Montag, 8. Januar 2007

basis: traumageschichte(n) 3 - die vegetative dystonie oder: "deutsche kennen keinen schmerz"

eine vorbemerkung: ich hätte im zusammenhang mit den historischen diagnosen im traumakontext gerne eine entsprechend chronologische reihenfolge eingehalten - deshalb waren nach der gerade thematisierten hysterie eigentlich die beiträge zur neurasthenie und der rentenneurose geplant, letztere vor allem als militärpsychiatrisches werkzeug nach dem ersten weltkrieg. inzwischen sind mir aber neue materialien bekannt geworden, die sowohl die neurasthenie in einen engen zusammenhang mit der rentenneurose stellen, als auch die eingrenzung von letzterer auf das militär sowie die 1920er jahre als nicht sachlich gerechtfertigt erscheinen lassen. die rentenneurose hatte augenscheinlich bereits vor dem weltkrieg - und da im zivilen leben - eine bedeutung auch und gerade hinsichtlich des oberthemas gesellschaft und psychotraumata, die eine grundsätzliche überarbeitung der fragmentarisch vorhandenen beiträge nötig macht. von daher verschiebe ich die nun, hoffe auf Ihr verständnis und ziehe dafür die keinesfalls weniger interessante "vegetative dystonie" vor.

***

wobei ich diese verschiebung vor allem wegen der nun noch nicht vorhandenen vergleichsmöglichkeiten gerade zwischen den symptome der neurasthenie und der vegetativen dystonie etwas schade finde - aber ich komme bei der neurasthenie nochmal drauf zurück.

was macht aber nun die "vegetative dystonie" eigentlich aus?

"Folgende Symptome können Ausdruck einer Vegetativen Dystonie sein: Nervosität, Unruhe, Reizbarkeit, Schlaflosigkeit, Schwindelgefühl, klimakterische Beschwerden, Kurzatmigkeit, flache Atmung, Kopfschmerzen, Verkrampfungen der Muskulatur (Wadenkrämpfe, Zehenkrämpfe, Muskelzittern, Muskelzucken), Herzbeschwerden (unregelmäßiger Schlag, Herzstolpern, Herzjagen, Herzschmerz, Beklemmungsgefühl in der Brust), Krämpfe in den Blutgefäßen (kalte Hände), Krämpfe im Magen, Magendrücken, im Darm und in der Blase, Verstopfung, Leber-Galle-Beschwerden (starke Blähungen), Verlust der sexuellen Lust.

Häufig findet sich ein diffuses Ineinanderfließen von körperlichen Beschwerden und rein seelisch empfundenen Symptomen wie Angst, Unruhe, Unlust. Viele leiden zudem unter mehreren Störungen/Beschwerden."


während die dystonie ein allgemeiner begriff für eine neurologische und muskuläre erkrankung ist, welche recht viele ausprägungen annehmen kann, stellt die vorsilbe "vegetative" davor einen klassischen fall einer diagnose dar, die zwar pompös klingt, jedoch inhaltlich eigentlich nichts zu bieten hat.

und wenn Sie sich auch nur ein klein wenig medizinisch interessieren, wird Ihnen die obige auflistung aus beschreibungen von diversesten und verschiedensten möglichen krankheiten und störungen vermutlich sehr bekannt vorkommen - die aufgezählten symptome sind tatsächlich derart unspezifisch und als indikatoren für alles mögliche zu sehen, dass es nicht selten hinsichtlich des modells der "vegetativen dystonie" zu solch harschen urteilen kommt:

Die im deutschen Sprachraum leider häufig verwendete, wissenschaftlich nicht anerkannte Diagnose einer sogenannte vegetativen Dystonie, hat nichts mit Dystonie gemein.

Das Wort "vegetativ" bezieht sich in der Medizin auf ein unwillkürliches Nervensystem, das solche Phänomene wie Blutdruck, Puls, Atemfrequenz und Verdauung regelt. Wenn leichtere oder schwer fassbare Unregelmäßigkeiten in diesem System auftreten, die nicht organisch erklärt werden können und somit schwer zu einer präzisen Diagnose zu zuordnen sind, greifen einige Ärzte den Begriff "vegetative Dystonie" auf, um eine Diagnose anzubieten. In der Regel verbirgt sich hinter dem Begriff eine Verlegenheitsdiagnose.

