assoziation: kapitalistischer (und antisozialer*) klartext

ein weiterer, eher spontaner beitrag zum tagesthema hier (welches auch in der nächsten zeit noch raumfordernd sein wird - ich schätze, es werden mindestens noch zwei fortsetzungen in der psychopathie-reihe folgen) - beim eher aus langeweile zustandegekommenen blättern in alten konkret-ausgaben kam mir etwas unter die augen, was bei mir allerhand finstere gedanken ausgelöst hat - und ich sehe überhaupt nicht ein, warum ich mich alleine damit herumplagen sollte.

*

haben Sie schon mal den namen paul c. martin vernommen? nein? macht auch nichts weiter - das wissenswerte steht im wiki-link, und mir war der name vor heute abend auch nur vage durch den "bild"-"zeitungs"-kontext im gedächtnis. was bei wikipedia allerdings so unter dem wort "kolumnist" verbucht wird, lässt sich konkreter fassen: herr martin hat zumindest zeitweise auch im "penthouse" kolumnen verfasst. und eine davon ist in der ausgabe 1/1993 von konkret auf s. 61 dokumentiert - die kolumne dürfte ende 1992 im original erschienen sein, ist aber trotz ihres fortgeschrittenen alters von zeitloser und wünschenswerter klarheit, wobei der text auch von jedem anderen tatsächlich überzeugten anhänger von freedomanddemocracy verfasst sein könnte, der über den nötigen zynismus verfügt - bitte sehr:

"Nicht daß Sie glauben, ich scherze: Die größten Profite, die nach dem Zweiten Weltkrieg überhaupt mit Aktien zu erzielen waren, von denen haben Sie noch nie etwas gehört. Es war das `Doppel-Plus mit dem Doppel-P´: Das sensationelle Geld, das die Herren Papadopoulos und Pinochet den Anlegern bescherten. Papadopoulos war jener griechische Putschist, der 1967 Panzer auffuhr und für Ruhe, Ordnung und ein Rechtsregime sorgte. Pinochet ist jener chilenische Putschist, der im September 1973 den Sozialisten Allende zum Abgang per Suizid zwang.

Die Börsen von Athen und Santiago erlebten daraufhin Orgasmen. Die Kurse selbst der obskursten Nebenwerte explodierten. Vierfaches, achtfaches, selbst zwanzigfaches Geld war an der Tagesordnung. Und jeder durfte ganz dabeisein. Denn selbst der Kleinsparer Obermoser aus Hinterpfaffenhofen hätte aus zehn Mille hart Erspartem 100.000 Mark oder auch das Doppelte machen können - und das vollständig ohne Risiko. Es gibt auf der Welt keinen sichereren Aktientip als ein Militärregime, ein `rechtes´ notabene. Wenn die Linksoppositionellen im KZ verschwinden, wenn Schweden die diplomatischen Beziehungen abbricht und wenn der Heimatdichter aus den Slums der Hauptstadt den Nobelpreis für Literatur erhält, Anleger, dann ist das Eure Stunde.

Bitte jetzt nicht komisch werden. Gefühle haben an der Börse nichts zu suchen und mit Geldverdienen nichts zu tun.

Legen Sie sich auf Wiedervorlage, wann immer die Zeitungen über einen Rechtsruck jammern, über einen Militärputsch gar. Es genügen auch schon Überschriften wie `Demontage des Sozialstaats´ oder `Streik abgebrochen´ oder auch nur `Umverteilung von unten nach oben´ und `Ellenbogengesellschaft´. Wo immer man wieder starke Schultern aufrecht tragen kann, wo es wieder zackig wird, wo die Worte `Arbeit´, `Leistung´ und `Gewinne´ wieder Klang erhalten, da liegt die Börse richtig.

Wo immer sich die Weltgeschichte hinbewegt, das oberste Prinzip für alles Investieren kann nur lauten: dorthin gehen, wo das Kapital noch sicher ist, dorthin, wo es Geld verdienen kann, verdienen darf."


