notiz: eine antwort

da dieser kommentar zu meinem letzten beitrag unten doch so einiges enthält, was imo für die hier diskutierten themen von belang ist, möchte ich in einem extrabeitrag darauf antworten.

*

Ich verstehe Ballards Äußerungen nicht dahingehend, daß der Mensch eine Bestie sei oder ein inneres Tier enthalte, das gezähmt werden müsse, sondern nur als Reaktion auf die Naivität jener vermeintlich aufgeklärten Denker, die in Opposition zur Kirche (der Mensch sei nur böse) das andere Extrem (der Mensch sei nur gut) gepredigt haben und heute noch predigen.

hm, egal unter welcher perspektive ich ballards position auch betrachte: in meinen augen bezieht er sehr deutlich die kritisierten positionen, egal ob er davon redet, dass "der mensch" nicht "komplett zivilisierbar" wäre, oder auch ein "bedürfnis" nach "sinnloser gewalt" suggeriert. er kritisiert natürlich auch die sog. aufklärung aus diesen positionen heraus - aber eben mit einer imo falschen und unberechtigten begründung (ich kritisiere "die aufklärung" auch, aber mit einer anderen intention).

Richtig ist, daß jeder Mensch beides zugleich ist und auch unter den allerbesten gesellschaftlichen Verhältnissen ständig seine Mitmenschen frustriert.

zum ersten punkt: hätten Sie statt "ist" "besitzt optionen in richtung sozial konstruktives wie destruktives verhalten, die jeweils durch individuelle wie kollektive psycho-bio-soziale einflüsse getriggert werden" geschrieben, wäre es inhaltlich imo zutreffender. die verbreitete rede davon, dass es ja in uns allen "engelchen und teufelchen" geben würde, ist zu ungenau und zu kurz gedacht. und dient nebenbei, so meinem eindruck, auch als selbstberuhigungspille. zum zweiten aber: unglück, schmerz, frustrationen und leid gehören zum leben dazu, sicherlich. aber es gibt imo einen entscheidenden unterschied zwischen menschengemachtem - und in aller regel nicht notwendigem unglück und bspw. der trauer über den unausweichlichen tod von geliebten menschen, oder auch die schmerzen, die krankheiten oder naturkatastrophen auslösen können (in diesem zusammenhang ist es imo auch interessant, dass in der psychotraumatologie immer und immer wieder auf relevante merkbare unterschiede zwischen traumata bspw. durch eine naturkatastrophe oder einen unfall auf der einen und den folgen von sog. man-made-violence auf der anderen seite hingewiesen wird - folgen, die sich deutlich in unterschiedlichen schweregraden von symptomen und auch in den unterschiedlichen prognosen für beide gruppen von betroffenen niederschlagen. nichts verletzt mehr, als zwischenmenschliche gewalt - und wenn sie gar von sog. vertrauenspersonen, wie z.b. familienmitgliedern ausgeht, sind die folgen noch verheerender. was für mich bedeutet, dass ethisch-moralische fragen, die schuldfrage u.a. einen unterschied machen, der sich womöglich sogar neuroanatomisch manifestieren kann.)

um aber wieder zurückzukommen: frustrationen entstehen dabei eigentlich erst - und vielleicht nur - dann, wenn die in uns angelegten möglichkeiten eines konstruktiven umgangs damit (der imo auch durchaus aggressives verhalten, nicht gegen sich selbst oder andere, sondern einfach als ausdrucksmöglichkeit von schmerz und wut, enthalten kann), nicht oder nur unzureichend gefördert, aktiviert und auch toleriert werden. in dieser kultur wird diesen optionen immer noch zu oft rein repressiv und angstbesetzt begegnet.

Paart sich ein Menschenmann mit einer Menschenfrau, frustriert er damit andere Menschenmänner und -frauen. Erlegt er ein Wild, frustriert er denjenigen, der keines erlegt hat. Will sich eine Menschenfrau nicht mit einem Menschenmann paaren, fühlt er sich zurückgesetzt. Paart er sich dennoch mit ihr, fühlt sie sich vergewaltigt.

ich halte diese beispiele für ziemlich konstruiert, ganz ehrlich gesagt. wir leben zum großteil in der westlichen welt nicht mehr unter solchen bedingungen. und Ihre implizite begründung von vergewaltigungen in Ihren sätzen gefällt mir erst recht nicht - vergewaltigungen entstehen nicht, bzw. nicht primär, aus einem gefühl von zurücksetzung. dazu: eifersucht (mal als frustration betrachtet) ist zwar emotional aufrüttelnd, muss aber imo weder für die betroffene person selbst noch für andere menschen diese teils so drastischen folgen bis hin zu morden haben, wie wir sie immer wieder vorgesetzt bekommen. ich hatte es im anderen beitrag schon erwähnt: selbstregulation ist der begriff für fähigkeiten, sich auch in komplexen, schwierigen bis schmerzhaften sozialen situationen angemessen und nicht destruktiv, aber selbstbewußt und angemessen zu verhalten und behaupten zu können.

