Ubue (Gast) - 30. Apr, 01:40

@ Sansculotte: und die unterdrückte Trauer

Sansulotte schrieb: "Des Pudels Kern, würd ich mal sagen. Du weißt ja auch, dass Gefühle und Haltungen (von "Kognitionen" würde ich in dem Zusammenhang nicht sprechen), die nicht ausgedrückt werden dürfen, also sozusagen nicht in eine fließende Homöostase der Emotionen (da berühren wir die Emotionsregulierung) eingehen, durch gewisse Prozesse, die in den emotionsregulierenden Zentren des Gehirns (Amygdala, limb.System) stattfinden, verallgemeinert und fixiert werden. Das heisst: Wut, die verboten wird, verschwindet nicht so einfach. Sie bleibt bestehen, wird generalisiert und verfestigt."

- überlege gerade, ob ich das weiß, also jeder hat ja so seine eigenen Lieblingsquellen und Lesefrüchte, mir ist das aber auch intuitiv ziemlich klar.

"Noch schlimmer, wenn dann ein "Wut-Tabu" hinzukommt, also der vermeintlich bedrohliche "Rückstau" an Wut noch verdeckt und vertuscht werden muss, weil ihr Ausdruck gesellschaftlichen Sanktionen und Restriktionen unterworfen ist (aus ebendem dem Grund, dass er als "bedrohlich" erlebt wird) - dann wird diese "Emotionsregulierung" wirklich zu einem die gesamte Gesellschaft erfassenden Problem.

- Damit habe ich mich in der Tat auch befaßt. Es scheint mir wirklich haargenau wie Du schreibst zu sein, wobei die Frage ist, wie verbreitet dieses Wissen wirklich ist. Ich würde mal schätzen, vielleicht 20 oder 30 % der Bevölkerung maximal ist sich dessen bewußt, der ganze Rest hat einfachere und oft auch genau umgekehrte und durchaus ungünstige Vorstellungen (nach dem Motto "Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser").

"Ich glaube, wir leben in einer latent wütenden, aber diesen Umstand fast perfekt camouflierenden Gesellschaft."

- Ja, sehr interessante These. Hast Du mal in Sloterdijks "Zeit und Zorn" reingesehen? (oder hieß es jetzt "Zorn und Zeit"?) Da geht er ja systematisch diesen Gedanken nach, spricht von Zornsammelstellen bzw. Zornbanken, in ganz verschiedenen Systemen ähnlich aktiv. Solche "Zornsammelstellen" haben sowohl die Nationalsozialisten im 3. Reich bereitgestellt, als auch die Vereinigten Arbeiterklassen beim kommunistischen Klassenkampf. Wirklich wutentlastet sind wir heute aber auch nicht, wahrscheinlich eher im Gegenteil.

"Die aus unseren gewalttätigen Anfangsbeziehungen herrührende Wut ist dermaßen weit verbreitet und generalisiert, dass sie nicht weiter auffällt: potenziell gefährliches und amokähnliches Verhalten im Straßenverkehr, die brutalen Intrigen im täglichen "Konkurrenzkampf" am Arbeitsplatz, rücksichtsloses Vorgehen in fast allen Lebensbereichen - das alles weist auf eine enorm hohes Niveau an verdeckter Wut hin.

- ja, da stimme ich zu. Es geht dann in dem Wut-Kontinuum bis hin zu den sogenannten "Amokläufen", wozu Monoma ja letztens auch geschrieben hat.

"Was verfestigte, aber camouflierte Wut im einzelnen anrichtet, kann ohnehin bei der bl-Persönlichkeit unverfälscht studiert werden: sie wird zum Wesenskern - d.h. sie bildet den Kern der Persönlichkeit und das einzige, was beim bl mEn authentisch ist, ist seine Wut."

- auch da Zustimmung, vielleicht mit ein bißchen Differenzierung dazu. Es würde mir sicher sehr viel Spaß machen, darüber mal genauer zu diskutieren. Der ganze Wutapparat des Borderliners scheint letztendlich ein sekundärer zu sein, sekundär deshalb, weil diese Wut enorm stark durch Gedankenmuster und gedankliche Annahmen vermittelt wird. Statt diese Wut authentisch zu nennen, würde ich eher sagen, sie ist zutiefst logisch, ich meine damit: sie ist ganz folgerichtig aus den Lebenserfahrungen abgeleitet.

- Genauso könnte man umgekehrt auch sagen, die Wutunterdrückung ist beim Borderliner authentisch, wobei auch hier "logisch" im Sinne von folgerichtig es wohl noch besser treffen würde. Eigentlich funktioniert es doch so: erst kommt die Wutunterdrückung als gelernte Erfahrung, dann kommt es zu immer größeren Spannungsquanten, die einschießen, und dann kommt es zu unkontrollierbaren Wutausbrüchen. Folgerichtig wird nun noch mehr Wert auf Wutunterdrückung gelegt, es kommt zu noch größeren Spannungseinschlägen, und dann zu noch heftigeren Wutausbrüchen. And so on. Der authentische Teil besteht dabei in der natürlichen Neigung zu starken Gefühlen, der aufgezwungene Teil in der Anleitung zum Unterdrücken durch die Umgebung, konsequent über Jahre eingelernt.

