notiz: vor unserer haustür (3.update am 12.10.)

besonders im letzten jahr hatte ich hier immer wieder verschiedene meldungen unter den keywords infantizid / gewalt gegen kinder dokumentiert. das diese traurige realität sich nicht deshalb erledigt hat, nur weil es medial gerade keine besonders "spektakuläre" fälle zu vermelden gibt, sollte - so die vielleicht naive hoffnung meinerseits - hoffentlich im bewußtsein präsent sein. es geschieht weiter und immer wieder - vor unserer haustür:

"Das Bremer Jugendamt hatte Alarm geschlagen: Gemeinsam mit der Polizei wollten Mitarbeiter ein Kleinkind aus der elterlichen Wohnung holen. Sie entdeckten den fast zweijährigen Jungen im Kühlschrank - tot.(...)

Das Kind wurde seit seiner Geburt von der Jugendhilfe begleitet, da die Mutter dem Säugling gegenüber gewalttätig war. Das letzte Lebenszeichen des Kindes stammt vom Juli 2006, als ein Arzt das Kind gesehen hatte. Seitdem bekam es kein Mitarbeiter der Sozialbehörde mehr zu Gesicht. Zu der Frage, ob ein solcher Zeitraum für angemessen gehalten wird, machte das Ressort keine Angaben.(...)

Den Ermittlern zufolge wies die Leiche des Kindes Spuren von Mangelerscheinungen auf. Der Junge sei nicht erst in den vergangenen Tagen gestorben. Gegen den Vater wird nun ermittelt. Dabei werde noch geprüft, ob die Staatsanwaltschaft dem Verdächtigen aktive Tötung oder Vernachlässigung des Kindes vorwirft. Er hatte auf die Frage nach dem Kind mit den Worten geantwortet "Da drüben liegt er" und auf den Kühlschrank gedeutet. Danach habe er geschwiegen. Der 41-Jährige befand sich in einem Methadon-Programm gegen seine Drogensucht."


es lässt sich ahnen, was sich für eine trostlose geschichte dahinter verbirgt. ebenso wie im folgenden:

"Vor einer Woche war in einer Müllsortieranlage in Passau ein totes Baby entdeckt worden. Nach Angaben der Mutter sei es bereits tot zur Welt gekommen. Die junge Frau habe sich am Sonntagabend der Polizei gestellt, sagte der Leitende Passauer Oberstaatsanwalt.

Die Mutter habe bei den Vernehmungen ausgesagt, dass sie das Kind bei einer Sturzgeburt auf der Toilette geboren habe. Da das Kind keine Lebenszeichen von sich gegeben habe, habe sie das Neugeborene in einem Plastiksack in die Biotonne geworfen. Bis zur plötzlichen Geburt habe sie nichts von ihrer Schwangerschaft bemerkt, erklärte die Mutter. Es habe bei ihr keinerlei körperliche Anzeichen dafür gegeben. Laut Gerichtsmediziner ist das Baby jedoch lebend zur Welt gekommen."(...)


mal gesetzt den fall, es handelt sich bei der aussage der mutter nicht nur um eine simple (not-)lüge: in was für einem wahrnehmungszustand muss sich eine frau befinden, um monatelang eine schwangerschaft nicht zu bemerken? und wie sah es diesbezgl. mit ihrem sozialen umfeld aus?

*

edit am 11.10.: in der bremer geschichte hat es ganz aktuell jetzt erste politische konsequenzen gegeben: die für die sozialbehörden verantwortliche senatorin röpke ist heute zurückgetreten.

(...)"Bei der Pressekonferenz räumte sie ein, schon früher persönlich mit dem Schicksal des Jungen befasst gewesen zu sein.

