentlich seltsam, daß Mertz auf dieses Thema der Emotionsregulierung nicht noch viel mehr eingeht.
Bei Linehan finde ich gerade die Beschreibung der Mechanismen, die zur Hochspannung führen, so beeindruckend: immer und immer wieder kann sie es über den Invalidierungsmechanismus beschreiben. Nach allen meinen Erfahrungen trifft das den Nagel punktgenau auf den Kopf. In der Feinanalyse von Verhaltensweisen ist sie meines Erachtens Mertz doch erheblich voraus, so viel Mühe sich Mertz auch mit seinen theoretischen Grundkonzepten gemacht hat, und so scharfsinnig er berechtigte Kritik entwickelt.
Man merkt einfach, daß Linehan so spekulationslos wie nur möglich den Phänomenen nachgeht bzw. nachging, nachdem sie lange Zeit mit chronisch suizidalen Patienten auf einer Station gearbeitet hat.
Wenn nun diese einschießenden Hochspannungen bei Borderline vollauthentisch sind, hat man gewissermaßen eben doch einen Bereich authentischer Ordnung gefunden. Diese Hochspannungen im Invalidierungsmodus erzeugen dann allerdings eine sehr verschobene Wirklichkeit, die eine Person in ein ichfernes, simulierungsnahes Außenbild hineintreibt und schließlich auch zu Innenmechanismen der steten "Selbstinvalidierung" treibt.
Ob das alles wirklich völlig unverrückbar ist, wie ein "prozessuales Standbild" in der Zeit stehen bleibt, oder ob man nicht doch auch als Borderliner authentisches Leben wieder erobern kann, würde ich selber viel erörtern, als Mertz es mit seinen Antworten tut.
Es geht natürlich nur unter bestimmten Bedingungen, einmal möglichst ohne Herrschaftskampf, dann auch nur mit sehr viel validierenden Ansätzen, da die Dauerinvalidierung alle wirklichen Veränderungen blockiert.
Diesen Mechanismus hat Linehan m.E. ganz meisterhaft herausgearbeitet. Die Verhaltenstherapie setzt ja immer wieder bei Veränderungen an, bei der Borderline-Klientel muß das aber schief gehen, wenn es nicht genug Gegengewicht in Richtung Akzeptanz gibt - denn hier hat jeder einzelne Borderliner ein fürchterliches Mißverhältnis autobiographisch angesammelt, davon bin ich ziemlich überzeugt - 5% Akzeptanz, 95% Kritik, Ignoranz, Widerspruch, Abwerten, Zurückweisen, Rechtfertigen, als "falsch" bestimmen, lächerlich machen usw., alles invalidierende Reaktionen, die sich dann unheilvoll immer mehr verdichten und an der Stelle des Selbstkernes angreifen.
Über die Mindfulnes-Konzepte kommt man vielleicht aus diesen unangenehmen Mustern doch schrittweise wieder heraus, wenn auch mit vielen Schmerzen. Ich weiß nicht, ob ich wirklich an den vollauthentischen Defektmodus bei Borderline glauben soll, ich fürchte, Mertz hat einerseits recht, wenn er diese Realtität beschreibt als eine hermetisch in sich gefangene Welt - andererseits hat er wenig zu den Möglichkeiten geschrieben, was ein intelligenter, aufgeklärter Borderliner selber daran ändern könnte.
Dies ist dann m.E. doch ein sehr weites Feld, und man könnte locker ein ganzes Buch dazu zusammentragen.
Viele Grüße an Dich und alle anderen, die hier mal mitlesen! Ubu(e)
Weitgehend d'accord
Überall, wo Du noch etwas genauer die Gedanken ausgearbeitet hast, hatte ich beim Lesen den Eindruck: ja, verstehe, worauf Du hinauswillst.
Der Punkt, den man vielleicht noch am ehesten grundsätzlich vertiefen könnte und der sich inhaltlich m.E. auch anbietet, wäre vielleicht die Schnittstelle zu Linehan hin. Hier habe ich aber auch das Gefühl, wenn Du die Ansätze von ihr sorgfältig durchackerst, würdest Du wahrscheinlich zu ähnlichen Eindrücken kommen, wie ich sie hier anzudeuten versucht habe.
Was die Rezeption von Mertz anbetrifft, vermute ich, die "Professionellen" haben vielleicht auch etwas Angst, sich daran die Finger zu verbrennen, oder wollten es vermeiden, nachher endlos lange in einem Atemzug mit Mertz genannt zu werden. In dem Buch gibt es ja so viel Kritik an der Helferzunft, daß dies auch sehr am Ego von Berufstherapeuten o.ä. kratzen mag.
Es gibt ein anderes Buch zum Thema Therapieschäden von einem Autor, dessen Name mir gerade nicht einfällt, ein ziemlich renommierter Fachbuchautor. In einem Interview zu diesem seinen Buch sagte er mal, alle seine Bücher hätten hohe Auflagen erlebt in rascher Folge, nur das Therapieschaden-Buch läge "wie Blei in den Regalen" - gerade 600 Stück habe er davon absolut gesehen verkaufen können, incl. Bibliotheken.
Er meinte dann abschließend in dem Interview sinngemäß: "Die Zeiten, wo die Helferberufe in der Lage sind, ihr Tun professionell zu reflektieren, sind wahrscheinlich noch nicht gekommen".
