notiz: lesenswertes zur gewalt gegen kinder (update)

den tod des kleinen mädchens neulich möchte ich nicht weiter kommentieren; zu solchen schreckensnachrichten ist im blog in der vergangenheit einiges zu lesen, was für mich auch beim neuen "fall" weiterhin gültigkeit hat. im folgenden aber zum thema an sich einige texte der letzten wochen, die mir aufgefallen sind.

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zum beispiel celestine:

(...)"Celestine erträgt Handwerkermärkte nur schwer. Als die zwölfjährige Berlinerin vor ein paar Monaten in einem Bauhaus war, sah sie in den langen Regalen ein silberfarbenes Klebeband liegen - und musste das Gebäude sofort verlassen. Das Klebeband erinnerte sie an ihr Martyrium, das sie einst mit knapper Not überlebt hat. Weil sie so laut war, hatten ihre Eltern ihr wochenlang, vielleicht länger, mit einem solchen Tape den Mund zugeklebt. Es blieb nur ein kleines Loch, damit sie noch atmen konnte. Soll man sagen: immerhin?"(...)

ich verweise auf diesen artikel, weil darin - wieder einmal - eine fatale dynamik deutlich wird:

(...)"Silke R. erzählt, ihr Vater, ein Justizvollzugsbeamter, habe sie in ihrer Kindheit immer geschlagen, wenn sie schlechte Noten nach Hause gebracht habe: "Am liebsten hat er es dann immer mit der Hundepeitsche getan."

Auch Michael R. sagt, sein Vater habe ihn als Kind dauernd geprügelt. Als er 13 Jahre alt war, sei sein Papa gestorben. "Ich habe das als Wohltat empfunden, dass er gestorben ist."(...)


die trostlose wiederkehr des immer gleichen - es wird re-inszeniert, bis die knochen krachen und sich die seele seufzend in den dunkelsten winkel verzieht. was könnte das hier für eine welt sein, ohne diesen kreislauf des terrors!

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sehr kurz jetzt einige blogperlen, thematisch um ähnliches kreisend: auf alarmschrei viele gute gedanken zum
erbarmen für die niedlichen, wildwuchs steuert kluges zum thema des posens (aka tun-als-ob) bei, und beim pantoffelpunk gibt es einen beklemmenden eigenen erfahrungsbericht. lesen Sie´s.

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edit am 04.12.: auf die schnelle noch ein paar linknachträge, die teils indirekt viel mit dem grundthema dieser notiz zu tun haben. in der gestrigen taz fanden sich im
interview mit dem autor einen neuen biographie zu stalin u.a. folgende passagen:

taz: Herr Montefiore, Sie schildern zu Beginn Ihres Buches die immerwährenden Prügel, die Stalins Eltern ihrem Sohn verabreichten. Welche Bedeutung für die Persönlichkeit Stalins messen Sie dem bei?

Simon Sebag Montefiore: Häusliche Gewalt als erklärenden psychologischen Faktor einzuführen scheint etwas billig. Wie viele Menschen wurden als Kind geprügelt oder hatten einen Vater als Alkoholiker, ohne später zu Tyrannen und Mördern zu werden? Solche Erklärungen sind ähnlich gestrickt wie die These, wir hätten es bei Stalin (oder bei Hitler) schlicht mit Verrückten zu tun. Beide waren sehr effektive Politiker, die das Leben von Millionen Menschen zerstört haben. Sie sind verantwortlich. Man kann sie nicht durch den Hinweis auf Wahnsinn entlasten."


nun, ich würde montefiore korrigieren wollen: häusliche - innerfamiliäre - gewalt als erklärende struktur für das antisoziale handeln von leuten vom schlage eines stalin heranzuführen, ist nicht nur nicht "billig", sondern zum verständnis schlicht unverzichtbar. ebenso handelt es sich nicht um etwas - quasi immaterielles implizierendes - "psychologisches", sondern um die ganz materiellen - u.a. in bestimmten hirnregionen - veränderungen, die solche gewalt produziert.

