assoziation: von den gefühlen in zeiten des kapitalismus über die ärztliche meldepflicht von tattoos und piercings zum *naturbösen* menschen
die schriftstellerin anna mitgutsch bespricht im standard das buch gefühle in zeiten des kapitalismus, und fällt dabei meiner meinung nach gemeinsam mit der autorin eva illouz dem schein zum opfer:
"Wie die israelische Soziologin Eva Illouz in ihrem Buch (...) nachweist, bestimmt der psychotherapeutische Diskurs mit seiner Betonung auf Emotionen den öffentlichen Raum und die Arbeitswelt - und zwar nicht nur in Form einer wahren Flut an Ratgeberliteratur sondern auch als Stil im Management. Gleichzeitig stellt sie eine emotionale Verarmung des Privaten fest."(...)
wobei es sich dabei eher um einen scheinwiderspruch handelt: was diese angeblichen "emotionen" tatsächlich sind, lässt sich bspw. hier und hier nachlesen - inszenierungen des authentischen, die in form von ökonomisch nutz- und instrumentalisierbaren simulationen daherkommen und sich bei dominanz auch im sog. "privaten" als symptom einer grundsätzlich geschädigten psychophysischen menschlichen struktur begreifen lassen.
im folgenden greift mitgutsch dann einen punkt heraus, den ich als "negative psychologisierung" bezeichnen würde, und zu dem sie aus einer bestimmten perspektive einiges richtige anmerkt:
(...)"In einer Gesellschaft, deren größte Anliegen Wellness und Fitness des Einzelnen sind und die es zum moralischen Imperativ macht, unter allen Umständen nach dem eigenen Wohlbefinden zu trachten, wird alles, was dieses Wohlbefinden durch ein Abweichen von der angestrebten Normalität stören könnte, als Behelligung, ja geradezu als Vergehen empfunden."
"wohlbefinden" ist allerdings ein wischi-waschi-wort, denn es sagt überhaupt nichts über den kontext aus, in dem sich das wohlbefinden einstellt. will sagen: wenn es eine mehr oder weniger große zahl vom menschen gibt, die unter "wohlbefinden" ihr reibungsloses funktionieren innerhalb des vorgegebenen und -gefundenen systems verstehen, dann kann wohlbefindlichkeit kein ernsthaftes kriterium für gesundheit mehr sein. überspitzt gesagt, reden wir dann über das wohlbefinden einer monade, die vor allem authentisch-lebendigen ausdruck pure angst verspürt. erst aus dieser perspektive macht das folgende dann tatsächlich sinn:
(...)"Die Psychologisierung, die den Einzelnen und sein unmittelbares Umfeld als Fall betrachtet und größere gesellschaftliche Strukturen vernachlässigt, hat auch soziale Ungerechtigkeit ins Private verkehrt. Damit ist jeder, der zu den Verlierern zählt, jeder, der von den Normen abweicht, nicht nur krank und therapiebedürftig, sondern auch selber daran schuld und verdient daher weder Mitgefühl noch Hilfe, es sei denn in Form der Psychotherapie.
Wie Susan Sontag und Michel Foucault zeigten, münzt die Gesellschaft Krankheit leicht zum Verbrechen um. In einer Zeit, in der politische Korrektheit die Sprache zu so mancher Verrenkung zwingt, werden Abweichungen von der Norm unreflektiert polemisch als Krankheit definiert und als Instrumente verbaler Ausgrenzung verwendet.
So wird jeder, der sich dem Druck ständiger Verfügbarkeit entzieht, als "Autist" bezeichnet, jedes nicht eindeutige Verhalten als "schizophren", jede Marotte als "psychisch gestört" und Menschen, die auf ihrer Unangepasstheit verharren als "borderline". Die von einer Erkrankung des Nervensystems tatsächlich Betroffenen werden als Soziopathen diffamiert.
