kontext 24: neues zu borderline und svv - und etwas über simulationen und identitätsklau

im november letzten jahres wurde hier in einem beitrag u.a. über das reduzierte schmerzempfinden bei menschen mit borderline-diagnose und "selbstverletzendem verhalten" (svv) berichtet. zu diesem phänomen liegen nun neue forschungsergebnisse vor:

(...)"Patientinnen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) fügen sich typischerweise selbst Verletzungen zu, so z.B. schneiden oder brennen sie sich oder schlagen mit dem Kopf gegen die Wand, und berichten dabei von reduzierter Schmerzwahrnehmung bis hin zu völliger Schmerzlosigkeit. Das Forscherteam um Schmahl und Greffrath hatte in einer früheren Arbeit (PAIN 2004; 110: 470-479) gezeigt, dass jedoch die Schmerzentstehung und die Schmerzweiterleitung bei diesen Patientinnen völlig normal funktioniert und auch, dass die schmerzverarbeitenden Nervenzellen im Gehirn der BPS-Patientinnen zunächst noch normal auf schmerzhafte Reize reagieren. Die Wissenschaftler hatten daher gemutmaßt, dass somit im Gehirn dieser Patientinnen die Entstehung von Schmerzempfindungen aktiv unterdrückt werden müsse.

Der Aufklärung der zentralnervösen Hintergründe dieses ungewöhnlichen Phänomens sind die Forscher nun einen großen Schritt näher gekommen. Sie untersuchten aktuell in Kooperation mit Erich Seifritz (Universitätsklinik für Psychiatrie, Bern) und weiteren Arbeitsgruppen aus Deutschland, Italien und der Schweiz, wie sich die zentralnervöse Verarbeitung von Schmerzreizen im Gehirn von Patientinnen mit BPS von der bei gesunden Versuchspersonen unterscheidet. Hierfür wurden sowohl objektiv identische als auch subjektiv gleich schmerzhaft empfundene Hitzereize auf den Handrücken der Versuchspersonen gegeben. Die Schmerzhaftigkeit wurde von den Teilnehmerinnen subjektiv bewertet während - mittels funktioneller Bildgebung in der Kernspintomographie - Hirnareale identifiziert wurden, die der Erkennung, Verarbeitung und Bewertung dieser Schmerzreize dienen."(...)

"Der dorsolaterale präfrontale Kortex, ein Hirnareal, das der kognitiven Schmerzbewertung dient, zeigte unmittelbar nach der Hitzereizung bei den Borderline-Patientinnen eine erhöhte Aktivität gegenüber Gesunden. Nachfolgend wurde in der Hirnrinde des vorderen Cingulums und in der Amygdala der Patientinnen die Aktivität deutlich reduziert - diese Hirngebiete sind dafür bekannt, dass sie der affektiven Bewertung von Schmerzreizen dienen. Dies legt den Schluss nahe, dass bei den Patientinnen mit Borderline-Störung eine erhöhte kognitive Kontrolle zu einer niedrigeren affektiven Schmerzbewertung führt und damit zur Schmerzunempfindlichkeit. Man kann vermuten, dass starke Schmerzreize zu einer Beruhigung von Hirnsystemen führen, die für die Verarbeitung von starken Emotionen verantwortlich sind.

Selbstverletzungen bei Borderline-Patientinnen können also in gewisser Weise als ein Selbstheilungsversuch angesehen werden. "Somit verfügt unser Gehirn offensichtlich über sehr effektive neuronale Netzwerke zur Unterdrückung von Schmerzen. Wenn wir diesen Mechanismus genauer verstehen, können wir möglicherweise in Zukunft von den Borderline-Patientinnen lernen, wie wir chronischen Schmerzpatienten besser helfen können", so die Autoren."(...)


was könnte nun eigentlich der begriff der "kognitiven kontrolle" in diesem zusammenhang bedeuten?

"Kognitive Kontrolle

- wird dann ausgeübt, wenn eine Person durch eine kognitive Strategie die wahrgenommene Aversivität eines Ereignisses reduziert

- Strategien sind: Ablenkung, Konzentration auf die positiven Aspekte eines Ereignisses, Uminterpretation des Ereignisses als harmlos, Einnehmen einer sachlich-analytischen Position, Sinnverleihung etc.

- hat fast ausschließlich positive Auswirkungen auf die antizipatorische Erregung als auch auf die empfundene Aversivität der
Stimuli (Thompson, 1981)

- bessere Noten bei Schülern, die Strategien wie Intellektualisierung, Isolation, Verneinung oder Rationalisierung anwenden

- elektr. Schläge werden als weniger belastend empfunden, wenn diese als interessante Erfahrung eingestuft werden, und Ruhe und Uninvolviertheit empfohlen wurde

- weniger Schmerzmittel und weniger Streß bei Operationspatienten, wenn diese vorher beruhigende Selbstgespräche, kognitive Uminterpretationen oder Ablenkungs- und Selbstbewältigungsstrategien durchführen konnten"

(quelle)