Nach dem Fund der Leiche waren Fragen über mögliche Versäumnisse der Behörden bei der Betreuung des Jungen laut geworden. Das Kind stand unter der Vormundschaft des Jugendamtes und wurde im Juli zuletzt lebend gesehen. Zunächst war nicht klar, wann zuletzt ein Sozialarbeiter Vater und Sohn besuchte, die im Brennpunktviertel Gröpelingen lebten. Jugendamtsleiter Jürgen Hartwig hatte am Dienstag erklärt, Mitarbeiter der Sozialbehörde hätten regelmäßigen Kontakt zu Eltern und Arzt gehabt und sich vergewissert, "dass die Dinge richtig laufen.


aber genau dieser "regelmäßige kontakt" scheint ja hier real nicht vorhanden gewesen zu sein. mit röpke geht übrigens eine person, die im bremer filz in den letzten monaten gerade im sog. "klinikskandal" eine alles andere als vertrauenerweckende rolle spielte. von daher scheint sie jetzt der neue - hm, skandal völlig untragbar gemacht zu haben. ich werde mich bemühen, die weiteren entwicklungen in dieser geschichte zu verfolgen.

*

edit 2 am 12.10.: deutlich sind der tod des kleinen jungen in bremen sowie die zutage getretenen behördlichen versäumnisse heute in der hiesigen presselandschaft hauptthemen; ich möchte aber zunächst nochmals auf den oben verlinkten spon-artikel eingehen, bzw. auf folgende absätze daraus:

(...)"Als Reaktion auf die zahlreichen Fälle von vernachlässigten Kindern hat der Kriminologe Rudolf Egg gefordert, die medizinischen Vorsorgeuntersuchungen gesetzlich vorzuschreiben.

Die Kinderärzte dürften nicht zum verlängerten Arm der Staatsanwaltschaft gemacht werden, seien auf der anderen Seite aber verpflichtet, die Gesundheit der Kinder zu schützen, sagte der Leiter der Kriminologischen Zentralstelle von Bund und Ländern in Wiesbaden."(...)


eine forderung, die vermutlich - und auch nachvollziehbar - größtenteils zustimmung auslösen dürfte. ich hänge da immer noch in einem zwiespalt, den ich hier genauer beschrieben habe:

(...)"ein problem bei den derzeit diskutierten maßnahmen staatlicher und institutioneller eingriffe (denen ich als provisorische sofortmaßnahme im interesse der opfer nicht grundsätzlich abgeneigt bin) besteht imo in der tendenz, das generelle gewaltproblem besonders an familien festzumachen, die nach allen kriterien unter ökonomischer verarmung, schlechter bildung etc. leiden.

sicher - wie früher schon einmal ausgeführt, tragen schlechte bis existenziell bedrohliche ökonomische bedingungen einiges zur wahrscheinlichkeit von gewalttätigen strukturen innerhalb von familien bei. primär auslösend jedoch sind sie nicht. die hier thematisierte gewalt kommt in allen gesellschaftlichen klassen vor, auch in den sog. ober- und mittelschichten. es erscheint nicht nachvollziehbar, warum diese von interventionsprogrammen ausgeschlossen bleiben sollten. so wird das problem ungerechtfertigt verkürzt und an einer bestimmten gesellschaftlichen gruppe festgemacht - einer gruppe zudem, die bereits zunehmend im focus staatlicher und institutioneller maßnahmen steht - die grenze zwischen tatsächlicher hilfe und systematischer entmündigung, kontrolle und repression in zeiten zunehmender ökonomischer verelendung mitsamt den begleitenden sozialen selektionsprozessen ist eine sehr fließende.

bei betrachtung der ständig perfektionierten ausweitung der innerstaatlichen repressionsapparate in der gesamten sog. westlichen welt jedenfalls kann ich mich des eindrucks nicht erwehren, dass weitreichende staatliche eingriffe gerade in den bereits sozial stigmatisierten gruppen sehr schnell für zwecke instrumentalisiert werden können, die mit der vielleicht z.t. aufrichtig gemeinten hilfe nichts mehr zu tun hätten."(...)


in diesem fall - bekannt gewordene gewalt zwischen den eltern, das symptom des drogenabusus u.ä. - hätte jedoch tatsächlich nur die herausnahme des kindes aus dem familiären umfeld etwas rettendes bewirken können. hinterher ist man zwar immer schlauer, jedoch ist eine solch im schlimmsten sinne des wortes dysfunktionale familiensituation ja nun weder ein einzelfall, noch den behördlich verantwortlichen prinzipiell unbekannt. hinsichtlich meiner obigen bedenken schätze ich, dass es bis auf weiteres ein eiertanz bleibt, weitreichende staatliche maßnahmen mit ihrem immanenten repressionspotenzial für u.u. lebensrettende aktionen einzusetzen. in diesem konkreten fall wäre das nötig und vertretbar gewesen - und hat ausgerechnet dann tödliche folgen nach sich gezogen.