Die Gleichsetzungen von gesund mit leistungsfähig und daher wertvoll, und im Gegenzug dazu: unangepasst mit psychisch krank und nutzlos, sogar potenziell kriminell, gehörten allerdings bereits zu den Denkmustern des Nationalsozialismus."
ja. eine solche psychologisierung (oder auch psychiatrisierung) gibt es. aber wie oben schon gesagt, sitzt mitgutsch dabei dem erwähnten scheinwiderspruch auf und kann deshalb die wichtige andere seite der medaille nicht berücksichtigen - gerade in bezug auf die ns-psychiatrie hatte ich das in der vergangenheit so zusammengefasst:
(...)"nun ist eine bestimmte art von "funktionsfähigkeit" ja auch immer wieder thema hier im blog - die "funktionsfähigkeit", die sich in mehr oder weniger reibungsloser anpassung und kompatibilität gerade mit anonymen, mechanischen, bürokratischen und auch mörderischen institutionellen apparaten ausdrückt. was hier wiederum früher bereits als ein schwerwiegendes indiz auf die dominanz des objektivistischen modus bei einem menschen skizziert worden ist. und auch bezgl der sehr wahrscheinlichen psychopathologie hitlers drängt sich zu dieser ganzen geschichte eine frage besonders auf:
waren (und sind) diejenigen, die ihre definitionen von "leistungs- und arbeitsfähigkeit", "lebensunwert" etc. als trennlinie benutzten, um die von ihnen so definierten "asozialen", "psychopathen", "gemeinschaftsunfähigen" etc. auszuselektieren, tatsächlich die weitaus gefährlicheren ver-rückten? lässt sich die these aufstellen, dass bei ihnen zumindest z.t. auch schlichte projektion bei der auswahl der opfer beteiligt war? neben einer hemmungslosen bereitschaft zur unterwerfung unter angemaßte autoritäten, die sich als impliziter selbstverrat bzw. als unfähigkeit, sich selbst als eigene persönlichkeit überhaupt wahrzunehmen, darstellt? empathielosigkeit und extrem verdinglichende wahrnehmung jedenfalls sind eigenschaften, die wir den tätern mit berechtigung attestieren dürfen - und wenn ein technokrat wie der oben erwähnte k. (ich kenne einiges, auch nicht öffentlich zugängliches, biographische material zu und von ihm, welches ich hier leider nicht vorstellen kann) die todeskandidatin als autistisch beschreibt, so scheint mir das eine bitterböse ironie zu sein - k. lässt sich durchaus selbst als eine, allerdings wesentlich bösartigere, zumindest funktionell autistische person begreifen - und das lässt sich nicht nur bei ihm als starker verdacht formulieren.
in früheren beiträgen wurde hier ja schon auf das modell von zwei qualitativ unterschiedlichen formen psychotischer weltwahrnehmung verwiesen, welches mit teils unterschiedlichen begründungen und auch unterschiedlicher terminologie bspw. bei theweleit, mertz und arno gruen als these zu finden ist. wobei nur eine dieser formen - diejenige, die offensichtlich gegen die "objektiven realitätskriterien" z.b. mittels halluzinationen verstößt - von der etablierten psychiatrie und psychologie als psychose benannt wird. während sich die andere eben u.a. durch funktionsfähigkeit und simulierte emotionalität, in krasser form als völlig simulierte lebendigkeit, auszeichnet."
zusammengefasst: ich sehe absolut keinen grund dafür, warum funktionelle oder strukturelle antisoziale persönlichkeiten mit durchschnittlichen simulativen fähigkeiten nicht auch psychiatrische diagnosen in ihrem sinne - der sich meistens mit kontroll- und machtambitionen fassen lässt - instrumentalisieren sollten (so etwas vermute ich ja auch bei den diskussionen und maßnahmen seitens der regierungen von frankreich und großbritannien bezgl. "antisozialen verhaltens"). wieder überspitzt gesagt, ist zb. das szenario überhaupt nicht abwegig, dass eine blande (und antisoziale) borderlinepersönlichkeit (die reibungslos funktionieren kann) in einer beliebigen funktion innerhalb der orthodoxen psychiatrie andere menschen, die bspw. durch ein trauma auch symptome aus dem diagnostischen katalog der bl-störung zeigen, mit ihren mitteln (der diagnose und therapie) in eine gesellschaftlich ausgegrenzte position zwingen kann. und all das lässt eben keineswegs den schluß zu, den ich bei mitgutsch implizit durchschimmern sehe: dass es nämlich "eigentlich" gar keine probleme mit "psychischen erkrankungen" gäbe, weil sie letztlich alle nur konstruktionen zur ausgrenzung seien. davor kann ich zum wiederholten male nur warnen
*
eine andere schriftstellerin, juli zeh nämlich, hatte ich vor längerer zeit in einem beitrag mal heftig gedisst. nun schreibt sie zur geplanten ärztlichen meldepflicht für "selbstverschuldete erkrankungen" ebenfalls etliches, was ich (wieder mit einschränkungen, dazu gleich mehr) unterschreiben kann - auszüge:
(...)"Das Bundesgesundheitsministerium arbeitet an einer Gesetzesinitiative, die Ärzte verpflichten soll, unter Aufhebung der Schweigepflicht bestimmte Patienten bei den Krankenkassen zu melden. Und zwar solche Patienten, die an ihrem jeweiligen Leiden selbst schuld sind. Als Beispiele werden die Folgen von Tätowierungen, Piercings oder Schönheitsoperationen genannt. Die Begründung dieser absurden Idee liest sich wie ein Lehrbuchbeispiel für politische Scheinlogik unter Zugrundelegung verdrehter Prämissen. Eine Nasenoperation stelle einen Eingriff dar, der medizinisch nicht indiziert und vom Patienten frei gewählt sei. Wenn dabei etwas schief gehe, habe der Patient für Folgeschäden konsequenterweise selbst aufzukommen.(...)