zweitens: nicht alle opfer werden täter, aber so ziemlich alle täter waren auch opfer. alternativ können diverse selbstdestruktive lebensmuster beobachtet werden, oder im günstigsten fall und ganz primär durch die kraft von authentischen beziehungen ein echter heilungsprozeß. wer nicht das glück hat bzw. hatte, aus einer destruktiven und malignen sozialen matrix durch wenigstens eine derartige beziehung ganz andere erfahrungen machen zu können, kann sich bei entsprechenden milieus und in der entsprechenden historischen situation durchaus als tyrann in den geschichtsbüchern verewigen. auch wenn dieser weg glücklicherweise nur von wenigen beschritten wird, zumindest im massenwirksamen maßstab: jeder ist einer zuviel.

drittens schließen sich verrückt-heit und effektivität - die auch etwas mit objektivistischer intelligenz zu tun hat - keinesfalls aus. und gerade bei einer derartigen konstellation greift der hinweis auf die persönliche verantwortung überhaupt nicht, da dieses konstrukt die psychophysischen besonderheiten von antisozialen menschen eines solchen kalibers schlicht nicht kennt. etwas mehr zu diesem thema in den beiträgen zu
saddam hussein und adolf hitler.

im übrigen finde ich, dass sich montefiore durchaus mit seinem ersten satz der nächsten antwort selbst widerspricht:

"Welche Bedeutung haben die Gewalterfahrungen, die der junge Stalin als Bandit in Georgien machte?

Die "Kultur der Gewalt" ist ein wichtiger Erklärungsfaktor. Die Gegend, in der Stalin aufwuchs, war durchtränkt von körperlicher Gewalttätigkeit, von der Allgegenwart unterschiedlicher Formen von Terror. Ich würde allerdings nicht speziell von einer georgischen, sondern von einer kaukasischen Kultur der Gewalttätigkeit sprechen. Nicht nur deklassierte Gangster bedienten sich gewaltsamer Mittel wie der Erpressung, des Raubes, der Banküberfälle und der Entführung, sondern ebenso Angehörige der Oberschicht: der Typus des Aristokraten als Outlaw. Man übertreibt in diesem Zusammenhang oft die Rolle von Juden in den Reihen der Bolschewiki. Die Zahl und Bedeutung kaukasischer Revolutionäre war hingegen sehr groß - das wäre ein wirklich interessanter Untersuchungsgegenstand."(...)


und die benannte "kultur der gewalt" in der betreffenden region ist - ebenso wie anderswo - nicht zu verstehen ohne die existenz einer ebenso gleichen unkultur der gewalt im umgang mit kindern. nichtsdestotrotz finde ich diesen aspekt von stalins geschichte durchaus interessant und aufschlußreich.

*

in der zeit gibt´s seit ein paar wochen eine kleine reihe zum
ich und du besonders aus der sicht der hirnforschung. populärwissenschaftlich zwar, aber trotzdem lesenswert u.a. wegen solcher sätze, deren bedeutung immer noch zuwenig begriffen wird:

(...)Sicher ist: Ohne Liebe gibt es kein Überleben. Kleinkinder verkümmern oder sterben gar, wenn sie Nahrung, aber keine Liebe bekommen. Selbst von ihren Müttern getrennte Affenbabys hungern lieber, statt auf Geborgenheit zu verzichten, und ziehen eine künstliche Amme mit Kuschelfell einer Drahtfigur mit Muttermilch vor. Das Sehnen nach dem Du bleibt nach der Kindheit bestehen, ein Leben lang. Vor allem aber die ersten Lebensjahre haben Einfluss darauf, wie sehr später das Bedürfnis nach Nähe ausgeprägt ist. Je nachdem wie liebevoll, hilfreich und prompt Eltern auf ihr Kind reagieren, lernt es, sich an einen anderen Menschen zu binden, Angst vor Zurückweisung zu haben oder zu viel Nähe zu fürchten."(...)