und dann wird neben - bekannten - zutreffenden beobachtungen noch einmal eine ganz üble platte aufgelegt:

(...)"Neben der körperlichen Verwahrlosung und Vernachlässigung gebe es nach seiner Beobachtung zunehmend Fälle von psychisch und sozial isolierten Kindern. "Die haben zwar genug zu Essen und Anzuziehen, erfahren in ihren Familien aber sonst keine Zuwendung. Die Isolation vor der elektronischen Spielkonsole führe zu Leistungsmängeln, erklärte Egg unter Hinweis auf die Studien seines Kollegen Christian Pfeiffer aus Hannover."(...)

sind leistungsmängel wirklich das einzige argument, die benannten zustände zu ändern? diese verdammte bwl-logik mit ihren verdinglichenden wirkungen zieht sich wie ein schimmelpilz durch die gesamte gesellschaft. und ist genauso giftig.

*

zur jetzt ausgebrochenen politischen diskussion ist u.a. zu lesen:

(...)"Dass der Hintergrund Kostenerwägungen sein könnten, wie Kritiker sagen, bestritten die Vertreter der Sozialbehörde gestern."(...)

naja, das wäre ja auch einmal wirklich eine echte überraschung gewesen, das gegenteil zu hören.

der konkrete diesbezgl. verdacht lautet im großen und ganzen so:

(...)"Böhrnsen ging einen Schritt weiter und sagte, das "gesamte Hilfesystem" müsse auf den Prüfstand. Die Heimleitung hatte ihm gegenüber im Januar darauf hingewiesen, dass sich Praxis der Bremer Sozialbehörde im Umgang mit Kindern in den letzten Jahren geändert habe. Dahinter steht der Verdacht, dass aus Spargründen die Zahl der Heimunterbringungen bürokratisch begrenzt worden ist."(...)

(und diese begrenzung wird dann noch schlimmstenfalls pädagogisch-ideologisch mit einer eigentlich durchaus berechtigten distanz zur institution "heim" begründet, aber das soll jetzt hier nicht weiter vertieft werden).

der behördliche - und bisher bekanntgewordene - umgang lässt jedenfalls etliches im unklaren:

(...)"Im Sozialamt, so berichtete dessen Leiter Jürgen Hartwig, sei die Frage der Erziehungsfähigkeit im Frühjahr 2006 noch kontrovers diskutiert worden, eine Minderheit habe mit Hinweis auf das Kindeswohl darauf gedrungen, das Kind dem Vater zu entziehen, eine Mehrheit habe aber mit Hinweis auf die "Familienorientierung", wie Hartwig formulierte, dagegen entschieden. Bedingung sollte allerdings sein, dass der Vater Hilfe annimmt. Der hatte sich der Vater aber weitgehend erfolgreich entzogen und stattdessen behauptet, er wolle zu seiner Mutter ziehen, die außerhalb Bremens lebe. Damit wäre das Bremer Sozialamt die Verantwortung los gewesen, eine andere Kommune hätte die Zuständigkeit übernehmen müssen.

Als die Großmutter von Kevin dann allerdings im Sommer dem Sozialamt mitteilte, dass ihr Sohn und Kevin gar nicht bei ihr seien, da wuchs offenbar das Misstrauen beim "Fallmanager". Im September beschloss die Fallkonferenz, das Kind dem Vater wegzunehmen. Als am 10. Oktober dann die Polizei die Tür zur Wohnung aufbracht, war es zu spät."(...)