Die Regierung hat nicht weniger vor, als das Privateste, Intimste, das uns zu eigen ist, zur Staatssache zu erheben: den menschlichen Körper. Dabei wird die Idee einer flächendeckenden (von Beitragszahlern finanzierten!) Krankenversicherung in ihr Gegenteil verkehrt. Nicht das Krankenkassensystem schuldet uns Beistand in der Not - sondern wir schulden dem System die unbedingte Aufrechterhaltung unserer Gesundheit! Diese neue, fiktive Bürgerspflicht gibt dem Staat ein Machtinstrument an die Hand, welches auf fatale Weise an Huxleys Brave New World erinnert. "Krankheit" wird potenziell mit "Schuld" identifiziert, und um innerhalb dieses Zusammenhangs die Spreu vom Weizen zu trennen, bedarf es einer perfiden Form von Selektion.
Tätowierte, Gepiercte und Schönheitsoperierte, lehrt uns der Gesetzesentwurf, gehören schon mal zu den schwarzen Schafen. Auch Patienten, die sich durch ein von ihnen begangenes Verbrechen oder Vergehen selbst geschädigt haben, sollen laut der neuen Initiative gemeldet werden. Wer also beim Kirschenklauen vom Baum fällt, sollte fürderhin besser keinen Arzt aufsuchen, da dieser den medizinischen Fall nicht vertraulich behandeln könnte und die entstandenen Kosten ohnehin nicht von den Kassen gedeckt würden. Und um die neue staatliche Zugriffsgewalt endgültig in ein weites Feld zu verwandeln, soll die Meldepflicht generell für Krankheiten gelten, die sich der Patient "vorsätzlich" zugezogen hat.
In der Sprache der Juristen bedeutet einfacher Vorsatz, eine bestimmte Folge "billigend in Kauf zu nehmen". Nimmt also der Raucher den eventuellen Lungenkrebs billigend in Kauf? Der Alkoholiker die Leberzirrhose? Der Schokoladenliebhaber sein Übergewicht? Der Homosexuelle die mögliche AIDS-Infektion? Der Skifahrer den Beinbruch, der Fußballspieler den Bänderriss, der Autofahrer das Schleudertrauma? Und wie haben wir uns das Antlitz eines Behördenapparats vorzustellen, der in all diesen Situationen das Urteil "schuldig "oder "unschuldig" fällt?"
(was mir nicht nur bei ihren analogien und beispielen auffällt, ist die tatsache, das niemand der bisherigen öffentlichen kritikerInnen dieses kontrollprojektes das eigentlich naheliegendste sieht: den arbeitsunfall. "wie, du möchtest dir über das existenziell notwendige heraus weitere dinge kaufen und machst dafür im rahmen der (zwangs)lohnarbeit womöglich überstunden mit der folge eines unfalls? das ist vorsätzliche selbstschädigung...!" - deutlicher lässt sich der grad von absurdität und willkür, den inzwischen viele staatliche projekte anscheinend mühelos erreichen, kaum deutlich machen).
