Montag, 8. Oktober 2007

notiz: medikamente als waffen - ein kurzer ausflug in die historie der brd

in den kommentaren zu einem beitrag weiter unten wurde dankenswerterweise auch ein link auf einen artikel von steve wright, medikamente als waffen, gepostet. als ich den damals gelesen hatte, dämmerte mir die erinnerung an eine broschüre der deutschen gesellschaft für soziale psychiatrie aus dem jahr 1983 mit dem titel "panikpersonen sofort eliminieren! über die pläne der militärpsychiatrie, die ordnung des staates zu sichern (...)"

in dieser inzwischen vergriffenen und nur schwer aufzutreibenden broschüre (nur wildwuchs besitzt anscheinend auch noch ein exemplar, und gibt in ihrem artikel einen empfehlenswerten überblick zum inhalt) wird ganz gut deutlich, dass es sich bei den gedanken zum quasimilitärischen einsatz von psychopharmaka (und anderen medikamenten) erstens keinesfalls um überlegungen aus den letzten jahren handelt; und zweitens kann sie auch mit einigen mythen über "die gute alte zeit der alten brd" aufräumen - die entwicklungen, die wir heute wahrnehmen müssen, sind eben kein bruch und etwas qualitativ neues, sondern fußen allesamt auf der vergangenheit. darum finde ich diesen kurzen ausflug in die historie auch ganz angebracht. zumal zu bedenken ist: wer schon damals keinerlei skrupel hatte, eine verängstigte bevölkerung im falle des falles mit psychopharmaka zu traktieren, wird sich in der heutigen zeit erst recht nicht zurückhalten.

BMI_Psychopharmaka
in der broschüre jedenfalls ist u.a. die nebenstehende anzeige aus der "Deutschen Apothekerzeitung" vom juli 1982 abgedruckt - mit folgenden anmerkungen:

"Für den, der die Präparate nicht kennt: Bei Diazepam handelt es sich um Valium, bei Droperidol und Haloperidol um starke Beruhigungsmittel, die bei massiven psychischen Störungen angewandt werden. Unseren Berechnungen nach können allein mit den Valium-Mengen die 230.000 Einwohner von Lübeck mindestens für einen Tag `flachgelegt´ werden.(...)

Auf die Frage nach dem Zweck von solchen Unmengen Beruhigungsmitteln erklärte das Bundesinnenministerium u.a.: `Haloperidol wird benötigt zur Behandlung akuter Erregungszustände bei Einzelpersonen, die ansonsten sich und andere gefährden würden.´ Im 1981 erschienenen Leitfaden für die ärztliche Versorgung im Katastrophenfall (Herausgeber: Bundesinnenministerium) kann man es genauer nachlesen: `...können auch laute Befehle und hartes Angreifen das Verhalten nicht beeinflussen, muß man den Erregten (...) festhalten, wenn möglich ihn außer Sicht bringen und ihm ein kräftiges, angstreduzierendes Beruhigungsmittel spritzen.´ An anderer Stelle heißt es: `Panikstifter müssen so schnell wie möglich isoliert und ruhiggestellt werden.´ Offensichtlich rechnen das Innenministerium und die verantwortlichen Stellen mit einer großen Anzahl erregter Menschen.(...)"

("panikpersonen sofort eliminieren!"; s.2)


wenn Sie sich nun einmal die in den links angegebenen (neben-)wirkungen der beiden neuroleptika anschauen, und dazu die medizinischen empfehlungen für den einsatz von haloperidol, wird zum mindesten eine art vabanque-spiel der damaligen verantwortlichen deutlich: im einsatzfall hätte die wahrscheinliche nichtberücksichtigung der obigen punkte bei den betroffenen zu schweren schäden führen können. dazu ziehen die autoren der broschüre damals den vermutlich zutreffenden schluß, dass eine derartige bevorratung mit hochpotenten psychopharmaka keinesfalls alleine hinsichtlich sog. ziviler katastrophen sinn macht, sondern speziell für den spannungs- bzw. kriegsfall gedacht ist/war. dazu präsentieren sie dann viele belege besonders aus der damaligen militärpsychiatrie, bei denen deutlich wird, dass mit dem begriff "panikpersonen" auch und bevorzugt politisch bzw. als solche verstandene oppositionelle gemeint waren - ein beispiel:

(...)"Als Panik nach vorn, so das Bundesministerium der Verteidigung 1962, `kann ferner jede gewalttätige Meuterei bezeichnet werden. Wie das Wort schon sagt, wird aus der Truppe dann eine Meute, die sich, statt auf den Feind, auf den Vorgesetzten stürzt´."(...)