imo wird hier ein schwer durchschaubarer wust aus individuellen versäumnissen und strukturellen begrenzungen sichtbar - "familienorientierung" als behördliches leitbild trifft auf versteckte einsparmotivationen, individuelle wahrnehmungsschwächen und institutionell bedingte behäbigkeit, auf der anderen seite darf jedoch auch nicht der täter/vater vergessen werden, der offensichtlich über ausreichende simulative fähigkeiten verfügte, um den behörden entsprechende fakes vorzusetzen. aus diesen und vermutlich noch anderen quellen entwickelte sich dann die tödliche konstellation. um solche verhältnisse aufzulösen, bedarf es u.a. ziemlich radikaler wahrnehmungserweiterungen als nötiger grundlage - rücktritte und andere personelle konsequenzen sind eher als scheinaktionismus zu werten, der vermutlich als eine art bewährtes placebo ans publikum verabreicht wird.

im betreffenden stadtteil gröpelingen soll übrigens anfang november ein schon länger geplanter aufmarsch der npd stattfinden, und es ist zu befürchten, dass die nazis aus den umständen dieser geschichte - drogenmilieu, behördliche "laschheit" - in noch nicht abzuschätzender form profitieren könnten. einfache "lösungs"angebote bei komplexen situationen stellen eine nicht zu unterschätzende gefahr dar - gerade dann, wenn ein derartig grausiger kindstod mit sicherheit ebenso nicht abzuschätzende tiefgehende emotionale triggereffekte in der bevölkerung bewirkt. ich fürchte, das hier nicht (nur) mein pessimismus spricht.

*

edit 3: was zum teufel hat die verantwortliche spon-redaktion dazu veranlasst, die populistischen vorschläge zum internet-pranger für verurteilte sexualstraftäter mit den meldungen zum ermordeten kind in bremen und neuen unerträglichen informationen zusammen in einem schwerpunkt als topaufmacher zu präsentieren? soll das einfach nur zum unfreiwilligen erneuten beleg dafür dienen, dass die sehnsucht nach anscheinend "durchgreifenden lösungen" nicht nur ganz rechts verbreitet ist?

*

immerhin stecken auch ein paar informationen in den artikeln dieses zusammenkonstruierten schwerpunkts: so sind inzwischen ermittlungen gegen die sozialbehörde eingeleitet worden, und - mediale und öffentliche aufmerksamkeit erfordern aktionismus - aus berlin wird das folgende bekannt:

(...)"Das Bundesfamilienministerium will noch in diesem Jahr ein Kompetenzzentrum einrichten, das die Aktivitäten in den Ländern koordiniert, begleitet und evaluiert. In die Einrichtung eines Frühwarnsystems für vernachlässigte und misshandelte Kinder sollen den Angaben zufolge zehn Millionen Euro investiert werden.

Den Familien, die mit der Erziehung ihres Kindes völlig überfordert seien, müsse von Anfang an geholfen werden, betonte von der Leyen. In Modellprojekten, die mit Ländern und Kommunen entwickelt wurden, sollen diese Familien vor oder ab der Geburt des Kindes intensiv begleitet werden."(...)


zehn millionen euro. wenn´s nicht so abgrundtief zynisch und traurig wäre, würde mein lachanfall immer noch andauern. (nur zum vergleich ein paar aktuelle zahlen aus dem deutschen rüstungsetat:

(...)"Die Bundesregierung will noch in diesem Jahr neue Rüstungs-Projekte mit einem Volumen von knapp sechs Milliarden Euro auf den Weg bringen. Ein einziger Eurofighter kostet allein 108 Millionen Euro.

Das Verteidigungsministerium bestätigte Berichte über eine entsprechende Planungsliste, die in eine Vorlage des Finanzministeriums an den Haushaltsausschuss des Bundestages einfließen soll. Demnach wird die Bundeswehr neue Fregatten, U-Boote und eine neue Generation geschützter Fahrzeuge erhalten; die Kosten sollen schrittweise im Laufe der kommenden Jahre anfallen.