"Auf jeden Fall hässlich. Es wäre ein Staat, der seinen Bürgern vorschreibt, auf welche Weise sie mit ihrem Ureigensten, ihrer höchstpersönlichen Physis zu verfahren haben - beim Sex, beim Sport, beim Essen, beim Glühbirnenwechsel im Badezimmer - letztlich bei jeder denkbaren Alltagsbewegung. Nicht ohne Grund verfügen wir über ein Rechtssystem, das es bei Strafe verbietet, andere Menschen zu verletzen oder auch nur zu gefährden, während Selbstgefährdungen bis hin zur Selbsttötung straflos bleiben. Die Kernidee der Demokratie wurzelt in jenem kleinen, intimen Bereich, in dem der Mensch frei ist, also die volle Hoheitsgewalt über sich selbst besitzt."(...)
um mißverständnisse zu vermeiden, als erstes mal folgendes: ebenso wie die weiter oben schon erwähnten staatlichen projekte gegen "antisoziales verhalten" in mehreren europäischen staaten, ist die angesprochene geplante hiesige meldepflicht aus meiner sicht abzulehnen. was mich aber bei zehs argumentation stört, ist etwas ähnliches wie bei dem text von anna mitgutsch oben:
zum schluß noch etwas wirklich ärgerliches:
(...)"Der Ulmer Hirnforscher Manfred Spitzer und der Zürcher Wirtschaftswissenschaftler Ernst Fehr glauben, dass Menschen tatsächlich nur dann brav sind, wenn ihnen auf die Finger geschaut wird. »Alle bekannten Gesellschaftsordnungen gründen darauf, dass die Verletzung sozialer Regeln bestraft wird«, schreiben sie diese Woche in der Fachzeitschrift Neuron. Nur wenn Strafe droht, kontrollieren wir die spontanen Regungen und verhalten uns regelkonform: Eigennutz ist der vorherrschende Impuls."(...)
dazu verweise ich nur hierauf...
(...)"der schlechte witz an dieser schon tausendmal gehörten falschen gleichung "der mensch (was nebenbei auch die unterschiedlichen rollen von männern und frauen bei diesem trostlosen spielchen unsichtbar macht) = grundsätzlich bestie = muss sich selbst mit verstand und rationalität quasi selbst zügel anlegen und züchtigen, was sich leider niemals hundertprozentig umsetzen lässt= das chaos sickert durch" besteht darin, dass es sich tatsächlich um eine selbsterfüllende prophezeiung handelt, welche der ach-so-aufgeklärte westen bis heute nicht begreifen kann und will."(...)
...sowie auf die dem beitrag folgende kleine diskussion.
das ganze forschungsprojekt scheint mir ein weiteres beispiel für die im wissenschaftsbereich allgemein anzutreffende dissoziierende wahrnehmung zu sein: ich bestreite nicht unbedingt die ergebnisse der forschung, aber ich bestreite die aus dem situativen moment heraus abgeleitete be-deutung - die neuronale konfiguration "eigennutz" entsteht weder aus dem nichts, noch ist sie eine naturnotwendigkeit.
"Wie die israelische Soziologin Eva Illouz in ihrem Buch (...) nachweist, bestimmt der psychotherapeutische Diskurs mit seiner Betonung auf Emotionen den öffentlichen Raum und die Arbeitswelt - und zwar nicht nur in Form einer wahren Flut an Ratgeberliteratur sondern auch als Stil im Management. Gleichzeitig stellt sie eine emotionale Verarmung des Privaten fest."(...)
wobei es sich dabei eher um einen scheinwiderspruch handelt: was diese angeblichen "emotionen" tatsächlich sind, lässt sich bspw. hier und hier nachlesen - inszenierungen des authentischen, die in form von ökonomisch nutz- und instrumentalisierbaren simulationen daherkommen und sich bei dominanz auch im sog. "privaten" als symptom einer grundsätzlich geschädigten psychophysischen menschlichen struktur begreifen lassen.
im folgenden greift mitgutsch dann einen punkt heraus, den ich als "negative psychologisierung" bezeichnen würde, und zu dem sie aus einer bestimmten perspektive einiges richtige anmerkt:
(...)"In einer Gesellschaft, deren größte Anliegen Wellness und Fitness des Einzelnen sind und die es zum moralischen Imperativ macht, unter allen Umständen nach dem eigenen Wohlbefinden zu trachten, wird alles, was dieses Wohlbefinden durch ein Abweichen von der angestrebten Normalität stören könnte, als Behelligung, ja geradezu als Vergehen empfunden."