(s.4)


(was daran nun so verwerflich sein soll, wissen nur die herrschenden "eliten"...) - aber im ernst: der panikbegriff, der dort sichtbar wird, ist ein hochgradig verzerrter mit schwerpunkt auf vermuteten und/oder tatsächlichen angriffen auf verschiedene aspekte der herrschenden gesellschaftsordnung.

neben dem sog. verteidigungsfall dürften auch die planspiele im hinblick auf mögliche atomare katastrophen einen ähnlichen schwerpunkt besitzen - ein indiz dafür könnte die folgende kleine meldung darstellen:

"Bonn: Zivilschutz testet Drogen gegen Angstreaktionen. Der Münchner Psychiatrieprofessor Hippius untersuchte im Rahmen eines von 1986 bis 1992 laufenden Forschungsvorhabens im Auftrag des Bundesamtes für Zivilschutz die Eignung von Psychopharmaka für die Angstbewältigung im Katastrophenfall. Das bestätigte das Bundesinnenministerium im August 1989."

1986 war bekanntlich für die atomindustrie ein spezielles jahr...sollen wir den zeitlichen zusammenhang nur als zufall betrachten?

*

ich schrieb von "historie", und speziell für das oben dargestellte dürfte das in einem gewissen sinne auch gelten. wie einem artikel der zeitschrift des "bundesverbandes der apotheker im öffentlichen dienst" aus dem jahre 2002 zu entnehmen ist, ist die oben thematisierte bevorratung mitte der 1990er jahre vorläufig eingestellt worden:

(...)"Die Bevorratung mit Sanitätsmaterial für die medizinische Notfallvorsorge im Rahmen des Zivilschutzes ist seit der Mitte der 90er-Jahre durch die Bundesregierungen aus Kostengründen abgeschafft worden. Diese Massnahme wurde mit dem Wegfall der äusseren Bedrohung seit der Beendigung des Ost-West-Konfliktes begründet. Der ersatzlose Wegfall der Sanitätsmittelbevorratung des Bundes wird zur Zeit in keiner Weise flächendeckend durch adäquate Vorsorgemaßnahmen der Bundesländer für die friedenszeitliche Notfallvorsorge kompensiert. Die Bundesländer haben in der Vergangenheit keine wesentliche Bevorratung für den Katastrophenschutz betrieben, da sie sich in ihren Vorsorgeplanungen bis 1995 stets auf Zivilschutzvorräte stützen konnten."(...)

was nicht heißt, dass es im falle des falles nicht wieder sehr schnell gehen könnte:

(...)"Um die vermeintliche Entbehrlichkeit von medizinischen Notfallvorräten zu begründen wurde auch auf die Vorräte bei der Industrie, den Händlern und Apotheken verwiesen, die man im Bedarfsfall nur zusammenführen müsse."(...)

was der autor durchaus als nicht ausreichend empfindet. an dieser stelle werde ich aber das gefühl nicht los, dass die erwähnten defizite vielleicht die allgemeinmedizinische versorgung der bevölkerung im katastrophenfall betreffen könnten - das ganz oben erwähnte jedoch lässt sich in der logik des herrschenden als unter sicherheitsaspekten besonders relevant begreifen, und ich kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, dass hinsichtlich von echten oder vermeintlichen notwendigkeiten aus dieser perspektive keine prioritäten gesetzt werden.

und dann kommt der autor mit tönen, die inzwischen bis zum verdruß nur allzu bekannt sind:

(...)"Die Ereignisse der letzten Wochen zeigen uns, dass die alten Denkmuster von äusserer und innerer Bedrohung nicht mehr zeitgemäss und ganzheitliche Konzepte erforderlich sind. Sie machen inzwischen auch der Bevölkerung deutlich bewusst,

* dass wir nicht ungefährdet in einer friedvollen und heilen Welt leben,
* dass die Potenziale der Bedrohung der Bevölkerung durch Terrorismus viel grösser sind, als allgemein angenommen wurde,
* dass die allgemeine Sicherheitslage in den vergangenen 10 Jahren zu optimistisch eingeschätzt wurde,
* dass unsere Vorsorgemassnahmen zur medizinischen Versorgung der Bevölkerung bei Katastrophenfällen in der Vergangenheit kontinuierlich reduziert wurden und nicht mehr ausreichend sind,
* und in welchem Ausmass sowohl die professionellen als auch die ehrenamtlichen Rettungskräfte bei ihrer Arbeit selbst gefährdet sind."(...)


kommt einem diese argumentation nicht verdammt bekannt vor? es wäre sehr aufschlußreich zu wissen, ob, was und wieviel inzwischen wieder an medikamenten "bevorratet" wird. und wie hoch dabei der anteil von psychopharmaka ist.

assoziation: von den gefühlen in zeiten des kapitalismus über die ärztliche meldepflicht von tattoos und piercings zum *naturbösen* menschen

die schriftstellerin anna mitgutsch bespricht im standard das buch gefühle in zeiten des kapitalismus, und fällt dabei meiner meinung nach gemeinsam mit der autorin eva illouz dem schein zum opfer:

"Wie die israelische Soziologin Eva Illouz in ihrem Buch (...) nachweist, bestimmt der psychotherapeutische Diskurs mit seiner Betonung auf Emotionen den öffentlichen Raum und die Arbeitswelt - und zwar nicht nur in Form einer wahren Flut an Ratgeberliteratur sondern auch als Stil im Management. Gleichzeitig stellt sie eine emotionale Verarmung des Privaten fest."(...)

wobei es sich dabei eher um einen scheinwiderspruch handelt: was diese angeblichen "emotionen" tatsächlich sind, lässt sich bspw. hier und hier nachlesen - inszenierungen des authentischen, die in form von ökonomisch nutz- und instrumentalisierbaren simulationen daherkommen und sich bei dominanz auch im sog. "privaten" als symptom einer grundsätzlich geschädigten psychophysischen menschlichen struktur begreifen lassen.

im folgenden greift mitgutsch dann einen punkt heraus, den ich als "negative psychologisierung" bezeichnen würde, und zu dem sie aus einer bestimmten perspektive einiges richtige anmerkt:

(...)"In einer Gesellschaft, deren größte Anliegen Wellness und Fitness des Einzelnen sind und die es zum moralischen Imperativ macht, unter allen Umständen nach dem eigenen Wohlbefinden zu trachten, wird alles, was dieses Wohlbefinden durch ein Abweichen von der angestrebten Normalität stören könnte, als Behelligung, ja geradezu als Vergehen empfunden."

"wohlbefinden" ist allerdings ein wischi-waschi-wort, denn es sagt überhaupt nichts über den kontext aus, in dem sich das wohlbefinden einstellt. will sagen: wenn es eine mehr oder weniger große zahl vom menschen gibt, die unter "wohlbefinden" ihr reibungsloses funktionieren innerhalb des vorgegebenen und -gefundenen systems verstehen, dann kann wohlbefindlichkeit kein ernsthaftes kriterium für gesundheit mehr sein. überspitzt gesagt, reden wir dann über das wohlbefinden einer monade, die vor allem authentisch-lebendigen ausdruck pure angst verspürt. erst aus dieser perspektive macht das folgende dann tatsächlich sinn:

(...)"Die Psychologisierung, die den Einzelnen und sein unmittelbares Umfeld als Fall betrachtet und größere gesellschaftliche Strukturen vernachlässigt, hat auch soziale Ungerechtigkeit ins Private verkehrt. Damit ist jeder, der zu den Verlierern zählt, jeder, der von den Normen abweicht, nicht nur krank und therapiebedürftig, sondern auch selber daran schuld und verdient daher weder Mitgefühl noch Hilfe, es sei denn in Form der Psychotherapie.