Gebiert sie ihre Kinder, so setzt sie diese dem Geburtstrauma aus.

das stimmt schon faktisch nicht. ob ein geburtstrauma entsteht, ist voll und ganz von vielfältigsten sozialen einflüssen abhängig, und keine determinierte geschichte. dabei spielt das verhältnis einer gesellschaft zu ihren frauen und kindern, zu schwangerschaft und geburt, ihr dominantes weltbild, das wissen über die bedeutung der pränatalen phase und etliches mehr eine rolle. lesetipp dazu: die arbeiten von jean liedloff.

(...)Wie ambivalent der Mensch (und nicht nur er!) ist, zeigt bereits das Wort Aggression. Das Verb, aus dem es entstanden ist, bedeutet nämlich im Lateinischen zweierlei: 1. freundlich auf jemanden zugehen, 2. feindlich auf jemanden zugehen.

das in "unserer" kultur, und drastischer womöglich noch in den usa, aggressionen grundsätzlich als negativ geächtet sind und viele menschen angst vor ihren eigenen aggressionen und denen der anderen haben; trotzdem die bösartigsten verbrechen der planetaren historie eben innerhalb dieser kultur entstanden sind - ist das nicht gerade eher als beleg für ein grundsätzliches ungleichgewicht zu sehen, welches produziert ist und wird, aber eben auch in solchen argumenten wie von Ihnen (oder auch ballard) als quasi natürliche determinierung ausgegeben wird?

Dies ist auch die Ambivalenz der Sexualität. Auch der allerfriedlichste Mensch kann unter den allerbesten Verhältnissen nie nur gut sein.: was bedeutet, daß jede Gesellschaft tatsächlich Mittel und Wege finden muß, die notwendigerweise überall schwelenden Aggressionen in Schach zu halten.

genau das meinte ich in meinem letzten absatz - die "schwelenden aggressionen", die "in schach" zu halten sind. ich behaupte, dass ein solcher zustand erst dann eintreten kann, wenn das kind sozusagen schon in den brunnen gefallen ist. und der einzelne mann und die einzelne frau bereits grundsätzlich in eine opposition zu sich selbst getrieben worden sind, mithin die elementare spaltung stattgefunden hat (es gibt nicht nur eine innere spaltungsmöglichkeit, aber diese mitsamt dem folgenden mißtrauen gegen sich selbst - was übrigens auch einen grundsätzlichen angriff gegen die eigene liebesfähigkeit unweigerlich zur folge hat - scheint mir die zentrale zu sein).

der umgang mit aggressionen negativer art kann imo vielleicht sogar auch durchaus mit spielerischem ernst stattfinden und ein tatsächliches, aber nicht sozial zerstörerisches ausagieren bedeuten.

Daß diese simplen Tatsachen so lange vernachlässigt wurden, hat viele Gründe, hängt aber nicht zuletzt mit der Verkitschung der Sexualität zur Liebe zusammen. Daß auch der allerliebste Mensch, wenn er sich mit einem anderen allerliebsten Menschen paart, nicht nur love & peace zelebriert, hat den Obernarzißten Wilhelm Reich (von dem jeder gebildete Pädo weiß, weshalb er sich so wunderbar auf ihn berufen kann) und seine Jünger nie gestört. Sie haben die Sexualität zum Guten schlechthin hochstilisiert: und damit etwas zur Religion erhoben, wovon die Menschen früherer Zeiten sehr viel mehr wußten: nämlich daß es immer auch frustrierend, also 'böse' ist und gar nicht anders sein kann, sogar für ein 'glückliches' Paar. Post coitum omne animal triste.

verkitschung? ich glaube eher, dass in diesen kulturellen formen, die Sie dazu vermutlich im sinn haben, eher eine verstümmelte und verzerrte, mehr geahnte als bewußte sehnsucht nach etwas zum ausdruck kommt, was ich als grundsätzlich andere möglichkeit des lebens bezeichnen möchte. in bezug auf sex: liebevoller sex kann auch wild sein; lust muß nicht zwangsläufig daran gebunden sein, dass sich zwei menschen gegenseitig zu objekten machen und ihre lustgefühle letztlich aus macht- bzw. ohnmachtsgefühlen oder den re-inszenierungen solcher situationen holen müssen (was vielleicht am deutlichsten in s/m-praktiken zu sehen ist, die imo fast nichts mit sexualität, aber fast alles mit machtverhältnissen zu tun haben. lesen Sie einmal in borderline-foren zu diesem thema, ist eine lehrreiche erfahrung).

reich wird imo übrigens bis heute mißverstanden, wobei er tatsächlich den fehler gemacht hat, den sex als metapher für psychophysische entladung schlechthin zu setzen. dazu ist sein modell recht mechanistisch, und trotzdem hat er meiner meinung imo etwas sehr richtiges und wichtiges eher intuitiv erfasst, nämlich die zusammenhänge innerhalb der "körperpsyche" (als zwei seiten ein und der gleichen struktur gedacht, mir fällt kein anderes wort dafür ein) als basis für jedwede soziale machtverhältnisse zu begreifen.