"wohlbefinden" ist allerdings ein wischi-waschi-wort, denn es sagt überhaupt nichts über den kontext aus, in dem sich das wohlbefinden einstellt. will sagen: wenn es eine mehr oder weniger große zahl vom menschen gibt, die unter "wohlbefinden" ihr reibungsloses funktionieren innerhalb des vorgegebenen und -gefundenen systems verstehen, dann kann wohlbefindlichkeit kein ernsthaftes kriterium für gesundheit mehr sein. überspitzt gesagt, reden wir dann über das wohlbefinden einer monade, die vor allem authentisch-lebendigen ausdruck pure angst verspürt. erst aus dieser perspektive macht das folgende dann tatsächlich sinn:
(...)"Die Psychologisierung, die den Einzelnen und sein unmittelbares Umfeld als Fall betrachtet und größere gesellschaftliche Strukturen vernachlässigt, hat auch soziale Ungerechtigkeit ins Private verkehrt. Damit ist jeder, der zu den Verlierern zählt, jeder, der von den Normen abweicht, nicht nur krank und therapiebedürftig, sondern auch selber daran schuld und verdient daher weder Mitgefühl noch Hilfe, es sei denn in Form der Psychotherapie.
Wie Susan Sontag und Michel Foucault zeigten, münzt die Gesellschaft Krankheit leicht zum Verbrechen um. In einer Zeit, in der politische Korrektheit die Sprache zu so mancher Verrenkung zwingt, werden Abweichungen von der Norm unreflektiert polemisch als Krankheit definiert und als Instrumente verbaler Ausgrenzung verwendet.
So wird jeder, der sich dem Druck ständiger Verfügbarkeit entzieht, als "Autist" bezeichnet, jedes nicht eindeutige Verhalten als "schizophren", jede Marotte als "psychisch gestört" und Menschen, die auf ihrer Unangepasstheit verharren als "borderline". Die von einer Erkrankung des Nervensystems tatsächlich Betroffenen werden als Soziopathen diffamiert.
Die Gleichsetzungen von gesund mit leistungsfähig und daher wertvoll, und im Gegenzug dazu: unangepasst mit psychisch krank und nutzlos, sogar potenziell kriminell, gehörten allerdings bereits zu den Denkmustern des Nationalsozialismus."
ja. eine solche psychologisierung (oder auch psychiatrisierung) gibt es. aber wie oben schon gesagt, sitzt mitgutsch dabei dem erwähnten scheinwiderspruch auf und kann deshalb die wichtige andere seite der medaille nicht berücksichtigen - gerade in bezug auf die ns-psychiatrie hatte ich das in der vergangenheit so zusammengefasst:
(...)"nun ist eine bestimmte art von "funktionsfähigkeit" ja auch immer wieder thema hier im blog - die "funktionsfähigkeit", die sich in mehr oder weniger reibungsloser anpassung und kompatibilität gerade mit anonymen, mechanischen, bürokratischen und auch mörderischen institutionellen apparaten ausdrückt. was hier wiederum früher bereits als ein schwerwiegendes indiz auf die dominanz des objektivistischen modus bei einem menschen skizziert worden ist. und auch bezgl der sehr wahrscheinlichen psychopathologie hitlers drängt sich zu dieser ganzen geschichte eine frage besonders auf:
waren (und sind) diejenigen, die ihre definitionen von "leistungs- und arbeitsfähigkeit", "lebensunwert" etc. als trennlinie benutzten, um die von ihnen so definierten "asozialen", "psychopathen", "gemeinschaftsunfähigen" etc. auszuselektieren, tatsächlich die weitaus gefährlicheren ver-rückten? lässt sich die these aufstellen, dass bei ihnen zumindest z.t. auch schlichte projektion bei der auswahl der opfer beteiligt war? neben einer hemmungslosen bereitschaft zur unterwerfung unter angemaßte autoritäten, die sich als impliziter selbstverrat bzw. als unfähigkeit, sich selbst als eigene persönlichkeit überhaupt wahrzunehmen, darstellt? empathielosigkeit und extrem verdinglichende wahrnehmung jedenfalls sind eigenschaften, die wir den tätern mit berechtigung attestieren dürfen - und wenn ein technokrat wie der oben erwähnte k. (ich kenne einiges, auch nicht öffentlich zugängliches, biographische material zu und von ihm, welches ich hier leider nicht vorstellen kann) die todeskandidatin als autistisch beschreibt, so scheint mir das eine bitterböse ironie zu sein - k. lässt sich durchaus selbst als eine, allerdings wesentlich bösartigere, zumindest funktionell autistische person begreifen - und das lässt sich nicht nur bei ihm als starker verdacht formulieren.