Wie Susan Sontag und Michel Foucault zeigten, münzt die Gesellschaft Krankheit leicht zum Verbrechen um. In einer Zeit, in der politische Korrektheit die Sprache zu so mancher Verrenkung zwingt, werden Abweichungen von der Norm unreflektiert polemisch als Krankheit definiert und als Instrumente verbaler Ausgrenzung verwendet.

So wird jeder, der sich dem Druck ständiger Verfügbarkeit entzieht, als "Autist" bezeichnet, jedes nicht eindeutige Verhalten als "schizophren", jede Marotte als "psychisch gestört" und Menschen, die auf ihrer Unangepasstheit verharren als "borderline". Die von einer Erkrankung des Nervensystems tatsächlich Betroffenen werden als Soziopathen diffamiert.

Die Gleichsetzungen von gesund mit leistungsfähig und daher wertvoll, und im Gegenzug dazu: unangepasst mit psychisch krank und nutzlos, sogar potenziell kriminell, gehörten allerdings bereits zu den Denkmustern des Nationalsozialismus."


ja. eine solche psychologisierung (oder auch psychiatrisierung) gibt es. aber wie oben schon gesagt, sitzt mitgutsch dabei dem erwähnten scheinwiderspruch auf und kann deshalb die wichtige andere seite der medaille nicht berücksichtigen - gerade in bezug auf die ns-psychiatrie hatte ich das in der vergangenheit so zusammengefasst:

(...)"nun ist eine bestimmte art von "funktionsfähigkeit" ja auch immer wieder thema hier im blog - die "funktionsfähigkeit", die sich in mehr oder weniger reibungsloser anpassung und kompatibilität gerade mit anonymen, mechanischen, bürokratischen und auch mörderischen institutionellen apparaten ausdrückt. was hier wiederum früher bereits als ein schwerwiegendes indiz auf die dominanz des objektivistischen modus bei einem menschen skizziert worden ist. und auch bezgl der sehr wahrscheinlichen psychopathologie hitlers drängt sich zu dieser ganzen geschichte eine frage besonders auf:

waren (und sind) diejenigen, die ihre definitionen von "leistungs- und arbeitsfähigkeit", "lebensunwert" etc. als trennlinie benutzten, um die von ihnen so definierten "asozialen", "psychopathen", "gemeinschaftsunfähigen" etc. auszuselektieren, tatsächlich die weitaus gefährlicheren ver-rückten? lässt sich die these aufstellen, dass bei ihnen zumindest z.t. auch schlichte projektion bei der auswahl der opfer beteiligt war? neben einer hemmungslosen bereitschaft zur unterwerfung unter angemaßte autoritäten, die sich als impliziter selbstverrat bzw. als unfähigkeit, sich selbst als eigene persönlichkeit überhaupt wahrzunehmen, darstellt? empathielosigkeit und extrem verdinglichende wahrnehmung jedenfalls sind eigenschaften, die wir den tätern mit berechtigung attestieren dürfen - und wenn ein technokrat wie der oben erwähnte k. (ich kenne einiges, auch nicht öffentlich zugängliches, biographische material zu und von ihm, welches ich hier leider nicht vorstellen kann) die todeskandidatin als autistisch beschreibt, so scheint mir das eine bitterböse ironie zu sein - k. lässt sich durchaus selbst als eine, allerdings wesentlich bösartigere, zumindest funktionell autistische person begreifen - und das lässt sich nicht nur bei ihm als starker verdacht formulieren.

in früheren beiträgen wurde hier ja schon auf das modell von zwei qualitativ unterschiedlichen formen psychotischer weltwahrnehmung verwiesen, welches mit teils unterschiedlichen begründungen und auch unterschiedlicher terminologie bspw. bei theweleit, mertz und arno gruen als these zu finden ist. wobei nur eine dieser formen - diejenige, die offensichtlich gegen die "objektiven realitätskriterien" z.b. mittels halluzinationen verstößt - von der etablierten psychiatrie und psychologie als psychose benannt wird. während sich die andere eben u.a. durch funktionsfähigkeit und simulierte emotionalität, in krasser form als völlig simulierte lebendigkeit, auszeichnet."