Verteidigungsminister Jung will unter anderem dem Heer für rund 891 Millionen Euro 272 gepanzerte Transportkraftfahrzeuge vom Typ Boxer zur Verfügung stellen. Das für Auslandseinsätze wichtige vierachsige Fahrzeug kann bis zu zehn Soldaten aufnehmen, ist - mit einem Maschinengewehr ausgestattet - bei einer Reichweite von 1.050 Kilometern über 100 Kilometer pro Stunde schnell und bietet Schutz gegen Minen und Beschuß. Weitere große Rüstungsvorhaben sind vier Fregatten vom Typ 125 für 2,2 Milliarden Euro sowie zwei U-Boote vom Typ 212 für 864 Millionen Euro. Für die Modernisierung des seit 30 Jahren betriebenen Transporthubschraubers CH 53 sollen zudem rund 500 Millionen Euro ausgegeben werden."(...)


sagte hier jemand gerade etwas von prioritäten? soviel wert ist das leben und die gesundheit von menschen - kindern - in den augen der herrschenden zombieklasse.)

*

der häßliche verdacht, dass bei der entstehung der mörderischen konstellation für den kleinen jungen in bremen auch kostenfragen bei den versagenden behörden eine rolle gespielt haben könnten, wird durch einen artikel in der morgigen taz doch stark untermauert - ein paar auszüge:

"Nach dem Tod des kleinen Kevin in Bremen erheben freie Träger von Sozialhilfe-Angeboten schwere Vorwürfe gegen den Leiter des Bremer Jugendamtes: Der habe Jugendhilfe nach Kassenlage gemacht. Die Grünen fordern einen Untersuchungsausschuss. (...)

Seit Jahren, so berichtete die Fraktionsvorsitzende Karoline Linnert, würden die Fachvertreter im Jugendhilfeausschuss dagegen Sturm laufen, dass die Kostenbegrenzungen beim Rechtsanspruch auf Hilfe eine immer größere Rolle spielten. "Kevins Tod ist nur die Spitze des Eisbergs. Es gibt zahlreiche Hinweise, dass Bremer Kindern in Not nicht oder nicht angemessen geholfen wird."

Die Grünen fordern deshalb auch die Suspendierung des Leiters des Jugendamtes, Jürgen Hartwig. Der habe "dafür gesorgt, dass nicht allein nach fachlichen Gesichtspunkten entschieden wird, ob ein Kind in eine Pflegefamilie oder ein Heim kommt." Es sei im Zweifelsfall in Vier-Augen-Gesprächen ein "unerhörter Spardruck" von ihm ausgeübt worden, meinte der jugendpolitische Sprecher Jens Crueger - "rechtswidrig" sei das, da das Kinder- und Jugendhilfegesetz ausschließlich fachliche Kriterien kenne."(...)


und nachdem der leiter des heimes, in dem der kleine kevin zweimal kurzzeitig untergebracht worden war, ausführlich seine version der vorgänge dargestellt hat, kommen ein paar wirklich aufschlußreiche dinge zum vorschein:

(...)"Bestürzt formulierte er einen Bericht an den Träger des Heimes, einen privaten Verein, in dessen Kuratorium der Bürgermeister sitzt - so empört sei er gewesen, "welche Zustände in dieser Stadt herrschen". Denn, so Joachim Pape, jahrelang hatte das Heim rund hundert Fälle von "In-Obhut-Nahmen" von Kindern pro Jahr, 2005 dann nur 44. "Wo sind diese Kinder? Ist plötzlich alles gut?" Papes Verdacht: Das Jugendamt hat seine "Politik" geändert.

Den Verdacht teilen andere private Träger. Seit Monaten führen sie Verhandlungen über die Zahl der vorzuhaltenden Plätze - unter anderem für Kinder in Notfall-Situationen. Die Vertreter des Sozialamtes würden da erklären, Bremen brauche nicht so viele Plätze - der Beleg seien die Zahlen von 2005, heißt es.

