kontext 37: "...nicht grundsätzlich gefühllos..."

beim überfliegen eines prozeßberichtes anlässlich des hungertodes der kleinen jacqueline bin ich über ein paar passagen gestolpert, die nicht nur wieder mal die ganze hilflosigkeit justizieller reaktionen auf ein solches geschehen deutlich machen, sondern auch sonst etliche fragen aufwerfen:

(...)“Ihre Mutter trug das ausgemergelte, vollkommen dehydrierte und unterernährte Kind zu einer Ärztin und tat verwundert, als diese nur noch den Tod des Mädchens feststellen konnte. Zu diesem Zeitpunkt wog Jacqueline nur noch sechs Kilogramm. Kinder in diesem Alter wiegen üblicherweise das Doppelte.

Bis zum Tag der Geburt hatte die 22-Jährige die Schwangerschaft mit Jacqueline verschwiegen - sogar dem Vater. "Wir müssen ins Krankenhaus, ich glaube, ich kriege ein Kind", soll sie ihrem verdutzten Ehemann am 14. Januar 2006 gesagt haben. Wenige Stunden später kam Jacqueline zur Welt. "Ich weiß es erst seit heute morgen", sagte der überraschte Vater gegenüber einer Hebamme im Kreißsaal. Jene Hebamme bestätigte auch, dass das Unvorstellbare möglich war: Selbst sie habe bei Judith H. äußerlich keine Schwangerschaft erkennen können. Durch psychische Einflüsse sei es in Ausnahmefällen möglich, dass bei verdrängten Schwangerschaften keine äußeren Anzeichen zu erkennen seien.“(...)


die im letzten satz genannte information ist für mich persönlich neu, aber durchaus vorstellbar. aber bei einem solchen geschehen stellen sich beim heutigen wissensstand sofort fragen nach der
pränatalen beziehung – oder in diesem fall besser: dem verhältnis – von dieser mutter zum kind. soll man bei einem szenario wie oben dargestellt wirklich von einer liebevollen und beziehungsfähigen mutter ausgehen, wenn das ausmaß der verdrängung - in diesem fall ebenfalls vielleicht angebrachter: ablehnung - gegenüber dem fötus die schwangerschaft bis in die (sichtbare) körperliche ebene derart massiv zu beeinflussen imstande ist? die argumente für die antwort „nein“ verstärken sich beim folgenden:

(...)“Von Jacquelines erbärmlichen Zustand will er nichts mitbekommen haben. Seine Frau hatte das vor Gericht bestätigt und ein schriftliches Geständnis abgelegt: "Ich selbst trage die Schuld, dass meine Tochter sterben musste." Sie habe keine Beziehung zu ihrem Kind aufbauen können. "Ich versuchte, sie zu versorgen, wusste aber sonst wenig mit ihr anzufangen. Ich konnte nicht mit ihr schmusen oder sie lange auf den Arm nehmen." Nach der Geburt sei sie voller Panik gewesen, dass sie nun für dieses Kind die Verantwortung tragen. "Ich wollte nur noch schlafen und versuchte, die Kleine mechanisch zu versorgen."(...)

besonders leserInnen von mertz´ borderline-buch werden vielleicht beim anblick dieser sätze ein ebenso unheimliches déjà vu verspüren wie ich – fast haargenau gleichen sich die aussagen in einem ausführlichen fallbeispiel, anhand dessen mertz die nicht-beziehung einer borderline-mutter (in seinem modell gleichbedeutend mit einer simulationsfähigen autistischen mutter) prä-, peri- und postnatal zu ihrem kind deutlich macht. und das wort „mechanisch“ ist in diesem zusammenhang durchaus treffend: die angeklagte mutter befand bzw. befindet sich mit sehr großer wahrscheinlichkeit in dem bewußtseinsmodus, den ich hier im blog mit dem attribut objektivistisch bezeichne – ein modus, der bei dominanz in einem menschen dazu tendiert, alles lebendige zu verdinglichen – mit regelmäßig katastrophalen folgen.

ebenso habe ich mich schon öfter darüber aufgeregt, dass sowohl orthodoxe psychiatrie als auch justiz von solchen verhältnissen nichts wissen wollen – und lieber auf simulationen hereinfallen:

(...)“Nach Ansicht der Kammer hat die 22-Jährige bewiesen, dass sie nicht grundsätzlich gefühllos war. Zeugen hatten bestätigt, dass die Hausfrau durchaus zärtlich zu ihrem Kind war.“(...)

ich frage mich allerdings, was das für zeugen gewesen sein könnten. etwa die, deren wahrnehmungs(un)fähigkeiten im anschluß zur sprache kommen?