zusammengefasst: ich sehe absolut keinen grund dafür, warum funktionelle oder strukturelle antisoziale persönlichkeiten mit durchschnittlichen simulativen fähigkeiten nicht auch psychiatrische diagnosen in ihrem sinne - der sich meistens mit kontroll- und machtambitionen fassen lässt - instrumentalisieren sollten (so etwas vermute ich ja auch bei den diskussionen und maßnahmen seitens der regierungen von frankreich und großbritannien bezgl. "antisozialen verhaltens"). wieder überspitzt gesagt, ist zb. das szenario überhaupt nicht abwegig, dass eine blande (und antisoziale) borderlinepersönlichkeit (die reibungslos funktionieren kann) in einer beliebigen funktion innerhalb der orthodoxen psychiatrie andere menschen, die bspw. durch ein trauma auch symptome aus dem diagnostischen katalog der bl-störung zeigen, mit ihren mitteln (der diagnose und therapie) in eine gesellschaftlich ausgegrenzte position zwingen kann. und all das lässt eben keineswegs den schluß zu, den ich bei mitgutsch implizit durchschimmern sehe: dass es nämlich "eigentlich" gar keine probleme mit "psychischen erkrankungen" gäbe, weil sie letztlich alle nur konstruktionen zur ausgrenzung seien. davor kann ich zum wiederholten male nur warnen

*

eine andere schriftstellerin, juli zeh nämlich, hatte ich vor längerer zeit in einem beitrag mal heftig gedisst. nun schreibt sie zur geplanten ärztlichen meldepflicht für "selbstverschuldete erkrankungen" ebenfalls etliches, was ich (wieder mit einschränkungen, dazu gleich mehr) unterschreiben kann - auszüge:

(...)"Das Bundesgesundheitsministerium arbeitet an einer Gesetzesinitiative, die Ärzte verpflichten soll, unter Aufhebung der Schweigepflicht bestimmte Patienten bei den Krankenkassen zu melden. Und zwar solche Patienten, die an ihrem jeweiligen Leiden selbst schuld sind. Als Beispiele werden die Folgen von Tätowierungen, Piercings oder Schönheitsoperationen genannt. Die Begründung dieser absurden Idee liest sich wie ein Lehrbuchbeispiel für politische Scheinlogik unter Zugrundelegung verdrehter Prämissen. Eine Nasenoperation stelle einen Eingriff dar, der medizinisch nicht indiziert und vom Patienten frei gewählt sei. Wenn dabei etwas schief gehe, habe der Patient für Folgeschäden konsequenterweise selbst aufzukommen.(...)

Die Regierung hat nicht weniger vor, als das Privateste, Intimste, das uns zu eigen ist, zur Staatssache zu erheben: den menschlichen Körper. Dabei wird die Idee einer flächendeckenden (von Beitragszahlern finanzierten!) Krankenversicherung in ihr Gegenteil verkehrt. Nicht das Krankenkassensystem schuldet uns Beistand in der Not - sondern wir schulden dem System die unbedingte Aufrechterhaltung unserer Gesundheit! Diese neue, fiktive Bürgerspflicht gibt dem Staat ein Machtinstrument an die Hand, welches auf fatale Weise an Huxleys Brave New World erinnert. "Krankheit" wird potenziell mit "Schuld" identifiziert, und um innerhalb dieses Zusammenhangs die Spreu vom Weizen zu trennen, bedarf es einer perfiden Form von Selektion.