in früheren beiträgen wurde hier ja schon auf das modell von zwei qualitativ unterschiedlichen formen psychotischer weltwahrnehmung verwiesen, welches mit teils unterschiedlichen begründungen und auch unterschiedlicher terminologie bspw. bei theweleit, mertz und arno gruen als these zu finden ist. wobei nur eine dieser formen - diejenige, die offensichtlich gegen die "objektiven realitätskriterien" z.b. mittels halluzinationen verstößt - von der etablierten psychiatrie und psychologie als psychose benannt wird. während sich die andere eben u.a. durch funktionsfähigkeit und simulierte emotionalität, in krasser form als völlig simulierte lebendigkeit, auszeichnet."
zusammengefasst: ich sehe absolut keinen grund dafür, warum funktionelle oder strukturelle antisoziale persönlichkeiten mit durchschnittlichen simulativen fähigkeiten nicht auch psychiatrische diagnosen in ihrem sinne - der sich meistens mit kontroll- und machtambitionen fassen lässt - instrumentalisieren sollten (so etwas vermute ich ja auch bei den diskussionen und maßnahmen seitens der regierungen von frankreich und großbritannien bezgl. "antisozialen verhaltens"). wieder überspitzt gesagt, ist zb. das szenario überhaupt nicht abwegig, dass eine blande (und antisoziale) borderlinepersönlichkeit (die reibungslos funktionieren kann) in einer beliebigen funktion innerhalb der orthodoxen psychiatrie andere menschen, die bspw. durch ein trauma auch symptome aus dem diagnostischen katalog der bl-störung zeigen, mit ihren mitteln (der diagnose und therapie) in eine gesellschaftlich ausgegrenzte position zwingen kann. und all das lässt eben keineswegs den schluß zu, den ich bei mitgutsch implizit durchschimmern sehe: dass es nämlich "eigentlich" gar keine probleme mit "psychischen erkrankungen" gäbe, weil sie letztlich alle nur konstruktionen zur ausgrenzung seien. davor kann ich zum wiederholten male nur warnen
*
eine andere schriftstellerin, juli zeh nämlich, hatte ich vor längerer zeit in einem beitrag mal heftig gedisst. nun schreibt sie zur geplanten ärztlichen meldepflicht für "selbstverschuldete erkrankungen" ebenfalls etliches, was ich (wieder mit einschränkungen, dazu gleich mehr) unterschreiben kann - auszüge:
(...)"Das Bundesgesundheitsministerium arbeitet an einer Gesetzesinitiative, die Ärzte verpflichten soll, unter Aufhebung der Schweigepflicht bestimmte Patienten bei den Krankenkassen zu melden. Und zwar solche Patienten, die an ihrem jeweiligen Leiden selbst schuld sind. Als Beispiele werden die Folgen von Tätowierungen, Piercings oder Schönheitsoperationen genannt. Die Begründung dieser absurden Idee liest sich wie ein Lehrbuchbeispiel für politische Scheinlogik unter Zugrundelegung verdrehter Prämissen. Eine Nasenoperation stelle einen Eingriff dar, der medizinisch nicht indiziert und vom Patienten frei gewählt sei. Wenn dabei etwas schief gehe, habe der Patient für Folgeschäden konsequenterweise selbst aufzukommen.(...)
Die Regierung hat nicht weniger vor, als das Privateste, Intimste, das uns zu eigen ist, zur Staatssache zu erheben: den menschlichen Körper. Dabei wird die Idee einer flächendeckenden (von Beitragszahlern finanzierten!) Krankenversicherung in ihr Gegenteil verkehrt. Nicht das Krankenkassensystem schuldet uns Beistand in der Not - sondern wir schulden dem System die unbedingte Aufrechterhaltung unserer Gesundheit! Diese neue, fiktive Bürgerspflicht gibt dem Staat ein Machtinstrument an die Hand, welches auf fatale Weise an Huxleys Brave New World erinnert. "Krankheit" wird potenziell mit "Schuld" identifiziert, und um innerhalb dieses Zusammenhangs die Spreu vom Weizen zu trennen, bedarf es einer perfiden Form von Selektion.