...

die kriterien der aktuellen icd-10 für die antisoziale bzw. dissoziale persönlichkeitsstörung lauten wie folgt:

F60.2 Dissoziale Persönlichkeitsstörung

Eine Persönlichkeitsstörung, die durch eine Missachtung sozialer Verpflichtungen und herzloses Unbeteiligtsein an Gefühlen für andere gekennzeichnet ist. Zwischen dem Verhalten und den herrschenden sozialen Normen besteht eine erhebliche Diskrepanz. (was, wie schon heute nachmittag erwähnt, dann ein problematisches kriterium wird, wenn die herrschenden sozialen normen selbst bereits soziopathische züge aufweisen, anmerk. mo) Das Verhalten erscheint durch nachteilige Erlebnisse, einschließlich Bestrafung, nicht änderungsfähig. Es besteht eine geringe Frustrationstoleranz und eine niedrige Schwelle für aggressives, auch gewalttätiges Verhalten, eine Neigung, andere zu beschuldigen oder vordergründige Rationalisierungen für das Verhalten anzubieten, durch das der betreffende Patient in einen Konflikt mit der Gesellschaft geraten ist.

und zum begriff der soziopathie, der den gleichen defekt (das wort benutze ich hier ganz bewusst) bezeichnet, lässt sich folgende - und imo treffende - zusammenfassung bei wikipedia finden:

"Seitdem gilt der Begriff für die neuropathologisch bedingte Unfähigkeit, soziale Kompetenzen wie Mitgefühl, Einfühlungsvermögen und Unrechtsbewusstsein zu entwickeln."

frage: schafft der kapitalismus den soziopathen, oder schafft sich der soziopath im kapitalismus das ihm adäquate (und am besten angepasste) sozioökonomische system? oder ist es eine art dialektisches wechselspiel?

haben Sie übrigens schon den hier früher empfohlenen film the corporation gesehen?

*edit am 04.03: tja, da ist mir das gestern erwähnte begriffswirrwarr selbst auf die füße gefallen (nicht das erste mal) - so wird zwar im psychiatrischen mainstream eben das wort soziopathie als synonym für die antisoziale ps genutzt (während die psychopathie noch darüber hinaus teils als synonym für so ziemlich alle persönlichkeitsstörungen fungiert) - während ich aus gründen, die teils bereits in den gestrigen beiträgen schon enthalten sind, den ansatz plausibel finde, der die psychopathie als abgrenzbare und eigenständige untergruppe der antisozialen ps ansieht. wobei es vielleicht zu überlegen ist, ob dem begriff soziopathie nicht eher der vorzug zu geben ist: einmal ist die historie dieses wortes nicht ganz so belastet, zum anderen aber stellt sie die besonders frappierende und ausgeprägte eigenschaft des gesamten antisozialen spektrums in den vordergrund, nämlich das leiden lassen der sozialen umwelt unter dem ausagieren der eigenen störung, während das wort psychopathie eher den individuellen aspekt hervorkehrt - und damit auch die assoziationen zu sehr auf diesen aspekt lenkt, unter vernachlässigung des beziehungsgefüges.

ob also die oben zitierte kolumne im strengen sinne innerhalb eines soziopathischen kontextes zu verstehen ist, lässt sich schlicht und einfach nicht belegen - hingegen gibt es imo genügend gründe dafür, die aussagen des textes als deutlich antisozial zu sehen, selbst nach dem zugehörigen diagnostischen modell. und auch, wenn sich viele indizien dafür finden lassen, innerhalb kapitalistischer strukturen tatsächlich gehäuft personen mit sozio-/psychopathischer struktur zu vermuten, so geht doch das reale antisoziale verhalten (und die zahl der derart agierenden) aller wahrscheinlichkeit nach weit über das vorkommen der echten soziopathen hinaus. was dann eben auch die strukturellen eigenheiten des kapitalismus sozusagen ins rechte licht rückt - und genau das ist u.a. eben auch thema des oben empfohlenen films.

anders: um antisozial zu handeln, muss ich kein sozio-/psychopath im bisher skizzierten sinne sein - dazu reicht eine chronische funktionelle dominanz des objektivistischen modus aus, die in bestimmten formen irgendwann unweigerlich zu ähnlichen einbußen an empathie und sozialem verhalten führt, wie es bei soziopathen als prägende und neurophysiologisch basierte eigenschaft zu beobachten ist.
monoma - 17. Mai, 18:52

in zusammenhang mit diesem thema...

...liegt eigentlich eine nähere beschäftigung mit dem konstrukt des homo oeconomicus nahe, die als idee schon lange in meinem hirn kreist - aber auch dieses projekt gehört leider zu den aufgeschobenen. was Sie nicht abhalten sollte, einen blick auf einen artikel bei perspektive 2010 zu werfen, der sich genau damit beschäftigt: homo oeconomicus: der soziopath als ideal.

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