Ich mußte dabei auch an den Untertitel "Von der Konfession zur Profession" denken - vgl. das Buch zur Therapieforschung von Grawe et. al. Grawe sagte in einem eigenen Interview 2006, er sei sogar körperlich angegriffen worden nach dem Erscheinen seines Riesenwerkes, so hochemotional hätten viele Leute aus dem Berufsfeld reagiert.
Ich glaube, am Lohnenswertesten wäre es also tatsächlich, in unseren derzeitigen Dialog auch die Linehan-Ansätze noch einmal mit einzubauen. Ich glaube, da könnte man am tiefsten schürfen. Die Frage wäre dann für mich z.B., ob Mertz die Borderline-Wirklichkeit eigentlich tatsächlich vollständig abbildet, oder ob er nur einen ins Auge springenden Hauptbereich auseinandernimmt.
Oder anders gefragt: was an Borderline könnte denn authentisch sein? Da würde ich zunächst mal sagen: hochauthentisch sind die immer wieder einschießenden hohen Spannungszustände. Vielleicht werden sie nicht immer sogleich wahrgenommen, oder sie sind sogar so hoch, daß das ganze Fühlsystem kapituliert und stattdessen Dissoziationen oder Taubheit produziert. Aber vorhanden sind sie sicher, auch ganz authentisch angelegt und biographisch sozusagen im Schweiße des Angesichts erworben (diese Formulierung dürfte ja sogar noch untertrieben sein).
So wird auch in vielen anderen Büchern Borderline definiert, im Grunde als Störung der Emotionsregulierung - und über die ständigen hohen Spannungszustände! Eigentlich seltsam, daß Mertz auf dieses Thema der Emotionsregulierung nicht noch viel mehr eingeht.
Bei Linehan finde ich gerade die Beschreibung der Mechanismen, die zur Hochspannung führen, so beeindruckend: immer und immer wieder kann sie es über den Invalidierungsmechanismus beschreiben. Nach allen meinen Erfahrungen trifft das den Nagel punktgenau auf den Kopf. In der Feinanalyse von Verhaltensweisen ist sie meines Erachtens Mertz doch erheblich voraus, so viel Mühe sich Mertz auch mit seinen theoretischen Grundkonzepten gemacht hat, und so scharfsinnig er berechtigte Kritik entwickelt.
Man merkt einfach, daß Linehan so spekulationslos wie nur möglich den Phänomenen nachgeht bzw. nachging, nachdem sie lange Zeit mit chronisch suizidalen Patienten auf einer Station gearbeitet hat.
Wenn nun diese einschießenden Hochspannungen bei Borderline vollauthentisch sind, hat man gewissermaßen eben doch einen Bereich authentischer Ordnung gefunden. Diese Hochspannungen im Invalidierungsmodus erzeugen dann allerdings eine sehr verschobene Wirklichkeit, die eine Person in ein ichfernes, simulierungsnahes Außenbild hineintreibt und schließlich auch zu Innenmechanismen der steten "Selbstinvalidierung" treibt.
Ob das alles wirklich völlig unverrückbar ist, wie ein "prozessuales Standbild" in der Zeit stehen bleibt, oder ob man nicht doch auch als Borderliner authentisches Leben wieder erobern kann, würde ich selber viel erörtern, als Mertz es mit seinen Antworten tut.
Es geht natürlich nur unter bestimmten Bedingungen, einmal möglichst ohne Herrschaftskampf, dann auch nur mit sehr viel validierenden Ansätzen, da die Dauerinvalidierung alle wirklichen Veränderungen blockiert.
Diesen Mechanismus hat Linehan m.E. ganz meisterhaft herausgearbeitet. Die Verhaltenstherapie setzt ja immer wieder bei Veränderungen an, bei der Borderline-Klientel muß das aber schief gehen, wenn es nicht genug Gegengewicht in Richtung Akzeptanz gibt - denn hier hat jeder einzelne Borderliner ein fürchterliches Mißverhältnis autobiographisch angesammelt, davon bin ich ziemlich überzeugt - 5% Akzeptanz, 95% Kritik, Ignoranz, Widerspruch, Abwerten, Zurückweisen, Rechtfertigen, als "falsch" bestimmen, lächerlich machen usw., alles invalidierende Reaktionen, die sich dann unheilvoll immer mehr verdichten und an der Stelle des Selbstkernes angreifen.
Über die Mindfulnes-Konzepte kommt man vielleicht aus diesen unangenehmen Mustern doch schrittweise wieder heraus, wenn auch mit vielen Schmerzen. Ich weiß nicht, ob ich wirklich an den vollauthentischen Defektmodus bei Borderline glauben soll, ich fürchte, Mertz hat einerseits recht, wenn er diese Realtität beschreibt als eine hermetisch in sich gefangene Welt - andererseits hat er wenig zu den Möglichkeiten geschrieben, was ein intelligenter, aufgeklärter Borderliner selber daran ändern könnte.
Dies ist dann m.E. doch ein sehr weites Feld, und man könnte locker ein ganzes Buch dazu zusammentragen.
Viele Grüße an Dich und alle anderen, die hier mal mitlesen! Ubu(e)