Tätowierte, Gepiercte und Schönheitsoperierte, lehrt uns der Gesetzesentwurf, gehören schon mal zu den schwarzen Schafen. Auch Patienten, die sich durch ein von ihnen begangenes Verbrechen oder Vergehen selbst geschädigt haben, sollen laut der neuen Initiative gemeldet werden. Wer also beim Kirschenklauen vom Baum fällt, sollte fürderhin besser keinen Arzt aufsuchen, da dieser den medizinischen Fall nicht vertraulich behandeln könnte und die entstandenen Kosten ohnehin nicht von den Kassen gedeckt würden. Und um die neue staatliche Zugriffsgewalt endgültig in ein weites Feld zu verwandeln, soll die Meldepflicht generell für Krankheiten gelten, die sich der Patient "vorsätzlich" zugezogen hat.
In der Sprache der Juristen bedeutet einfacher Vorsatz, eine bestimmte Folge "billigend in Kauf zu nehmen". Nimmt also der Raucher den eventuellen Lungenkrebs billigend in Kauf? Der Alkoholiker die Leberzirrhose? Der Schokoladenliebhaber sein Übergewicht? Der Homosexuelle die mögliche AIDS-Infektion? Der Skifahrer den Beinbruch, der Fußballspieler den Bänderriss, der Autofahrer das Schleudertrauma? Und wie haben wir uns das Antlitz eines Behördenapparats vorzustellen, der in all diesen Situationen das Urteil "schuldig "oder "unschuldig" fällt?"
(was mir nicht nur bei ihren analogien und beispielen auffällt, ist die tatsache, das niemand der bisherigen öffentlichen kritikerInnen dieses kontrollprojektes das eigentlich naheliegendste sieht: den arbeitsunfall. "wie, du möchtest dir über das existenziell notwendige heraus weitere dinge kaufen und machst dafür im rahmen der (zwangs)lohnarbeit womöglich überstunden mit der folge eines unfalls? das ist vorsätzliche selbstschädigung...!" - deutlicher lässt sich der grad von absurdität und willkür, den inzwischen viele staatliche projekte anscheinend mühelos erreichen, kaum deutlich machen).
"Auf jeden Fall hässlich. Es wäre ein Staat, der seinen Bürgern vorschreibt, auf welche Weise sie mit ihrem Ureigensten, ihrer höchstpersönlichen Physis zu verfahren haben - beim Sex, beim Sport, beim Essen, beim Glühbirnenwechsel im Badezimmer - letztlich bei jeder denkbaren Alltagsbewegung. Nicht ohne Grund verfügen wir über ein Rechtssystem, das es bei Strafe verbietet, andere Menschen zu verletzen oder auch nur zu gefährden, während Selbstgefährdungen bis hin zur Selbsttötung straflos bleiben. Die Kernidee der Demokratie wurzelt in jenem kleinen, intimen Bereich, in dem der Mensch frei ist, also die volle Hoheitsgewalt über sich selbst besitzt."(...)
um mißverständnisse zu vermeiden, als erstes mal folgendes: ebenso wie die weiter oben schon erwähnten staatlichen projekte gegen "antisoziales verhalten" in mehreren europäischen staaten, ist die angesprochene geplante hiesige meldepflicht aus meiner sicht abzulehnen. was mich aber bei zehs argumentation stört, ist etwas ähnliches wie bei dem text von anna mitgutsch oben:
- "demokratie" und rechtssystem werden als eigentlich "gut" und (bisher) "funktionierend" vorausgesetzt. das ist aus meiner sicht schlicht die verwechselung einer in den letzten jahrzehnten im sog. "freien westen" leidlich funktionierenden simulation von demokratie und rechtsstaat mit der tatsächlichen realität. "andere menschen zu verletzen oder auch nur zu gefährden" ist seit eh und je ein "recht", welches sich die "eliten" aller coleur als "naturgegebenes" ohne weiteres herausnehmen, wenn´s ihnen gerade in den kram passt (und damit natürlich auch für etliche ihrer untertanen ein schlechtes beispiel geben).