*

noch grundlegender wird es in einem interview im
freitag zum thema: Was hat der Fellverlust des Menschen mit Schizophrenie zu tun? ein interessantes gespräch über psychiatrie, anthropologie und die sozialität des menschen.

*

und zum ende schließt sich der kreis: momentan sind wieder lange passagen aus deMauses "das emotionale leben der nationen"
online zu lesen. tipp! und da vor allem das kapitel Die Ursprünge des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust in deutscher Kindeserziehung. speziell dieses kapitel ist für eine längere kommentierung schon vorgemerkt. wenn Sie z.b. wissen möchten, woher die landesspezifische unfähigkeit zu revolutionen und die deutsche autoritätshörigkeit letztlich ihre wahrscheinliche basis haben - hier finden Sie plausible erklärungsansätze.
wildwuchs (Gast) - 6. Dez, 11:50

es freut mich, wieder was von dir zu lesen, auch wenn die fülle der verknüpfungen mich im moment etwas benommen macht. gestern abend hab ich auf arte einen film gesehen .... muss mal eben nachschauen, wie er hiess (er hiess eisiges land)..... ich hab ihn nicht von anfang an gesehen und war anfangs geneigt, den kasten wieder auszumachen, aber dann fesselte mich der streckenwiese ziemlich brutale film dennoch, weil er in seinen handlungssträngen auf sehr bizarre weise auf die inneren muster der protagonisten bezug nahm und sie ineinander verstrickte. es ist die vielheit der verknüpfungen und verstrickungen, die mir das gefühl von dumpfheit und benommenheit geben - nein, ich bin nicht depressiv, aber wenn ich mir dieses eisig-neblige geflecht bewusst mache, dann bin ich für den moment unendlich traurig. wütend werde ich erst wieder, wenn ich mich, wie am ende des films geschehen, wieder auf die ebene des fragens begebe. denn dann sehe ich eine kultur vor mir, die diesem entwürdigenden treiben auch noch sinn damit verschafft, dass es den sinn des lebens auf ein leben nach dem tod verschiebt - immer noch und immer wieder!!! dabei greift dieser 'menschengemachte' tod bereits in so vielfältigen ausprägungen nach dem einzelnen leben..... die hierarchie setzt sich ins unendliche fort. mir scheint, wir leben in einer kultur, die sich die selbstzerstörung auf die fahne geschrieben hat. das schlimme: wir rechtfertigen diese zerstörung auch noch und sind auch noch stolz drauf.

ach ja, noch eine ergänzung zu deinen ausführungen. ein bereich, der in der 'kultur der gewalt' neben den häuslichen gewalthandlungen, eine nicht zu unterschätzende rolle spielt, dürften die auf 'autorität und gewalt in allen facetten aufbauenden arbeitsverhältnisse' sein.

lg

monoma - 8. Dez, 13:07

ja, trauer, wut und auch angst sind völlig realistische reaktionen auf diese zustände. wobei mir die letztere z.t. als erwünscht und produziert vorkommt - kaum etwas kann pathologische systeme wirkungsvoller stabilisieren. ängste auf ein maß zu bekommen, bei dem sie nicht ständig als blockade für soziale interventionen wirken können, scheint mir eines der dringlichsten projekte für alle zu sein, denen grundsätzliche soziale veränderungen wichtig sind.

und eine ergänzung zu deiner ergänzung noch: bei dieser frage sehe ich eine deutliche hierarchie - die sog. arbeitswelt baut auf den innerfamiliären disziplinierungstechniken auf, und bietet sich als bereich an, um dort ebenfalls im großen maßstab zu re-inszenieren.

grüße zurück,
mo
Lotta (Gast) - 6. Dez, 20:30

Danke für den deMauses-Hinweis. Mal wieder sehr interessant hier, was du schreibst und verlinkst.

Wednesday - 7. Dez, 10:09

Es waren Frauen, die am Mythos Mutterliebe scheiterten.

monoma - 8. Dez, 13:09

danke für den link, der einige thesen enthält, die ich als diskussionswürdig empfinde. mal sehen, ob ich es schaffe, den noch mal aufzugreifen.

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