Die Auseinandersetzungen im Jugendhilfeausschuss um die "Budgets", die eingehalten und nicht durch steigende "Fallzahlen" überschritten werden dürfen, füllen Aktenordner. "Die Zahl der Fremdplatzierungen darf nicht gesteigert werden", heißt es unmissverständlich in einem Papier der Sozialsenatorin vom 1.8.2006. Indem das Jugendamt den kleinen Kevin wieder in die Obhut des Vaters gegeben hat, hat es nur diese sozialpolitische Vorgabe umgesetzt."(...)


parteipolitik hin, finanzielle interessen der freien träger her - von diesen vermutlich vorhandenen motivationen abgesehen, bleibt dann doch ein einblick in die antisoziale realität einer gesellschaft übrig, in der sich ein durchdrehender kapitalismus und die darin und daran durchdrehenden menschen die bälle zuspielen. sparen bis zum bitteren und tödlichen ende; sparen bei den schwächsten und wehrlosesten. meine finsteren gedanken aus meinem kommentar unten erhalten gerade wieder neue impulse. und unter den jetzt bekanntgewordenen verhältnissen werden auch die rücktritte der "persönlich" verantwortlichen (der leiter des jugendamtes dürfte ebenfalls seinen posten loswerden) tatsächlich als placebos für die öffentlichkeit erkennbar: sie haben lediglich eine überall propagierte "politik" im schlimmsten sinne des wortes exekutiert - und "wo gehobelt wird, fallen nun einmal späne". "das system ist okay, persönliche versäumnisse (die ja eigentlich aus der perspektive des ökonomisch betrachtenden wahns strenggenommen gar keine sind) werden sanktioniert" - und wir schafe sollen wieder in den üblichen betäubungsschlaf zurückfallen. wenn wir das akzeptieren, verdienen wir vielleicht tatsächlich alles weitere.
che2001 - 11. Okt, 08:30

Die Bremer Geschichte habe ich ja sehr intensiv mitbekommen und lässt mich nur kopfschütteln. Wieso hat das Jugendamt, wenn das Kind dort sowieso schon unter Vormundschat steht, die Mutter infolge ihres Drogenkomsums gestorben und der Vater als substituierender Schwerstabhängiger bekannt ist, das Kind nicht längst in Pflegschaft gegeben? Welcher Amtsschimmel hat denn da gepennt? Wenn sich so etwas in den Slums der South Bronx oder den Favelas von Ciudade dos Dios ereignet, wo Behörden es schlichtweg nicht mitbekommen, ist das ein anderer Schnack als direkt unter den Augen der Bremer Sozialbehörden.

monoma - 11. Okt, 12:51

in meinen finstersten und sicher auch paranoidesten momenten frage ich mich manchmal, ob solche "versäumnisse" nicht auch bereits produkte halb-bewußter/unbewußter gedankenprozesse bei entsprechend verantwortlichen personen sein könnten - "so ein kind wird uns später eh nur ärger machen..."

ohne direkt "bösen" willen - und sicher niemals im justiziablen sinne "beweisfähig". es wurde einfach etwas übersehen, vergessen, verschlampt. und in der folge nicht wahrgenommen.

aber wie die letzten jahre gezeigt haben, laufen verschiedene öffentliche diskurse immer deutlicher auf den begriff "überflüssige esser" hinaus - mitsamt allen eugenischen implikationen. sollte das an irgendwelchen pflichtbewussten staatsdienerInnen ohne wirkung vorbeigehen?

wie gesagt: meine finsteren momente.
monoma - 20. Okt, 11:47

ach?

"Aber wir müssen prüfen, ob sich eine Mentalität eingeschlichen hat, mit der leise Zweifel zurückgestellt wurden, um nach finanziellen Argumenten zu entscheiden."

so der bremer ministerpräsident böhrnsen in einem die bisherigen informationen zusammenfassenden artikel der zeit. so lässt sich mein verdacht aus meinem obigen kommentar natürlich auch ausdrücken. und ich wage mal die prognose, dass erstens diese "prüfung" nicht stattfinden wird, und zweitens selbst beim gegenteil zum ergebnis hätte, dass mit der "mentalität" ja "alles in ordnung" wäre.
wildwuchs - 11. Okt, 23:24

die 'billigere lösung' war mit sicherheit, das kind in der obhut des vaters zu belassen - heimunterbringungen sind teuer, pflegefamilien auch! das hört sich jetzt zynisch an.... und ich kenne die diskussionen über die notwendigkeit von kostenminimierungen im sozialen bereich in bremen nicht .... aber dass in zeiten, in denen EFFEKTIVITÄT, gewinnmaximierung und konkurrenz wichtiger sind als der erhalt oder ausbau bestehender sozialer sicherungssysteme, das 'wohl, die gesundheit und damit kurz- oder langfristig' die lebensqualität auf der strecke bleiben, ist nichts neues..... die 'schreibtischtäter' in politik und verwaltung, diejenigen, die saturiert im sessel sitzen, können sich auf die schulter klopfen - sie haben effektiv kosten gespart!!! und weiter von 'gürtel enger schnallen' reden ..... sie und ihresgleichen sind davon ja nicht betroffen....

zwei lieder von hans hartz fallen mir dazu ein....