(...)“Nie habe man die Eltern mit ihrem Kind gesehen, immer nur mit den Hunden. "Schlimm, dass wir das alle nicht gemerkt haben."
Das betonte auch Richter Gaßmann in der Urteilsbegründung und wandte sich an Familienangehörige und Freunde: Warum haben sie nicht nachgefragt, wo Jacqueline ist oder haben sich abwimmeln lassen? Warum hat niemand insistiert?“(...)


vielleicht deswegen, weil die mutter, die so erfolgreich ihre schwangerschaft verdrängt hat, trotzdem durchaus „zärtlich“-mechanisch mit ihrem kind umgegangen ist? die eltern scheinen bezgl. ihrer sozialen unfähigkeiten das passende soziale milieu gefunden zu haben. und der offensichtliche widerspruch in den zeugenaussagen hat keine weitere rolle gespielt.

ebenso unentschuldbar und eigentlich schon ein kunstfehler seitens des gutachters, dass die pränatale phase mit ihren auffälligkeiten offensichtlich weder im psychiatrischen gutachten noch – zwangsläufig als folge – in der juristischen bewertung eine rolle gespielt hat. ich wäre ja gerne bei diesem prozeß dabei gewesen, um unmittelbar sinnliche eindrücke von allen beteiligten zu bekommen – wenn ich mich aber auf die berichterstattung verlasse, wäre das allerdings wahrscheinlich das äquivalent zu einer fiesen geisterbahnfahrt geworden...

die ganze sache jedenfalls hat mich so beschäftigt, dass ich nach weiteren fragmenten recherchiert habe, die vielleicht eine genauere aufklärung erlauben – bei berichten aus den mainstreammedien eine immer wieder undankbare aufgabe, da solche berichte regelmäßig entweder unter „panorama“ oder „blick in die welt“ als quasi zerstreuende unterhaltungslektüre gepackt und ebenso regelmäßig von ihren sozialen, kulturellen und politischen hintergründen gelöst werden. mit dieser einschränkung im hinterkopf sind die folgenden fragmente zu lesen – hier das
erste :

(...)“Die Mutter sei lethargisch und von ihrer Ehe enttäuscht gewesen, weil ihr Mann sie nur als Sexobjekt gesehen habe.“(...)

den vater habe ich bisher außen vor gelassen, aber nicht nur die obige aussage – selbst wenn sie als eine art schutzbehauptung fungieren sollte – macht deutlich, dass sich der mann gleichfalls in einem überwiegend objektivistischen modus befunden haben muss. wäre übrigens bei solchen menschen hinsichtlich der partnerwahl nichts überraschendes – die selbst- und fremdverdinglichung ist etwas gewohntes, und so müssen beide nicht auf die idee kommen, etwa ihren zustand aufgrund der irritationen des jeweils anderen infrage stellen zu müssen.

eine weitere
quelle :

(...)“Die Eltern haben nach Erkenntnissen der Polizei Cannabis und Amphetamine genommen,...“(...)

das könnte irrtümlicherweise zu dem schluß verleiten, hier handele es sich um typische und partiell verwahrloste junkie-eltern, was als aussage auch regelmäßig impliziert, die drogen wären ursächlich verantwortlich. das aber ist selbst bspw. bei gewohnheitsmäßigen fixern regelmäßig unsinn – suchtstrukturen und drogenabusus sind in aller regel sekundäre phänomene, die auf einer bereits geschädigten psychophysischen verfassung „aufsitzen“, und da im bereich von traumata und/oder den persönlichkeitsstörungen wie borderline auch durchaus als versuche der selbstmedikation angesehen werden können, ebenso häufig aber die ursprünglichen beziehungsprobleme nur verstärken – was bei cannabis in einem solchen fall wie hier bedeutet, dass eine tödliche gleichgültigkeit offen herauskommt, während amphetamine durchaus in der lage sind, tendenzen sozialer / beziehungsunfähiger kälte stärker herauszuarbeiten. die drogen passen in diesem fall jedenfalls zum gesamtkontext.

weiter mit der letzten quelle:

(...)“Seit geraumer Zeit habe das Ehepaar niemanden mehr ins Haus gelassen, sagte ein Polizeisprecher. Polizisten fanden die Wohnung völlig verwahrlost vor. Nach Angaben der Ermittler herrschten "chaotische Zustände". Die beiden Hunde hätten keine Zeichen von Vernachlässigung gezeigt.“(...)