Und noch etwas anderes haben die Menschen früherer Zeiten sehr genau gewußt. Das Wort Teufel kommt bekanntlich von diabolos; und der diabolos ist der Entzweier. Als 'böse' gilt alles, was die Menschen entzweit. Und wie sehr wir auch das Leben preisen mögen: Fakt ist, daß es mit einem äußerst schmerzhaften Akt der Entzweiung beginnt; mit einem Trauma also, das die Grundlage der Borderline-Struktur jedes Menschen und damit auch jeder menschlichen Gesellschaft ist. Zumal die monotheistischen Religionen sind ein Versuch gewesen, sich diese Struktur zu erklären. Wohin sie uns geführt haben, wissen wir. Doch im Kern sind diese Religionen realistischer als die Religion der Aufklärung: eben weil sie die Ambivalenz des Menschen anerkannt haben. Darin steckt ihre Weisheit, mit der die meisten Religiösen aber genausowenig leben können wie mit den Weisheiten der Aufklärung.

zum geburtstrauma und dessen nichtnotwendigkeit habe ich weiter oben schon etwas gesagt. daraus eine grundsätzliche borderline-struktur abzuleiten, ist imo einmal von der sache her unberechtigt, zum anderen aber auch zu simpel gedacht.

Fazit: De facto steckt in jedem Menschen und in jeder menschlichen Gesellschaft etwas ungeheuer Destruktives.

und damit geben Sie perfekt das wieder, was ich im ursprünglichen beitrag als vielleicht erfolgreichste ideologie aller zeiten benannt habe - dieses destruktive wird durch soziale verhältnisse produziert, und das lässt sich mittlerweile immer besser verstehen. im übrigen ist es eine typische anmaßung der westlichen kultur, die eigene deformierung gleich als anthropologische konstante und damit als allgemeingültiges zu setzen - nicht in allen bekannten menschlichen gesellschaften auf diesem planeten waren (und sind) mord und totschlag etwas unausweichliches. das ist schlicht und einfach eine lüge! aber diese kultur hier weigert sich bis heute, diese fakten mit ihren konsequenzen anzuerkennen - dann müsste sie nämlich genau die tatsache, dass sie selbst das bösartige potenzial produziert, welches sie heuchlerisch beklagt, als realität anerkennen - und damit wäre sie erledigt.

Und wie man es auch nennen mag: es muß von jeder Gesellschaft in Schach gehalten werden, weil es den Frieden auf Erden nicht geben kann, sondern im kleinen wie im großen bestenfalls ein Gleichgewicht des Schreckens. Damit müssen wir leben. Und wer diese von Schopenhauer am besten dargestellte Realität anerkennt, kann auch damit leben. Wer jedoch meint, das Böse leugnen oder eliminieren zu können, hat uns noch immer Krieg & Terror gebracht.

zu Ihren schlußfolgerungen sei gesagt, dass ich sie - selbstverständlich - nicht teile. aber im letzten satz sprechen Sie einen wichtigen punkt an. wobei es sich dabei auch eher um das produkt einer spaltung handelt, die ebenfalls sozial produziert wird. ich leugne nicht die existenz von destruktiven energien, strukturen und verhaltensweisen in dieser gesellschaft, und versuche auch nicht, sie als etwas grundsätzlich fremdes von mir fernzuhalten. gerade aber dieser versuch, sich selbst als qualitativ gutes zu konstruieren (und damit von außen implantierten selbstbildern und befehlen zu entsprechen, unter akzeptanz des verlustes des eigenen selbst) - gerade dieser versuch ist ursächlich an dem von Ihnen erwähnten ständigen "krieg gegen das böse(TM)" beteiligt und stellt imo eine quelle dafür dar. aber auch das hat eben nichts mit einer, auch von Ihnen implizit behaupteten, zutiefst negativen und destruktiven "natur des menschen an sich" zu tun. kein baby (mit einigen ausnahmen, die noch thema sein werden, aber ebenso etwas mit den sozialen verhältnissen zu tun haben) kommt zur welt mit derartigen antisozialen und destruktiven verhaltensweisen, wie sie in dieser kultur seit jahrhunderten - und verstärkt und perfektioniert seit der sog. wissenschaftlichen aufklärung - zu beobachten sind. diese aufklärung ist selbst eher mit ihrer einseitigen betonung auf vernunft und verstand eine quelle des problems, sie produziert es mit - aber anstatt das anzuerkennen, wird lieber in schlechtester mystifizierender tradition das grundsätzlich "böse" im menschen beschworen - und damit das eigene nichtstun gerechtfertigt, die eigene verantwortlichkeit negiert. und mit Ihrer argumentation machen Sie aus meiner sicht nichts anderes.
Quirinus (Gast) - 11. Sep, 03:47