Vegetative Dystonie ist eine Verlegenheitsdiagnose!


und mehr gibt es zum medizinischen inhalt dieser diagnostischen konstruktion eigentlich nicht zu sagen.
(so ist sie denn in der neuesten ausgabe der deutschsprachigen icd-10 auch nicht mehr enthalten, während sie es meines wissens in einer der vorgängerversionen durchaus bis zur aufnahme geschafft hatte.)

interessant ist hierbei die tatsache, dass diese diagnose eigentlich nur in deutschland zur anwendung kam (bzw. in einzelfällen immer noch kommt) - in anderen ländern ist sie faktisch unbekannt!

ebenfalls interessant ist in meinen augen auch, dass sie besonders in den 1960er und 70er jahren ihre "blütephase" in d-land hatte. warum dieser geographische/zeitliche aspekt möglicherweise von bedeutung sein könnte, versuche ich gleich zu skizzieren.

von einem neurologen habe ich im netz noch folgendes gefunden /den link habe ich leider verschlampt):

Hinter einer solchen Zuordnung ("vegetative Dystonie") kann sich in der Praxis auch einmal eine depressive Erkrankung, eine Persönlichkeitsstörung oder Suchterkrankung verbergen.

yo - wenn man sich die symptome bewußt macht, die zu dieser "diagnose" führen können, ist das durchaus plausibel - allgemeine unruhe, verdauungsbeschwerden, schlechter schlaf - "...und überhaupt stimmt irgendetwas nicht." wenn derlei symptomen, die wie schon gesagt bei vielen krankhaften störungen auftreten können, keine organischen befunde zugeordnet werden konnten, war es früher also an der zeit, diese diagnose aus dem ärztlichen zauberkästchen zu holen - wenn auch niemandem damit geholfen wurde, so klang das doch "offiziell" genug, um den patientInnen das gefühl geben zu können, wirklich an einer krankheit zu leiden - und sich nicht etwa etwas einzubilden, oder gar irgendwie als "psycho" zu gelten, was früher gesellschaftlich noch stärker tabuisiert und mit ängsten besetzt war als heute - und selbst heute ist es diesbezgl. ja immer noch recht krass.

um meine eigene meinung dazu gleich vorwegzunehmen: ich denke, dass viele menschen mit dieser diagnose auch ernstlich krank waren - bloß litten sie tatsächlich an etwas, das einen entsetzlichen hintergrund und ursprung besaß.
richtig "klick" hat es in meinem kopf gemacht, als ich folgendes buch las, aus dem ich jetzt ein paar sätze zitiere:

"Neben meinem eigenen Erkenntnis- und Arbeitsprozeß über meine Identität als Mitläuferkind und Angehöriger der `zweiten Generation´ hat mich immer wieder die Frage beschäftigt: Kann ein Tätervolk in den Dimensionen der deutschen Verbrechen psychisch so `ungestraft´ davonkommen, wie es das vordergründige Erfolgs- und Verdrängungsbild der Deutschen in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg vermuten ließ ? (...)

Allmählich wurde mir aber deutlich, daß es eine Kluft gibt zwischen der öffentlichen politischen Bewältigung des Themas und dem untergründig schwelenden Leid in den Familien, das durch den öffentlichen Diskurs kaum berührt wurde.
Bereits in einer früheren Arbeit (...) hatte ich vermutet, daß die jahrzehntelang nach dem Krieg gestellte Diagnose `vegetative Dystonie´ ein Sammelbecken von Störungen enthielt, deren partiell ursächliche Verbindung zur NS-Geschichte niemand wissen wollte; (...)

(tilmann moser "dämonische figuren"; s.117/118)


damit hat moser meiner ansicht nach voll auf den punkt getroffen.
"vegetative dystonie" wurde mehrheitlich bei solchen menschen diagnostiziert, die während des nationalsozialismus und im zweiten weltkrieg noch kinder bzw. jugendliche waren, also genau die teile der deutschen bevölkerung, die hinsichtlich dieser zeit mit dem begriff "zweite generation" bezeichnet werden (die an ns und krieg beteiligten erwachsenen stellen die "erste" dar). und es waren mehrheitlich die angehörigen der "zweiten generation", die ab den späten 1950er jahren in die phase des "erwachsenseins" gelangten.