"Uminterpretation, Einnehmen einer sachlich-analytischen Position, Konzentration, Intellektualisierung, Isolation, Rationalisierung" - wenn Sie in diesem blog häufiger zu besuch sind, wird Ihnen wahrscheinlich recht schnell die assoziation zum bereits oft erwähnten objektivistischen modus gekommen sein. tatsächlich stellen die obigen attribute allesamt kennzeichen dieses modus dar, der zur menschlichen grundausstattung gehört und beim "korrekten" funktionieren als werkzeug innerhalb einer voll entwickelten und primär in der ganzkörperlichen (selbst-)wahrnehmung verankerten subjektivität zur verfügung steht. wie am aspekt der schmerzunterdrückung/verringerung zu sehen ist, kann er dabei wertvolle und durchaus sinnvolle dienste leisten. zum problem - und das wurde hier in vielen beiträgen zu den verschiedenen beziehungskrankheiten wiederholt skizziert - wird er dann, wenn er durch verschiedene mögliche pathogene (z.b. traumatische) einflüsse "entgleist" ist (was vermutlich in ganz unterschiedlichen entwicklungsphasen geschehen kann, bspw. bereits pränatal) und in der folge die gesamte subjektivität dominiert.

aus dieser sicht betrachtet, sprechen also die oben skizzierten neuen erkenntnisse meiner meinung nach für das modell des außer kontrolle geratenen objektivistischen modus. vielleicht lässt es sich so ausdrücken: beim svv steht der sich quasi fiktiv verselbstständigende objektive modus dem eigenen körper in deutlicher distanz gegenüber, dessen affektive wahrnehmungen (emotionen) als zu unerträglich empfunden werden. das sozusagen in diesem fall "überbewusste" (objektive) bewusstsein arbeitet dabei mit den typischen strategien der wahrnehmungsreduktion, wie konzentration, rationalisierung, isolation. ich vermute, dass sich diese "überbewusstheit" (verrückte objektivität, fiktive/virtuelle "realität") sogar zumindest in einzelnen situationen in einem deutlich tranceartigen zustand ausdrückt - der aspekt der dissoziation sollte hier nicht in vergessenheit geraten.

wie gesagt, steht dieses objektive werkzeug uns allen zur verfügung. entscheidend ist aber, wie das verhältnis dieses werkzeugs zur subjektivität aussieht. und diesbezgl. sind die beziehungskrankheiten die nachdrücklichste manifestation dessen, was eine krankhafte verschiebung dieses verhältnisses sowohl individuell als auch gesellschaftlich für katastrophale folgen haben kann.

das svv auch "in gewisser weise als selbstheilungsversuch" angesehen werden kann, stellt dabei keinesfalls einen widerspruch dar. das menschliche "funktionsganze" ist in dieser hinsicht sehr einfallsreich, wenn es um das eigene überleben geht. das große problem dabei ist nur, dass viele wege zu diesem ziel offensichtlich dysfunktional sind - auf dauer scheiternde versuche der selbstrettung (wenn denn überhaupt ein selbst im üblichen sinne vorhanden ist - daran gibt´s ja bekanntlich so einige zweifel, siehe die "als-ob-persönlichkeit").

da svv ja auch bei autistischen menschen und bei traumabetroffenen auftauchen kann, wäre ein neurophysiologischer vergleich vermutlich sehr aufschlußreich - die nicht wahrgenommenen eigenen körpergrenzen mittels direkter physischer manipulation spüren zu wollen, scheint mir ein einleuchtender erklärungsansatz für das svv im autistischen spektrum zu sein. ebenso wie das bild im traumakontext, quasi mittels eines "gegenfeuers" zu schmerzhafte gefühle aus der eigenen wahrnehmung zu verbannen. ob es dabei relevante unterschiede oder gemeinsamkeiten (von denen gehe ich persönlich aus) in den beteiligten neurophysiologischen mechanismen gibt, dürften entsprechende forschungen für das verständnis dieser zustände sehr hilfreich sein. falls Ihnen in dieser hinsicht weitere informationen vorliegen - Sie kennen ja die kommentarfunktion.

*

weil ich nun gerade beim thema borderline bin, möchte ich Ihnen folgenden prozeßbericht nicht vorenthalten:

"Im Lübecker Mordprozess gegen den Schwerverbrecher Christian Bogner hat eine psychiatrische Sachverständige den Angeklagten für voll schuldfähig erklärt. Bogner sei nicht geistesgestört, leide jedoch an einer Persönlichkeitsstörung des Borderline-Typus, sagte die Hamburger Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie am Freitag vor dem Landgericht. Der vielfach vorbestrafte Bogner soll laut Anklage den arbeitslosen Gärtner Engelbert Danielsen aus Eutin umgebracht haben, um nach einem Gefängnisausbruch dessen Identität anzunehmen."

identitätsdiebstahl? erinnern Sie sich noch an mr. ripley?
und wie neulich schon einmal thematisiert, müssen auch bei dieser geschichte einige fragen zu den verwendeten diagnostischen modellen gestellt werden:

"Es gebe keine Anhaltspunkte für eine psychotische Erkrankung. "Das Wesen einer Psychose besteht gerade darin, dass die Patienten sich für gesund halten", sagte die Ärztin vor Gericht."