- die postulierte "hoheitsgewalt über sich selbst" halte ich ebenfalls für ein abstraktes konstrukt, welches sich bei näherer betrachtung durchaus im rahmen der herrschenden systemlogik bewegt - die angesprochenen "eliten" nehmen diese hoheitsgewalt ja weiter für sich selbst in anspruch; sie ist gleichfalls immanenter teil des (falschen) westlichen menschen- und selbstbildes, und sie ist zunehmend gekoppelt mit der ökonomischen leistungsfähigkeit eines individuums, was gleichzeitig auf ihre wahrscheinliche basis verweist: eine allgemeine und alltägliche praxis der dissoziation. anders: wenn die postulierte hoheitsgewalt über das "eigene" selbst bereits auf einer pathologisch entgleisten realität aufbaut, halte ich es für nicht empfehlenswert, totalitäre tendenzen mit elementen der gleichen pathologischen logik zu kritisieren, die eben auch dieses totalitäre hervorbringt. ist das verständlich?
- stichwort tattoos und piercings: wie im verlinkten beitrag zu sehen, halte ich das keinesfalls in allen fällen für eine harmlose mode. eher kann es sich dabei ohne weiteres auch um symptome für psychophysische störungen handeln, die bis zur realen antisozialität gehen können. mir fehlt bei zehs argumentation daher auch die aussage, dass es sich bei den betroffenen der staatlichen kontrolle eben nicht nur um opfer handeln könnte. warum ich allerdings die heutigen etablierten staatlichen und sonstigen institutionalisierten gesellschaftlichen apparate durch die bank für ungeeignet (und auch nicht befugt) halte, gegen reales antisoziales verhalten vorzugehen, habe ich an verschiedenen stellen schon öfter deutlich gemacht. und was aus meiner sicht die vielversprechendste alternative zu all dem mist sein könnte? freiwillige kollektive, gebildet aus psychophysisch tatsächlich gesunden - liebes- und beziehungsfähigen - menschen, die sich selbst nach den prinzipien der selbstregulation organisieren. mit weniger sollte sich niemand zufriedengeben.
zum schluß noch etwas wirklich ärgerliches:
(...)"Der Ulmer Hirnforscher Manfred Spitzer und der Zürcher Wirtschaftswissenschaftler Ernst Fehr glauben, dass Menschen tatsächlich nur dann brav sind, wenn ihnen auf die Finger geschaut wird. »Alle bekannten Gesellschaftsordnungen gründen darauf, dass die Verletzung sozialer Regeln bestraft wird«, schreiben sie diese Woche in der Fachzeitschrift Neuron. Nur wenn Strafe droht, kontrollieren wir die spontanen Regungen und verhalten uns regelkonform: Eigennutz ist der vorherrschende Impuls."(...)
dazu verweise ich nur hierauf...
(...)"der schlechte witz an dieser schon tausendmal gehörten falschen gleichung "der mensch (was nebenbei auch die unterschiedlichen rollen von männern und frauen bei diesem trostlosen spielchen unsichtbar macht) = grundsätzlich bestie = muss sich selbst mit verstand und rationalität quasi selbst zügel anlegen und züchtigen, was sich leider niemals hundertprozentig umsetzen lässt= das chaos sickert durch" besteht darin, dass es sich tatsächlich um eine selbsterfüllende prophezeiung handelt, welche der ach-so-aufgeklärte westen bis heute nicht begreifen kann und will."(...)
...sowie auf die dem beitrag folgende kleine diskussion.
das ganze forschungsprojekt scheint mir ein weiteres beispiel für die im wissenschaftsbereich allgemein anzutreffende dissoziierende wahrnehmung zu sein: ich bestreite nicht unbedingt die ergebnisse der forschung, aber ich bestreite die aus dem situativen moment heraus abgeleitete be-deutung - die neuronale konfiguration "eigennutz" entsteht weder aus dem nichts, noch ist sie eine naturnotwendigkeit.
monoma - 8. Okt, 17:14
der Link "hierauf" ist leider kaputt. Könntest Du den nachträglich ergänzen? Danke und viele Grüße,
maloXP