was hatten diese menschen in der regel während kindheit und jugend erlebt?
  • militärische niederschlagung und zusammenbruch einer der brutalsten diktaturen der menscheitsgeschichte
  • einen weltkrieg, der alle bis dato bekannten vorstellungen eines krieges hinsichtlich zerstörung und gewaltexzessen sprengte
  • bombenkrieg mit all seinen begleiterscheinungen ("kellerdasein")
  • ständige präsenz von tod und zerstörung in unvorstellbaren dimensionen
  • möglicherweise flucht und/oder vertreibung aus dem vertrauten umfeld
  • sehr wahrscheinlich verlust von verwandten/freunden/bekannten
  • hunger
  • die bis kriegsende anhaltende indoktrination durch das ns-regime
  • die materielle not, die kälte und den hunger der nachkriegsjahre
  • die existenz in ruinenlandschaften
  • die wahrnehmung, einer bevölkerung anzugehören, unter deren (schweigender) zustimmung oder ignoranz die fabrikmäßige vernichtung von millionen durchgeführt wurde - und der gegenüber deshalb auch nach dem krieg z.t. weltweit verachtung entgegenschlug
und speziell in vielen deutschen familien:
  • die wiederkehr von fremd gewordenen kriegsgefangenen oder im kz inhaftierten angehörigen
  • ns-täter, die sich nach der befreiung zu "opfern" machten und ihre vergangenheit nicht nur nach aussen hin (ver-)leugneten
  • ns-täter und mitläufer, die tatsächlich durch den krieg in irgendeiner form zu opfern wurden, und diese tatsache als einzige zulässige wahrehmung bei sich und kindern/angehörigen durchsetzten
  • familien, die krachend auseinanderflogen: zb. bei gleichzeitiger existenz von ns-tätern und -verfolgten in ein und der gleichen familie (was gar nicht so selten vorkam)
  • bei ns-opfern und auch zahllosen kriegsgeschädigten schweigen, sprachlosigkeit, kränkungen, wut, trauer...
und vor diesem hintergrund ständige lügen (als-ob-verhalten: als ob alles eine heile welt wäre...), kommunikationsverweigerung, unehrlichkeit, orientierungslosigkeit, ängste aller art, versteckspielen, zerrissenheiten aller art, moralisch-ethische verwirrung...all das in den phasen von kindheit und jugend, wo an sich ganz andere erfahrungen, wie zb. die des der-welt-vertrauen-könnens, an erster stelle stehen sollten - und ein ehrlicher austausch über die damit einhergehende verwirrung und orientierungslosigkeit hinsichtlich der eigenen persönlichkeit gefragt wäre, gerade in der phase der sog. pubertät.

und all das auch vor dem hintergrund der notwendigkeit, unbedingt funktionieren zu müssen - nämlich als arbeitskraft in irgendeiner art beim projekt "wiederaufbau" mit völliger fixierung auf die materiellen aspekte des lebens.

*

eigentlich sind die oben erwähnten konstellationen allesamt idealer nährboden für schwere und schwerste traumatisierungen in massenhaften dimensionen. moser hat mit seiner weiter oben erwähnten frage nach den psychischen folgen in der deutschen bevölkerung also völlig recht - wo waren diese folgen geblieben, die nach all den schrecken des krieges (und für eine minderheit auch durch den terror der nazis) eigentlich unausweichlich zu erwarten sind und waren (und die bei den überlebenden aus den kz ja auch z.t. registriert wurden, wenn auch hier mit erheblicher zeitlicher verzögerung)?

ich denke, es spielen hier viele einflüsse eine rolle, die teils auch in den historischen ereignissen (wie "kalter krieg", deutsche teilung u.a.) begründet liegen. ich kann und will hier nicht auf alles eingehen. aber meine eigene hypothese dazu ist folgende:

um (psychische) symptome auszubilden, ist ein gewisser teil an ungebundener psychopyhsischer energie notwendig. ebenfalls muß eine gewisse grundsätzliche befriedigung der elementarsten materiellen bedürfnisse, v.a. nach nahrung, vorhanden sein. dazu dürfen äußere bedrohungen nur eine bestimmte stärke und bedeutung in der eigenen wahrnehmung besitzen (dringen sie zu stark durch, können alleine dadurch symptome entstehen.)

ich beziehe mich dabei einerseits auf die beobachtung, dass bei der deutschen zivilbevölkerung während des krieges die zahl psychischer erkrankungen "neurotischer" art anscheinend tatsächlich drastisch abgenommen hat, andererseits während der letzten phase des bombenkrieges ebenso wirklich schwere psychiatrische zustandsbilder (leute "drehten durch") verstärkt auftraten.

