Quirinus (Gast) - 28. Jul, 00:19

Wenn Sie, Herr Miehling,

kein Evangelikaler sind, sondern sogar ein Agnostiker, dann erstaunt es mich umso mehr, daß Sie in Ihren mir bekannten Schriften im Prinzip nichts anderes sagen als das, was jene evangelikalen, stockkonservativen anthroposophischen und auch New-Age-Autorenbehaupten, aus deren Pamphleten Sie so oft zitieren, als handele es sich um seriöse wissenschaftliche Werke. Tatächlich aber handelt es sich, soweit ich diese Veröffentlichungen kenne (und ich kenne einige!), um mehr oder minder wirr geschriebene Pamphlete, worin immer wieder Dinge behauptet werden, die schon längst widerlegt sind, oder Zitate völlig aus dem Zusammenhang gerissen sind, selbstverständlich auch ohne Quellenangabe. Ich verweise nur auf das wirre Machwerk des dubiosen Fernando Salazar Banol. Wer nicht an SATAN glaubt, bevor er es gelesen hat, der glaubt spätestens nach 122 Seiten an jenen Teufel, den auch Sie dem christlichen Abendland austreiben wollen: und hört selbstverständlich, wenn er Stücke wie Stairway To Heaven von Led Zeppelin rückwärts abspielt, genau das, was er hören soll. Haben Sie all diese teuflischen Botschaften auch schon gehört?

Ich habe sie jedenfalls nicht gehört, und der christliche Autor Dierk Heimann hat ebenfalls vergeblich danach gesucht (Backward Masking - Fluch oder Flop? Asslar 1990). Gleichermaßen vergeblich ist jede Mühe, einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Rockmusik und Kriminalität herzustellen, so wie Sie es tun: etwa unter Berufung auf all die Aussagen jugendlicher Straftäter speziell in den USA, wo geschäftstüchtigen Anwälten bekanntermaßen kein Mittel zu primitiv ist, um ihre Klienten und damit auch deren Elternhaus zu entlasten. Aber ist es nicht seltsam, daß gerade in der frömmsten aller westlichen Gesellschaften die Kriminalität am höchsten ist? Wo viel Gott ist, da ist eben auch viel Teufel.

In Ihren Schriften, um darauf zurückzukommen, habe ich genau jenen Teufel oder Ahriman entdeckt, der auch in den Schriften evangelikalter und anthroposophischer Autoren herumspukt; kein Wunder also, daß Sie nicht nur bei mir den Eindruck erweckt haben, als hätten Sie speziell etwas mit den Evangelikalen zu tun, von denen die anthroposophischen Rockmusikgegner ja nur abschreiben, so wie demnächst wahrscheintlich von Ihnen, die Sie wiederum vielen von jenen Autoren abgeschrieben zu haben scheinen, um deren Behauptungen mittels fragwürdiger Interpretationen von allerlei Statistiken mit einem wissenschaftlichen Glorienschein zu versehen. Doch schon die Bezeichnung Gewaltmusik hat nichts mit Wissenschaft zu tun, sondern ist pure Ideologie wie einst das Wort Niggerjazz oder Richard Wagners berüchtigte Schrift Über das Judentum in der Musik.

Was mich betrifft, so stimme ich Ihnen übrigens in manchem zu: z.B. darin, daß es eine Tortur sein kann, mit Musik berieselt oder gar mittels tieffrequenter Bässe und Drumbeats erschüttert zu werden. Doch eine ähnliche Tortur ist es, morgens um 8 geweckt zu werden, weil der Nachbar immer wieder dieselbe Hornsequenz von Mozart übt. Musik wird störend oft empfunden, dieweil sie mit Geräusch verbunden. Kein Wunder also, daß die Versuche, Junkies an öffentlichen Haltestellen mittels klassischer Musik zu vertreiben, so erfolgreich waren. Nur sollten Sie als Gegner der Musikberieselung auch gegen solche Versuche Stellung beziehen - und als Freund der klassischen Musik dagegen, sie zu dem Zwecke zu mißbrauchen, Ihnen und anderen mißliebige Menschen von der Straße zu vertreiben.

Herr Miehling! Hinter der Sachdiskussion, die Sie entfacht haben, steht, so befürchte ich, etwas ganz anderes: nämlich ein Beziehungsaspekt. Deshalb wüßte ich gern, was in Ihrem Leben Sie so dermaßen traumatisiert hat, daß Sie zwecks Rettung des Abendlandes vor dem moralischen Zerfall Maßnahmen fordern, die letztlich auf ein Totalverbot aller Ihnen verhaßten Musikrichtungen hinauslaufen. Das werden Sie mir selbstverständlich nicht verraten, und letztlich geht es mich auch gar nichts an. Doch Sie hat es eben auch nichts anzugehen, welche Art von Musik andere Menschen hören oder sogar selbst produzieren, um diese Welt ertragen zu können. Und Millionen und Abermillionen, ja Milliarden Menschen können unsere Welt eben nur ertragen, indem sie genau die Musik hören, die ihre Erfahrungen und Bedürfnisse auf die eine oder andere Weise reflektiert. Würde man ihnen diese Musik verbieten und sie zwingen, nur noch das zu hören, was Sie für gut und richtig halten, etwa Ihre Kompositionen - dann, ja dann, Herr Miehling: DANN wäre wirklich der Teufel los.