"Da sie aber als extrem bedrohlich erlebt wird und selbst das kognitive Gerüst des Betreffenden zu überwältigen droht, wird sie zurückgedrängt, bis nur noch eine kaum wahrnehmbare Irritation übrig bleibt und ihre gewaltige Energie zur Aufführung der zahlreichen Simulationsspielchen des bl genutzt werden kann."

- Wobei es einen interessanten Zusammenhang zur unterdrückten Trauer bei BL gibt, ich glaube hieraus resultiert sogar noch viel mehr Energie als aus der unterdrückten Wut. Wenn man sehr genau hinsieht, scheinen viele der enormen BL-Wutanfälle in Wirklichkeit aus unterdrückter Trauer heraus zu explodieren. Ich bin ziemlich sicher, daß das so ist, oberflächlich sieht es zwar nicht unbedingt so aus, hintergründig scheint es aber genau so abzulaufen.

Ich fürchte, der bl "tut immer nur so als-ob", weil das einzig Authentische in ihm seine überwältigende Wut ist. Ließe sich das nicht auch therapeutisch nutzen?"

- wie meinst Du das jetzt? LG! Ubue

sansculotte (Gast) - 1. Mai, 16:16

Natürlich

ist die Gewichtung auf die Wut etwas einseitig.

Der simulationsdominierte Common Sense fürchtet überhaupt die elementaren Emotionen: Wut, Trauer, Angst - und hat sie allesamt mit Tabu belegt. Denn die Vermeidung dieser elementaren Emotionen hält Herrschaftszusammenhänge und Machtansprüche aufrecht und setzt die Spirale nicht enden wollender Ersatzhandlungen in Gang, die die Menschen so hübsch beherrschbar und ausbeutbar macht.

Gerade zur Trauer fällt mir ein, dass diese Tabuierung eine sehr subtile ist: es ist zwar erlaubt, zu trauern, aber doch nur innerhalb eines sehr eng gewählten Kontexts: so soll es bitteschön nicht zu lange dauern und an der richtigen Stelle und aus den richtigen Gründen muss es auch sein. Und bitte kein Selbstmitleid! (Diese Forderung ist von einer geradezu aberwitzigen Logik: wer, wenn nicht ich selbst, sollte Mitleid haben mit mir?) Dass man Menschen, die einen Angehörigen oder Freund verloren haben, eine Schonfrist von einigen wenigen Wochen eingesteht, wird jeder bestätigen. Aber spätestens nach etwa drei Monaten sollte mit voller Kraft weitergepowert werden, ansonsten hat man ein Problem. Und das Vergießen von Tränen aus den "richtigen Gründen" ist überhaupt eines bizarrsten Kapitel unserer Simulationswelt: so ist es in Ordnung, beim Anblick eines lahmen Fetzen Stoffes, der an einer Eisenstange hochgezogen wird, feuchte Augen zu bekommen, v.a. an bestimmten Tagen und aus gegebenem Anlass, aber wegen körperlicher oder gar "seelischer" Schmerzen zu weinen ist immer noch verpönt und wird "larmoyant" und "wehleidig" genannt. Wie gesagt: bizarr das Alles.

Der Zusammenhang zwischen Wut und Trauer ist tatsächlich ein sehr enger und vielfach übersehener. Wenn ich nun intuitiv und introspektiv argumentieren darf (ohne dass ich diese Vermutungen zunächst durch Wissenschaft stützen kann): nicht das gewünschte Ergebnis zeitigende Wut mündet geradewegs in der Trauer.

Wut ist ursprünglich zielgerichtet und und keineswegs „blind“ oder eine allgemeine Haltung (zu dieser wird sie erst nach endlosen erfolglosen Äußerungen): sie stellt darauf ab, jemand anderen dazu zu bringen, seine Haltung oder sein Verhalten zu ändern. Im trivialsten Fall werde ich wütend, weil der/die andere mich verletzt, und mein Wutausbruch soll den/die ander/n dazu bringen, die verletzenden Handlungen zu unterlassen. Wenn ich scheitere, stellt sich Trauer ein.

Hinzu kommt, dass Menschen vielleicht sogar die Tiere sind, die zur intensivsten Trauer fähig sind. Ich bezweifle keine Sekunde, dass unterstützt erlebte Trauer therapeutisch ist. Wobei ich mit "unterstützt" meine, dass andere auf diese Trauer keineswegs verstört, abwehrend oder auch "aufmunternd" reagieren, sondern ihr respektvoll und verständig begegnen.

Die Frage nach dem therapeutischen Nutzen der Wut hatte einen theoretischen Hintergrund: sie basiert auf der Annahme der Allgemeingültigkeit der Fight-Flight-Reaktion als Antwort auf Bedrohung und Wut ist nun mal ein wichtiger Bestandteil der gelungenen Fight-Bewältigung.

Sry, nächstes Mal mehr. Gruß, s

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