das klingt nur auf den ersten blick unlogisch: das "leichtere" oder diffuse psychische symptome sich zurückbilden, hat in aussergewöhnlichen, länger anhaltenden und (lebens-)bedrohlichen situationen, die aber nicht als individuelles, sondern kollektives schicksal (wichtig!) wahrgenommen werden, einfach damit zu tun, dass so ziemlich alle persönlichen ressourcen zur bewältigung und zum handling dieser situation gebraucht werden und damit gebunden sind. ebenfalls werden in solchen zeiten (kriege und z.t. auch schwere naturkatastrophen) bestimmte belastende probleme und umstände, die in "normalen" zeiten individuell ein schweres gewicht besaßen, ziemlich unwichtig und belanglos - gerade dann, wenn es um einen permanenten materiellen existenzkampf, vielleicht sogar ums nackte überleben, geht (aus dieser konstellation entstammen vermutlich übrigens die bekannten redefiguren vor allem alter menschen, die sich über die "laschheit" der jeweiligen jugend auslassen: "macht ihr erstmal das durch, was wir durchgemacht haben" usw. usf. - dieses durchaus reaktionäre gerede besitzt im oben beschriebenen einen realen kern).

im krieg und auch noch in der nachkriegszeit scheint eine mehrheit der deutschen bevölkerung psychophysisch genau nach diesen oder ähnlichen mechanismen funktioniert zu haben, was angesichts der oben aufgeführten kriterien auch zu passen scheint. allerdings sind die ganzen belastungen teils wirklich unerträglicher art in dieser epoche damit nicht verschwunden - sie wurden natürlich von den menschen wahrgenommen und auch in irgendwelchen formen gespeichert. die frage bloß: wie machten sie sich bemerkbar? denn die auseinandersetzung mit tod, terror, schrecken, verlust, zerstörung, wut und trauer ist nichts, dem auszuweichen wir imstande sind - die auseinandersetzung damit gehört zu unserer grundausstattung .

aber sie läßt sich zumindest verdrängen, wenigstens zeitweise, und wenigstens auf andere ebenen. und daraus zu meiner eigentlichen hypothese:

1. das sog. "wirtschaftswunder" ist zu einem großen teil, primär psychophysisch gesehen, auf einer riesigen kollektiven verdrängungsleistung aufgebaut.

das durchaus nachvollziehbare bestreben, sich einigermaßen erträgliche materielle lebensumstände aufzubauen, schlug irgendwann in eine art des wirklich besinnungslosen konsums als selbstzweck um - konsum und materieller wohlstand als lebenssinn an sich, dazu ein begriff von arbeit als ebensolcher "wert" an sich (wobei das auf vorhandene alte und fatale tendenzen in der deutschen geschichte aufbaute). beides sind irrationale "bewältigungstechniken" für probleme, die sich bis heute zb. in der gestalt des "workoholic" einiger beliebtheit erfreuen. ebenfalls ist die fixierung auf das ansammeln von materiellen dingen als kompensation immer noch eine gebräuchliche strategie, um sich um entscheidende (und meistens schmerzhafte) dinge des lebens herumzumogeln

2. ich kann es zwar nicht statistisch belegen, halte es jedoch für einigermaßen wahrscheinlich:

genau in der phase, in der für eine mehrheit der damaligen bevölkerung erstmals wieder nach dem krieg einigermaßen erträgliche materielle lebensumstände hinsichtlich wohnen etc. bestanden, und in der die rationale arbeit an der verbesserung dieser bedingungen in einen irrationalen konsumismus umschlug - genau in dieser phase, ca. zu beginn der 1960er jahre, begann auch die karriere der "vegetativen dystonie". für wahrscheinlich halte ich es für deshalb, weil es eine - wie ich zumindest finde - einleuchtende logik hätte: nachdem eine gewisse normalität im alltagsleben wieder hergestellt war (auf den verschiedensten ebenen: die ruinenlandschaften verschwanden etc.) und ebenso individuell für die meisten leute eine "normale" struktur in ihrem leben vorhanden war, gab es jetzt wieder freiraum zum nachdenken, fühlen und erinnern.