Schlafe, mein Prinzchen, schlaf ein.
Träum deine Träume allein.
Das Land hat die Augen längst zu.
Träume mein Prinzchen auch du.

Alptraum. Von diesen Leuten, von Bossen,
von Multis und wie sie alle heißen.
Die mit Jokern beim Pokern uns so gern ganz legal bescheißen.
Zwischen uns und ihnen:
eine Wand aus Glas.
Weiß du das ?
Das ist unser Land. Unser Land.
Doch es gehört nicht dir und mir.
Denn dieses "unser Land" ist fest in andrer Hand
wer außen vor steht, das sind wir.

Alptraum. Von solchen Leuten, von Haien,
von Maklern und wie sie alle heißen.
Die mit Samsonites ins Ausland gehen, vorm Bankfach stehen:
Wie schön ist es zu reisen!
Zwischen uns und denen:
eine Wand aus Glas.
Weiß du das ?
Das ist unser Land. Unser Land.
Und es gehört nicht dir und mir.
Denn dieses "unser Land" ist fest in andrer Hand
wer außen vor steht, das sind wir.

Das ist unser Land. Unser Land.
Doch es gehört nicht dir und mir.
Denn dieses "unser Land" ist fest in andrer Hand
wer außen vor steht, das sind wir.

Das ist unser Land. Unser Land.
Nein - es gehört nicht dir und mir.
Denn dieses "unser Land" ist fest in andrer Hand
und außen vor , da stehen wir.

Niemandsland. Niemandsland.
Paß auf solang noch Zeit ist.
Steck den Kopf nicht in den Sand.
Niemandsland. Niemandsland.

Lalala. Lalala. Lalalalala.
Lalala. Lalalala...
Nanana...

.
.
.

Komm her
Marie
ein letztes Gals
genießen wir den Augenblick

ab morgen gibt's statt Wein nur Wasser.
Komm her und schenk uns noch mal ein

so viel wird morgen anders sein-
Marie, die Welt wird langsam blasser.

Die weißen Tauben sind müde
sie fliegen lang schon nicht mehr.
Sie haben viel zu schwere Flügel
und ihre Schnäbel sind längst leer.

Jedoch die Falken fliegen weiter
sie sind so stark wie nie vorher
und ihre Flügel werden breiter
und täglich kommen immer mehr
nur weiße Tauben fliegen nicht mehr.

Bleib noch Marie
der letzte Rest
reicht für uns beide allemal

ab morgen gibt's statt Brot nur Steine

komm her und schenk uns noch mal ein
denn so wie heut' wird's nie mehr sein -
Marie, die Welt reißt von der Leine.

Die weißen Tauben sind müde
sie fliegen lang schon nicht mehr.
Sie haben viel zu schwere Flügel
und ihre Schnäbel sind längst leer.

Jedoch die Falken fliegen weiter
sie sind so stark wie nie vorher
und ihre Flügel werden breiter
und täglich kommen immer mehr
nur weiße Tauben fliegen nicht mehr.

Sieh dort Marie
das leere Bett - der Spiegel unsrer großen Zeit
ab morgen gibt's statt Glas nur Scherben.
Komm her und schenk uns noch mal ein
den letzten Schluck vom letzten Wein
Marie, die Welt beginnt zu sterben.