Aus Zeitgründen

nur Dank für Ihre Antwort und dies: daß ich durchaus und definitiv nicht behaupte, die Struktur des Menschen sei zutiefst negativ und destruktiv. Dächte ich es, dann würde ich es auch explizit sagen. Ich denke es aber nicht und habe deshalb nur geschrieben, daß sie eine ambivalente ist, die sich je nach den Bedingungen, unter denen ein Mensch ausgetragen, geboren und sozialisiert wird, in die eine oder andere Richtung entwickeln kann. Deshalb stimme ich Ihnen zu, wenn Sie sagen, daß das Pathologische der heutigen Zivilisation nicht einer 'natürlichen' Pathologie aller enschen entspricht, sondern sich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen entwickelt hat. Daß sie sich haben entwickeln können und unter bestimmten Umständen 'normale' Menschen zu Bestien werden können, spricht jedoch dafür, daß zur 'normalen' Grundausstattung jedes Menschen, auch des Gesündesten, das Destruktive (das ich nicht von vornherein als negativ betrachte) gehört. Unter 'normalen' Umständen hält es sich in Grenzen, dient also der Arterhaltung, etwa indem es uns dazu befähigt, ein uns genetisch nahestehendes Tier oder einen Angreifer töten zu können; unter pathologischen hingegen führt es zur Zerstörung unserer Lebensgrundlagen bis hin zur Vernichtung ganzer Völker oder gar der gesamten Menschheit.

Analogien finden sich zuhauf in der Farbenlehre; vor allem in der Musik. Einen Menschen kann man sich als einen Akkord vorstellen, der je nach seiner Umgebung (also der Tonart, in der das jeweilige Musikstück steht) steht, harmonisch oder dissonant wirken und die unterschiedlichsten Verbindungen eingehen kann. Kommt er allerdings in einer Umgebung vor, in der er keinerlei Beziehungen eingehen kann, die musikalisch einen Sinn ergeben, ist er falsch. Und wir stimmen wohl darin überein, daß sich in unserer Gesellschaft die Disharmonien häufen, was dazu führt, daß immer mehr Menschen (vor allem psychisch labile) sich in ihrem Streben nach Harmonie unbewußt deformieren lassen oder Deformierungen bewußt in Kauf nehmen, um in der allgemeinen Kakophonie nicht mehr aufzufallen oder aber als besonders schrill (ergo dominant) wahrgenommen zu werden. Dies alles aber ist eben nur möglich, weil jeder Mensch von Natur aus ein ambivalentes Wesen ist: weder gut noch böse, sondern mit einem Potential ausgestattet, das ihn zu allem befähigt.

Es steht bereits geschrieben im Alten Testament, so etwa in diesem Psalm, den Pete Seeger vertont hat und den The Byrds 1965 berühmt gemacht haben. Hier ein späteres Video mit Roger McGuinn, der sich nicht von dieser Welt hat korrumpieren lassen, sondern wie ein Besessener (wieder ein ambivalentes Wort!) Folksongs sammelt und sie ins Netz stellt, um sie angesichts des Lärms vorm Vergessenwerden zu bewahren. Dies als Auflockerung und zugleich als Indiz dafür, daß ich nicht zu jenen gehöre, die meinen, der Mensch als solcher und schlechthin sei 'nur böse'. Wäre es so, dann gäbe es nicht solche Bibeltexte und solche Musik. Amen.

Morgaine - 11. Sep, 13:21

Ich bin wirklich angetan von der Qualität der Beiträge, halte mich daher momentan gerne etwas im Hintergrund und möchte einfach nur - wenn Sie erlauben - eine Ihrer Kernausssagen wiederspiegeln:

"das in "unserer" kultur, und drastischer womöglich noch in den usa, aggressionen grundsätzlich als negativ geächtet sind und viele menschen angst vor ihren eigenen aggressionen und denen der anderen haben; trotzdem die bösartigsten verbrechen der planetaren historie eben innerhalb dieser kultur entstanden sind - ist das nicht gerade eher als beleg für ein grundsätzliches ungleichgewicht zu sehen"

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