ich bezweifle jedoch stark, dass das, was da an gefühlen und erinnerungen in dieser generation hochkam, wirklich von den meisten gewünscht war. verdrängung war weiter angesagt, und so suchten sich die unerträglichen erinnerungen , wie in derlei konstellationen nicht unüblich, trotzdem einen weg, um an die oberfläche zu kommen - die diffusen symptome "ohne organischen befund" sind eigentlich ein klassisch "psychosomatischer" ausdruck dafür. nicht verwunderlich in einer gesellschaft, die als erstes ihre ruhe haben wollte, von krieg, diktatur, eigener verantwortung und moralisch-ethischen fragen nichts wissen wollte - und derart auch von ihrem eigenen leiden nichts wissen konnte (das dabei wieder auch diverse äussere faktoren eine rolle spielten, ist wohl klar - aber das ändert nichts am befund).

wie sagte der weiter oben zitierte neurologe noch?

hinter dieser diagnose "vegetative dystonie" kann sich u.u. auch eine "depression, eine persönlichkeitsstörung oder suchterkrankung" verbergen. eben. aber genau zu und von diesen störungen gibt es auch etliche verbindungen zur posttraumatischen belastungsstörung, wie wir sie heute kennen.

und eine ptbs oder analoge traumasymptome wären eigentlich, wie schon gesagt, bei derartigen traumatisierungen in massenhaften dimensionen als störung bei vielen angehörigen der zweiten generation zu erwarten gewesen.

inzwischen wird das thema "die deutsche bevölkerung auch als opfer" angesprochen - sei es in der thematisierung des bombenkrieges, oder auch mittels der seit mitte der 1980er jahre stattfindenden beschäftigung mit den familien von nazitätern. ich finde das absolut notwendig, mit einem ganz wichtigen zusatz: solange diese auseinandersetzung nicht für die relativierung der deutschen verbrechen instrumentalisiert wird. es sind oberflächlich zwei verschiedene, allerdings letztlich komplex und untrennbar zusammenhängende ebenen: eine der politisch-historischen, und eine der eher psychohistorischen betrachtung. und auf der letzteren ist das thema der damaligen deutschen opfer des krieges und der daraus folgenden konsequenzen speziell für das gesellschaftliche leben in diesem land durchaus zu diskutieren. ich bin sogar der meinung, dass es zur prävention gegenüber ähnlichen entwicklungstendenzen wie vor dem ersten und zweiten weltkrieg unverzichtbar ist.

nochmal tilmann moser zum thema:

"Die ganze Bandbreite von Traumatisierung durch die Folgen von Politik und Krieg wird uns erst allmählich bewußt. Ebenso die Verletzungen durch die Gewalt zwischen den Geschlechtern wie die zwischen Eltern und Kindern. Zwischen diesen disparat erscheinenden Ebenen bestehen kausale, aber komplizierte Verbindungen."

auch damit hat er meiner meinung nach völlig recht. im rahmen dieser reihe wird es bei den transgenerationalen oder tradierten traumata um eine der inzwischen bekannten arten gehen, wie sich traumatische zustände, die aus einem der obn genannten bereiche stammen, von generation zu generation "fortpflanzen" können.

*

so. und jetzt in ganz eigener sache noch etwas zu meiner motivation, sich mit diesem thema - trauma - und überhaupt dem ganzen blog so zu beschäftigen:

ich bin selbst angehöriger der "dritten generation", und habe in meiner herkunftsfamilie (zu der ich den kontakt schon seit langer zeit völlig abgebrochen habe) selbst etliches von dem vorgefunden, was ich weiter oben beschreiben habe: eltern als kinder bombenkrieg und flucht ausgesetzt, beide großväter als täter in die nazi-diktatur involviert (einer davon, mein damaliger "lieblingsopa", war eine zeitlang als wachmann im kz auschwitz tätig - das habe ich erst lange nach seinem tod erfahren.)

etliches, was in der bis heute erschienenen literatur zu deutschen familien mit täter-opfer-erfahrungen beschrieben wird, hat mich im laufe der zeit dazu gebracht, meine eigene biographie nach solchen mustern, die sich strukturell durchaus ähneln, zu durchsuchen. und ich denke, dass ich dabei auch fündig geworden bin - ob es die absolute kommunikationsunfähigkeit in "meiner" familie war, das schweigen zu praktisch allen wirklich wichtigen themen, oder aber auch mein eigenes, bereits als kind erwachtes und mir lange unerklärliches interesse für diese geschichtliche epoche - faschismus und krieg - , welches sich vor allem durch emotionalen aufruhr bis heute kenntlich macht, wenn ich mit diesen themen in berührung komme - das zusammen mit anderen, eher subtilen dingen, die ich jetzt nicht weiter ausführen will, bringt mich selbst dazu, von meinem heutigen wissenstand zumindest einen relevanten teil meiner eigenen probleme in zusammenhang mit dieser familiengeschichte zu bringen. lösen muß ich diese probleme natürlich trotzdem selbst - aber mir hilft es zumindest intellektuell und auch emotional weiter, eine sehr wahrscheinliche quelle für sie geortet zu haben.