selbst bei berücksichtigung von vielleicht übertrieben bürgerlichen vorstellungen von häuslicher ordnung teile ich in diesem fall die polizeiliche wertung. gleichfalls wird eine nicht mehr überraschende soziale isolation sichtbar. die nächste information jedoch wirft wieder einige fragen auf:

(...)“Die Frau hat bereits ein vier Jahre altes Kind, das zur Adoption frei gegeben worden war.(...)

auch das spricht erstens nicht unbedingt für die beziehungsfähigkeiten der mutter; zweitens aber wäre es zu einer realistischen einschätzung des ganzen zustandes der mutter eigentlich nötig, auch die verfassung dieses kindes genau zu betrachten – wie hat dieses kind eine solche familienstruktur bisher überstanden, und mit welchen folgen? ich möchte bezweifeln, dass sich die oder der zuständige gutachter mit dieser frage beschäftigt hat – einfach aus der kenntnis der dissoziierenden theorie und praktisch der etablierten psychiatrie heraus. dabei wäre es eigentlich notwendig, dass sich gutachter in solchen fällen auch mit solchen
ansätzen wie im link vorgestellt auskennen, und dann dem adoptierten kind auch vielleicht bei aussagen wie den folgenden zuhören könnten:

(...)“ Anfangs beschäftigt sich die Autorin mit der Frage, was Borderline-Mütter, die sie „Als-ob-Mütter“ nennt, in ihren Kindern auslösen. Folgende Gedanken nennt sie als typisch für Kinder mit einer Borderline-Mutter: „Ich weiß nie, was mich erwartet.“ „Ich vertraue ihr nicht.“ „Sie sagt, es ist nichts geschehen.“ „Bei ihr fühle ich mich schrecklich.“ „Alle andern denken, sie sei ganz großartig.“ „Es geht immer um alles oder nichts.“ „Sie ist so negativ.“ „Sie flippt aus.“ „Manchmal kann ich sie nicht ausstehen.“ „Sie macht mich verrückt.“(...)

als-ob-mütter – das trifft es schon. aber bereits die anerkennung der existenz solcher mütter mit allen ernsten implikationen nicht nur für das herrschende mütter-, sondern auch für unser gesamtes menschenbild ist für diese gesellschaft offensichtlich immer noch too much. die vielfältigen konsequenzen aus dieser verweigerung tragen wir immerhin gerechterweise alle.

*

eine art zusammenfassung der – juristisch relevanten – informationen dann in der
letzten quelle , die ich zitieren möchte:

(...)“Das Mädchen war im März vergangenen Jahres verhungert und verdurstet, nachdem ihre Eltern die Pflege und Versorgung des Kindes weitgehend eingestellt hatten. Die Mutter habe gesehen, wie sich Jacqueline von einem blühenden Lebewesen zu einem Kind mit einem Greisengesicht entwickelt habe, sagte der Richter.
Das Mädchen war so wund, dass sich die Haut zwischen Knien und Nabel ablöste. "Dass dies eine Qual für das Kind war, sah die Angeklagte", sagte Gaßmann. Trotzdem habe sie aus einer "sehr großen Überforderung" heraus keine Hilfe geholt.(...)

(...)Der Mann habe auch um den Zustand des Hauses gewusst, das die Polizei später völlig vermüllt vorfand.
"Er hätte dem Kind helfen müssen", befand der Richter: "Das kann er nicht auf seine Frau abschieben." Diese hatte ihm immer wieder gesagt, dass Jacqueline schlafe, wenn er nach ihr fragte. Zu seinen Gunsten nahm das Gericht an, dass der Vater nicht wusste, wie es im Kinderzimmer aussah. Dort lagen zahllose verschmutzte Windeln.(...)

(...)Nach ihrer Überzeugung haben die Eltern des Mädchens die Versorgung des Kindes eingestellt, weil sie sich lieber um ihre eigenen Interessen kümmern wollten. Die Hunde und Fische der Familie seien wohl genährt gewesen.“(...)


stichwort herrschendes mütterbild: selbst wenn eine mutter ganz offensichtlich mehr oder weniger unberührt ihrem leidenden kind zuschaut, darf das laut den herrschenden vorstellungen keine grundsätzlichen fragen nach der allgemeinen beziehungs- und liebesfähigkeit einer solchen mutter aufwerfen – sie holt sich dann keine hilfe wg. „einer sehr großen überforderung“. hallo? selbst bei schweren ökonomischen problemen – die hier noch nicht mal eine rolle gespielt haben – sind beziehungsfähige mütter in aller regel daran existenziell interessiert, für sich und ihr kind die notwendige hilfe zu holen. scham? ja, gibt es – aber überlegen Sie mal selbst: was bedeutet es denn eigentlich, wenn eine vorhandene scham – in form von „was werden die leute sagen?“, „bin ich eine schlechte mutter?“ und dergleichen – dazu führen sollte, das selbst geborene kind lieber erbärmlich sterben zu lassen und zu verschweigen – und zwar nur, um das selbstkonstruierte image nach innen und außen zu wahren? ganz recht: es bedeutet, das der schein, das objektivistisch konstruierte bild, welches eine solche mutter von sich hat und nach außen abgeben möchte, wichtiger als die realität ist, in der ganz real ein kind verhungert.