ich frage mich, ob die ärztin schon mal etwas von simulativen zuständen und fähigkeiten und den möglichen grundlagen gehört hat? der täter kann hier durchaus versucht haben, aus ihm bekannten klischees/fragmenten so etwas wie ein "objektives" bild einer psychose zu konstruieren. was die psychiaterin - aus ihrer ebenfalls objektiven sicht berechtigt - als unglaubhaft abtut. soweit nachvollziehbar.

wenn der täter aber "bewusst" simuliert: würde das ausschließen, dass er sich vielleicht selbst ebenfalls für gesund hält? wie im beitrag neulich schon angesprochen, sehe ich hier mal wieder die möglichkeit gegeben, dass die orthodoxen kriterien für einen psychotischen zustand völlig in die irre führen. wer einen anderen menschen zum zwecke des identitätsdiebstahls umbringt, muss sich schon mindestens in einem außergewöhnlichen zustand befinden. berechnend und kaltblütig. halt sehr objektiv. und mit einigen fähigkeiten zur anpassung und kontrolle der aktuellen realitätsstandards. das schließt nach den herrschenden diagnostischen modellen einen grundsätzlich psychotischen zustand natürlich aus.

meine gegenthese ist vor diesem hintergrund weder überraschend noch neu: diese art von berechnender und kalter / empathieloser objektivität, die vielleicht sogar eine gesteigerte fähigkeit zur bewältigung der aktuellen herrschenden realität mit sich bringt (in der gefühle und weitere bestimmte elementare (selbst-)wahrnehmungen grundsätzlich einen unsicheren status haben), lässt sich spätestens bei dominierender position in einem menschen mit guten gründen als schwer pathologisch und durchaus auch als psychotisch ansehen.

bogners vermutliche simulation eines psychotischen zustands (mittels "objektiv" anerkannter kriterien wie halluzinierter stimmen u.ä.) lässt sich von daher auch als sekundäre und situationsbedingte simulation einer grundsätzlich simulativen persönlichkeit auffassen, die z.b. auch keine großen schwierigkeiten mit der vorstellung hat, in fremde identitäten zu schlüpfen - weil es keine authentische eigene identität gibt.

und wenn jemand keinen anderen zustand kennt oder aber nicht bspw. durch vergleiche auf die besonderheit dieses zustands aufmerksam wird, sehe ich keinerlei gründe dagegen, warum sich so eine person nicht selbst für gesund halten sollte. sowieso wandelt die ärztin mit dem ansatz, das gerade genannte kriterium zum "wesen" einer psychose zu erklären, schon auf einem schmalen grad (offensichtlich, ohne das es ihr aufgefallen wäre): wie viele politiker, aufsichtsräte, militärs... halten eigentlich sich selbst für durchaus "gesund und realitätsangepasst"? auch wenn eigentlich inzwischen selbst größten ignoranten so einiges auffallen sollte...zwei auszüge aus tp-artikeln bringen diesen sachverhalt zwar etwas populistisch, aber inhaltlich durchaus zutreffend auf den widerlichen und bedrohlichen punkt:

"Wenn man Ihren Ausführungen folgt, bekommt man den Eindruck, das Land werde von Kriminellen, Gesinnungslosen und Geisteskranken regiert, die das öffentliche Eigentum im Dienste von Privatunternehmen zu ihren Gunsten und zu Lasten der Bürger kaputt sanieren."

"In Politik und Film drängt sich die gleiche Frage auf: Wie verrückt muss ein Staatschef sein, der die Bombe wirft?"

der unterschied zu leuten wie bogner liegt bis auf weiteres mit hoher wahrscheinlichkeit vor allem darin, dass jene nur selten bis nie vor gericht stehen. und noch seltener bis niemals psychiatrischer diagnostik unterworfen sind, die praktischerweise dazu bisher so eingerichtet ist, dass sie gerade die schlimmsten und destruktivsten psychophysischen zustände nicht als pathologisch begreifen will - wg. "objektiver realitätskontrolle".

miese zeiten sind`s, in denen die verrückte objektivität als fetisch vergötzt und ihre übelsten repräsentanten bestenfalls ignoriert werden - ohne, dass das wahrscheinliche grundproblem überhaupt auf den tisch kommen würde.
paul (Gast) - 30. Jun, 15:08

im gemeinen gilt für alle vom bekloppt sein verfolgten, folgendes schema:
du kannst so bekloppt sein, wie du willst, du darfst nur keinem anderen auf die nerven gehen. (damit du nicht verfolgt wirst). aber was ist, wenn du einem anderen
bekloppten auf die nerven gehst, oder nur einfach in die hände fällst? der dir einredet, bekloppt zu sein. der gesamte gesellschaftliche und wissenschaftliche konsenz eine hypothetische unterstellung, zu deinem krankheitsbild gehört, daß du deine krankheit nicht einsiehst, du hast weitergedacht und das normale entlarvt. kann denn denken krankheit sein? es ist müßig darüber nachzudenken. da hilft auch keine "überzeugende Maske von geistiger Gesudheit". manchmal ist es besser zu vergessen. hoch lebe gert postel.
super seite, dankeschön.

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