das vielleicht als anregung für Sie, selbst mal Ihre familiengeschichte(n) nach derlei zu durchforschen. das eine menge zeit ins land gegangen ist, spielt bei psychopsychischen prozessen solcher art keine rolle - die haben ihre eigene zeit. und die lange tabuisierung diverser themen in d-land lässt sich durchaus als eine art latenzzeit betrachten. bei den monströsen dimensionen der ereignisse eigentlich kein wunder, wie ich finde (und auch da stimme ich tilmann mosers entsprechnden aussagen in seinem oben verlinkten vortrag zu).

in unseren körpern und köpfen dürfte die gewalt des vergangenen jahrhunderts - welches mit recht als das mörderischste der geschichte benannt werden kann - noch lange nicht erledigt sein. umso beklemmender, dass wir als spezies anscheinend so lernresistent sind - selbst unter der prämisse, dass die auseinandersetzung mit eigenen traumatischen strukturen zu den mühevollsten und anspruchsvollsten arbeiten überhaupt gehört, die wir als menschen angehen können. und wir sind noch viel zuweit von der allgemeinen erkenntnis entfernt, dass diese arbeit schlicht unter dem aspekt der lebensfähigkeit der menschheit letztlich unverzichtbar und sehr dringlich ist.

*

warum die "vegetative dystonie" als ein spezifischer beitrag der psychiatrie in form einer konstruierten diagnose zu den skizzierten verdrängungsprozessen zu sehen ist, sollte aber jetzt insgesamt etwas klarer geworden sein.

*

im letzten jahr erhielt ich freundlicherweise (an dieser stelle dank an s.p.) das original eines artikels aus der printausgabe des spiegel nr. 49/2005, der durchaus zu den besseren dieses magazins gezählt werden kann. unter der überschrift "getrauert wurde nie" geht es auch um das thema dieses beitrags - und einige auszüge möchte ich im folgenden wiedergeben:

(...)"Dabei hatten Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung die Deutschen auch zu einem Volk von Traumatisierten gemacht: Etwa 1,7 Millionen tote Zivilisten, 5,3 Millionen tote Soldaten, über 11 Millionen in Kriegsgefangenschaft. Millionen Vermisste, Hunderttausende Frauen und Mädchen vergewaltigt, Männer verkrüppelt, Städte in Trümmern, Familien zerrissen. Jedes vierte Kind wuchs ohne Vater auf."(...)

ich finde, dass sich das durchaus einmal in ruhe wahrnehmen lassen sollte, ohne sofort in eine debatte über schuld und verantwortlichkeiten abzugleiten: unbestritten: die damalige deutsche bevölkerung hat in ihrer mehrheit mindestens den terror der nazis geduldet. aber dieses und die anderen bekannten fakten können im gegenzug keinesfalls zur relativierung der psychophysischen folgen - die den funktionsgesetzen unserer biologie, als ganzes verstanden, unterworfen sind bzw. ihren ausdruck darstellen - des szenarios am ende des krieges benutzt werden. das ist schlicht unangemessen und verhindert ein absolut notwendiges verständnis der dimensionen und konsequenzen, um die es hier geht.

(...)"Hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder - die Ideale der Nazi-Erziehung halfen nun dabei, die Zähne zusammenzubeißen, zu schweigen, runterzuschlucken.(...)