Also machen Sie doch nicht den Taliban, Herr Miehling. Wenden Sie sich wieder der Musik zu, von der Sie wirklich etwas verstehen, anstatt aus Cat Stevens einen Faschisten zu machen. Wobei mir gerade einfällt, daß der im Frühjahr 1967 mal einen kleinen Hit hatte, der zum Thema paßt: I'm Gonna Get Me A Gun. Ja! wieder ein typisches Stück Gewaltmusik, gelle? Nur ist kein einziger Fall eines Jugendlichen oder Erwachsenen bekannt, der dieses recht lauten und schlagzeugbetonten Stücks wegen zur Knarre gegriffen hätte. Im Gegenteil. Diese Art von Musik hat damals Tausende von Jugendlichen davon abgehalten, im Vietnamkrieg unschuldige Menschen abzuschlachten und sich selbst verheizen zu lassen, und sie dazu ermuntert, sich mit der schwarzen Bürgerrechtsbewegung zu solidarisieren. Kein Wunder also, daß die Konservativen in den USA (und nicht nur dort) seitdem ein ganz besonderes Interesse daran hatten, den Rock'n'Roll mit dem Teufel in Verbindung zu bringen. Aber da Sie ein Agnostiker sind, werden Sie ja nicht an den Teufel glauben. Weshalb dann also Ihr Kreuzzug?

Dr. Klaus Miehling - 11. Aug, 17:01

Nur weil jemand Christ oder Anthroposoph ist, muss ja nicht alles falsch sein, was er sagt. Abgesehen davon, dass es auch dort ganz unterschiedliche Einstellungen zu Gewaltmusik gibt.

Selbst der Heavy-Metal Apologet Reto Wehrli leugnet nicht, dass es „Backward-Masking" gibt. Die Wirkung visueller subliminaler Reize ist erwiesen; warum sollten nicht auch auditive subliminale Reize wirken können? Die Frage ist offen. Mir geht es auch mehr um die Intention als um die Wirkung. Was man bewusst hört, ist sicherlich wirkungsvoller.

Wenn die Bezeichnung „Gewaltmusik" „pure Ideologie" ist, dann ist es auch die Bezeichnung „Gewaltvideospiel". Und was heißt hier „hat nichts mit Wissenschaft zu tun"? Begriffe werden immer von Menschen gemacht. Unterhaltungsmusik, populäre Musik, klassische Musik, ernste Musik, das sind alles Bezeichnungen, die ihre Stärken und Schwächen haben. Mit dem Begriff „Gewaltmusik" kommt es mir darauf an, nicht mehr zu verschleiern, dass diese Musik klanglich aggressiv ist und somit das akustische Gegenstück zu Gewaltfilmen und Gewaltvideospielen.

„Kein Wunder also, daß die Versuche, Junkies an öffentlichen Haltestellen mittels klassischer Musik zu vertreiben, so erfolgreich waren", weil Musik „mit Geräusch verbunden"? Glauben Sie, auch Pop- oder Rockmusik würde diese Leute vertreiben? Warum sieht und hört man sie dann mit ihren „Ghettoblastern" herumhängen?

Doch, natürlich geht es uns alle etwas an, wenn Millionen Menschen Musik hören, welche die Wahrscheinlichkeit von Straftaten (nicht nur von körperlicher Gewalt) erhöht, die sich gegen uns richten! Wo ist denn der ganze Werteverlust der letzten Jahrzehnte antizipiert worden? In der Gewaltmusik! Sie vermittelt Kindern und Jugendlichen die Werte fürs Leben. Das sage nicht nur ich, das können Sie in vielen sozialwissenschaftlichen Veröffentlichungen lesen, und das könnten Sie selbst beobachten, wenn Sie Ihre ideologische Brille ablegen würden.

„[...] ist kein einziger Fall [...] bekannt": Vielleicht nicht von diesem Stück, aber von anderen. Beispiele finden Sie in meinem Buch, aber auch in Aufsätzen, die sich jeder von meiner Netzseite herunterladen kann.

Nein, ich glaube nicht an den Teufel, aber ich sehe, dass das Böse Realität ist, und dass es seinen musikalischen Ausdruck in der Gewaltmusik findet. Und Musik ist schließlich, wie der Hirnforscher Eckart Altenmüller sagt, „der stärkste Reiz für neuronale Umstrukturierung, den wir kennen."

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