Die weißen Tauben sind müde
sie fliegen lang schon nicht mehr
Sie haben viel zu schwere Flügel
und ihre Schnäbel sind längst leer.
Die weißen Tauben fliegen nicht mehr.
Die weißen Tauben fliegen nicht mehr.............

che2001 - 12. Okt, 10:07

An die überflüssigen Esser denke ich schon die ganze Zeit. Das erste Hans-Hartz-Lied war mir vor ein paar Tagen gerade im Kopf, das zweite habe ich in der heißesten Phase der Anti-Atomraketen-Debatte gehört, und bei "Ihre Flügel werden breiter" hatte ich vor meinem geistigen Auge F111-Bomber, die zum Bombenabwurf ihre Schwenkflügel ausklappen.

Mir fällt dazu noch etwas anderes ein:

"Wir sind Menschen, wollen beachtet sein als Menschen, behandelt als Menschen, leben wie Menschen. Wir werden Menschen sein in dieser Welt, in dieser Zeit, auf dieser Erde, wir werden dafür sorgen, es zu werden, mit allen Mitteln, die notwendig sind." (Malcolm X)

"Wir werden Menschen sein, oder die ganze Welt wird dem Erdboden gleichgemacht bei unserem Versuch, es zu werden." (Eldridge Cleaver)
monoma - 12. Okt, 15:23

oha, hans hartz hatte ich völlig vergessen - aber hat der nicht auch eine zeit die penetrante "beck´s"-werbung mit seinem organ untermalt?

und zu malcolm x: dem wird einer der nächsten beiträge hier gewidmet sein.
wildwuchs - 13. Okt, 15:13

am unerträglichsten finde ich die ignoranz, arroganz und anpassungshaltung innerhalb der berufsgruppen - in einer 'fachwelt' (das wort idioten lass ich mal weg), die sich die 'anwaltschaft' für kinder und jugendliche aufs tapet geschrieben hat und sich dann in der tagtäglichen berufspraxis, bürokratischen anordnungen 'von oben' beugt. der gedanke der gestaltung des sozialen systems ist zur hässlichen fratze verkommen. das system an sich ist gut, es steckt viel arbeit, jede menge an erfahrungswissen und damit geschichtlicher auseinandersetzung drin....... aber wir laufen gefahr, uns einer funktionslogik zu unterstellen, das system scheint sich verselbständigt zu haben, es dient nicht mehr dem menschen sondern umgekehrt. das mag u.a. daran liegen, dass nicht nur auf den niederen sondern vor allen dingen auf den höheren rängen preist dienstbeflissen die moral preist( K. Wecker singt von den ersten rängen). eine äusserst janusgesichtige moral, die verlogener nicht sein könnte, weil sie denken und handeln nicht aneinanderbindet und damit immer weitere entfremdung produziert. du schreibst von 'radikalen wahrnehmungserweiterungen', die nötig wären, um nicht wie schafe in den üblichen betäubungsschlaf zu fallen. ich frage mich, wodurch diese hergestellt werden sollen? landen wir da nicht bei sowas wie bildung (und ich meine damit nicht bildung à la BILD!!!) ?und landen wir damit nicht in der nächsten horrorshow? du glaubst doch nicht etwa, dass die von irgendwem festgestellten ‚leistungsmängel’ irgendwelche € für notwendige hilfemaßnahmen locker machen würden? ….. schau dir doch die diskussionen im bildungs- und ausbildungsbereich an und vergleiche sie damit, was vor z.b.10 jahren diskutiert wurde und was sich wirklich verändert hat….. es ist ja nicht so, dass es nur idioten und idiotinnen gäbe….. es ist ja nicht so, als wüssten wir nicht bescheid über zusammenhänge..... es ist ja nicht so, als gäbe es nicht schon längst passable konzepte für lebensweltbezogene bildung, alternativen zur 'heimerziehung' usw. usw. usw........
manchmal hab ich das gefühl, ich kann gar nicht so laut schreien, wie es nötig wäre.....

netbitch - 14. Okt, 00:02

Regagnaramos la vida!
archenoe - 17. Okt, 19:01

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monoma - 12. Sep, 14:48
Der Spiegel-Artikel im...
Den Spiegel-Artikel gibt's übrigens hier im Netz: http://www.spiegel.de/spie gel/spiegelspecial/d-45964 806.html
iromeister - 12. Jun, 12:45
Texte E.Mertz
Schönen guten Tag allerseits, ich bin seit geraumer...
Danfu - 2. Sep, 21:15

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