Das größte Tabu blieben die seelischen Beschädigungen derer, die an der Front gekämpft hatten. Dabei waren in unzählige Familien Männer heimgekehrt, die wie in Eis gehüllt immer nur schwiegen oder als Gefangene ihrer Alpträume die Nächte durchschrien. Doch kaum einer gab zu, dass er die Bilder nicht loswurde von Menschen, die er getötet hatte, vom Elend des Schützengrabens. Wehe, einer hätte erzählt, dass er vor Angst in die Hose gemacht hätte."(...)


es gleicht sich monoton und trostlos, von land zu land und von krieg zu krieg - und einen gedanken speziell zur geschichte dieses landes: könnte es sein, dass wir bis heute der nazi-fiktion des quasi "von natur aus" schmerzfreien und harten "deutschen mannes" erliegen, indem wir bspw. die noch lebenden wehrmachtsangehörigen nur in der täterperspektive wahrnehmen (mit der sie selbst übrigens auch erfolgreich einer auseinandersetzung mit sich selbst aus dem wege gehen konnten)?

(...)Heute würde man sagen `posttraumatische Belastungsstörung´. Die Diagnose stammt aus der Zeit des Vietnam-Kriegs (was im übrigen nicht stimmt; die ptbs taucht 1980 das erstemal im dsm auf, anmerk. mo). Jder zweite US-Soldat wurde dort, zumindest zeitweise, zum seelischen Wrack. Amerikanische Militärpsychiater erkannten psychische Symptome aber schon im Zweiten Weltkrieg als Krankheit an, in weit über einer Million Fällen.

In der deutschen Wehrmacht dagegen galt es schnell als Ausdruck charakterlicher Minderwertigkeit, wenn einer durchdrehte. Half Ruhe im Lazarett nichts, wurden traumatisierte Soldaten mit Elektroschocks traktiert oder in "Feldsonderabteilungen" zum Minenräumen eingesetzt."(...)


die praktiken der militärpsychiatrie werden in dieser reihe noch genauer beleuchtet werden. ich möchte aber vor allem auf das zusammentreffen dieser traumatisierten männer - wandelnde denkmäler für die täter-opfer-dialektik - mit dem nachkriegsalltag eingehen:

(...)"Kaum war er wieder da, ging es los mit dem Drill", sagt die Tochter. "Er hat unser Haus zum Kasernenhof gemacht."

War das Kind unfolgsam, musste es die Hände über dem Kopf falten wie zu einer spitzen Tüte, auf dem Esstisch auf- und abgehen und unter Tränen singen: " Hier tanzt ein Bi-Ba-Butzemann."

Hörte der Vater aus dem Bad kein Wasserrauschen, riss er die Toilettentür auf: "Ein deutsches Kind ist ein sauberes Kind! Hundertmal aufschreiben: Nach dem Stuhlgang, vor dem Essen, Hände waschen nicht vergessen!" Weil sie den Satz nur 97-mal notierte, hieß es: "Antreten zum Latrineputzen. Mit der Zahnbürste! Und singen musste ich dabei."(...)


mit "sie" und "ich" ist hier die ehemalige radio-moderatorin monika jetter gemeint, deren sendungen auf ndr 2 mich in meiner kinder- und jugendzeit oft genug ob ihrer plapperhaftigkeit ziemlich genervt haben - dieser typische radio-frohsinn halt (der im übrigen die biographischen schattenseiten der moderatorin perfekt maskieren konnte - das finde ich von heute aus). sie hat jedenfalls ein buch zu ihrem vater geschrieben, welches sie inzwischen auf einigen kongressen zu kriegskindheiten vorstellte - und bei einem dieser kongresse...

"...brachen bei vielen Zuhörern die eigenen Erinnerungen hervor, an die Verrohung und Brutalität, die wie ein Schwelbrand unter der bonbonfarbenen Oberfläche des Wirtschaftswunders verborgen lagen. Eine Frau berichtete unter Tränen, dass ihr Vater sie gezwungen habe, wie eine Ente vor ihm herumzuwatscheln, wenn sie zu weinen anfing. Später erfuhr sie, dass der Entengang in der Wehrmacht zur Demütigung in der Rekrutenausbildung ingesetzt wurde."

*

ich breche an dieser stelle ab. es gäbe noch sehr, sehr viel an querverbindungen und verstecken beziehungen aufzuzeigen - aber das würde mich gerade völlig überfordern, und ich betrachte dieses blog an solchen punkten auch eher als eine art impulsgeber. das rechts verlinkte buch von sabine bode, die arbeiten von tilmann moser sowie der link zur "kriegskinder"-seite seien denjenigen empfohlen, die sich tiefer mit dem ganzen beschäftigen möchten.

kennen Sie übrigens den treffenden spruch "es ist deutsch in kaltland"? woher diese kälte kommt, ist nicht schwer zu verstehen - wenn man sich traut, genau wahrzunehmen.

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