seltsam zwiespältig: die mutter wird derart gleichzeitigt entschuldigt, bei der strafe aber verstärkt bedacht. das weist meiner meinung nach deutlich auf einen gesellschaftlichen entlastungsprozeß hin: die „böse mutter“, die „eigentlich“ nicht böse ist (sein soll), aber trotzdem härter bestraft wird als der in meinen augen gleichfalls im großen maße mitverantwortliche mann (was ist das für ein vater, der sich angeblich so vom betreten des kinderzimmers abhalten lässt? der für hunde und fische mehr interesse aufbringt als für ein kind? bei seinen geschilderten tränen im prozeß jedenfalls bleibt sehr offen, aus was für einer motivation sie eigentlich geflossen sind). derart jedenfalls wird sowohl der gesellschaftlichen als auch der justiziellen konvention genüge getan – ohne, dass etwas grundsätzlich falsches an diesen konventionen angetastet werden müsste.

in diesem konkreten fall jedenfalls dürfte es tatsächlich der staatsanwältin gelungen sein, sich der kalten und traurigen realität hinter dieser geschichte noch am deutlichsten zu nähern. natürlich ohne weitere konsequenzen – denn gesellschaftlich müsste ganz rational und auch emotional eigentlich ein starkes interesse daran bestehen, die bedingungen von derartigen „fällen“ erstens ganzheitlich zu verstehen, um dann zweitens im interesse aller beteiligten wirksame prävention zu entwickeln. da letzteres aber aller wahrscheinlichkeit nicht geht, ohne die derzeitigen pathologischen gesellschaftlichen verhältnisse auf breiter – ganz breiter – basis elementar zu verändern, und dazu noch der aspekt der bloßen rache bei der strafjustiz unausgesprochen eine hauptrolle spielt, bleibt hier wieder mal alles auf der ebene einer als-ob-bewältigung. die bedingungen im knast jedenfalls sind bestens dazu geeignet, aus den eltern ganz offene soziopathen zu machen. und alles zusammen lässt sich auch als weiteren ausdruck der neulich thematisierten
deutschen zustände ansehen, die in ihrer ganzen verwahrlosung und bedrohlichkeit noch kaum begriffen worden sind.

* * *

in eigener sache: den angekündigten beitrag zur jugendgewalt möchte ich erst mit abstand nach den morgigen
demokratiesimulationen veröffentlichen – ich halte das thema für wichtig genug, um auch jenseits des derzeitigen medialen hypes dran zu bleiben. und als eine art vorbereitung sowie auch als ein antwortversuch zu den vor einiger zeit gestellten fragen nach möglichen zusammenhängen zwischen asperger-autismus, alexithymie und soziopathie wird davor noch ein weiterer basis-beitrag zur letzteren folgen.
monoma - 26. Jan, 20:50

okay, problem behoben -

danke dafür nochmal an die kobolde ;-)

Wednesday - 27. Jan, 10:30

Wenn ich überlege, wie aufgebläht viele Mütter kurz vor der Geburt sind, kann ich überhaupt nicht verstehen, daß die äußerlichen Merkmale eine Schwangerschaft dermassen unterdrückt werden können, ich kann mir das auch anatomisch gar nicht vorstellen (das Kind beansprucht auch Platz um sich zu bewegen, es liegt ja nicht einfach nur herum) und dachte, nur sehr dicke Frauen könnten eine Schwangerschaft "unsichtbar" machen. Im Netz hab ich nichts dazu gefunden und werde mal den Gynäkologen dazu befragen; dafür fand ich aber eine kleine Diskussion darüber, ob der Körper der Schwangeren den Foetus als Fremdkörper, als Parasiten gar, begreift und ihn deshalb durch die Geburt "abstösst":
> http://www.faktor-l.de/viewtopic.php?p=14879
Ich finde es faszinierend, welchen (durchaus nachvollziehbaren) Wahnvorstellungen wir immer wieder unterliegen und wie mühselig es ist, sich von jahrtausendealten Traditionen zu trennen. Menschwerdung, eine schwere Geburt...

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