Tätowierte, Gepiercte und Schönheitsoperierte, lehrt uns der Gesetzesentwurf, gehören schon mal zu den schwarzen Schafen. Auch Patienten, die sich durch ein von ihnen begangenes Verbrechen oder Vergehen selbst geschädigt haben, sollen laut der neuen Initiative gemeldet werden. Wer also beim Kirschenklauen vom Baum fällt, sollte fürderhin besser keinen Arzt aufsuchen, da dieser den medizinischen Fall nicht vertraulich behandeln könnte und die entstandenen Kosten ohnehin nicht von den Kassen gedeckt würden. Und um die neue staatliche Zugriffsgewalt endgültig in ein weites Feld zu verwandeln, soll die Meldepflicht generell für Krankheiten gelten, die sich der Patient "vorsätzlich" zugezogen hat.

In der Sprache der Juristen bedeutet einfacher Vorsatz, eine bestimmte Folge "billigend in Kauf zu nehmen". Nimmt also der Raucher den eventuellen Lungenkrebs billigend in Kauf? Der Alkoholiker die Leberzirrhose? Der Schokoladenliebhaber sein Übergewicht? Der Homosexuelle die mögliche AIDS-Infektion? Der Skifahrer den Beinbruch, der Fußballspieler den Bänderriss, der Autofahrer das Schleudertrauma? Und wie haben wir uns das Antlitz eines Behördenapparats vorzustellen, der in all diesen Situationen das Urteil "schuldig "oder "unschuldig" fällt?"


(was mir nicht nur bei ihren analogien und beispielen auffällt, ist die tatsache, das niemand der bisherigen öffentlichen kritikerInnen dieses kontrollprojektes das eigentlich naheliegendste sieht: den arbeitsunfall. "wie, du möchtest dir über das existenziell notwendige heraus weitere dinge kaufen und machst dafür im rahmen der (zwangs)lohnarbeit womöglich überstunden mit der folge eines unfalls? das ist vorsätzliche selbstschädigung...!" - deutlicher lässt sich der grad von absurdität und willkür, den inzwischen viele staatliche projekte anscheinend mühelos erreichen, kaum deutlich machen).

"Auf jeden Fall hässlich. Es wäre ein Staat, der seinen Bürgern vorschreibt, auf welche Weise sie mit ihrem Ureigensten, ihrer höchstpersönlichen Physis zu verfahren haben - beim Sex, beim Sport, beim Essen, beim Glühbirnenwechsel im Badezimmer - letztlich bei jeder denkbaren Alltagsbewegung. Nicht ohne Grund verfügen wir über ein Rechtssystem, das es bei Strafe verbietet, andere Menschen zu verletzen oder auch nur zu gefährden, während Selbstgefährdungen bis hin zur Selbsttötung straflos bleiben. Die Kernidee der Demokratie wurzelt in jenem kleinen, intimen Bereich, in dem der Mensch frei ist, also die volle Hoheitsgewalt über sich selbst besitzt."(...)

um mißverständnisse zu vermeiden, als erstes mal folgendes: ebenso wie die weiter oben schon erwähnten staatlichen projekte gegen "antisoziales verhalten" in mehreren europäischen staaten, ist die angesprochene geplante hiesige meldepflicht aus meiner sicht abzulehnen. was mich aber bei zehs argumentation stört, ist etwas ähnliches wie bei dem text von anna mitgutsch oben:
  • "demokratie" und rechtssystem werden als eigentlich "gut" und (bisher) "funktionierend" vorausgesetzt. das ist aus meiner sicht schlicht die verwechselung einer in den letzten jahrzehnten im sog. "freien westen" leidlich funktionierenden simulation von demokratie und rechtsstaat mit der tatsächlichen realität. "andere menschen zu verletzen oder auch nur zu gefährden" ist seit eh und je ein "recht", welches sich die "eliten" aller coleur als "naturgegebenes" ohne weiteres herausnehmen, wenn´s ihnen gerade in den kram passt (und damit natürlich auch für etliche ihrer untertanen ein schlechtes beispiel geben).
  • die postulierte "hoheitsgewalt über sich selbst" halte ich ebenfalls für ein abstraktes konstrukt, welches sich bei näherer betrachtung durchaus im rahmen der herrschenden systemlogik bewegt - die angesprochenen "eliten" nehmen diese hoheitsgewalt ja weiter für sich selbst in anspruch; sie ist gleichfalls immanenter teil des (falschen) westlichen menschen- und selbstbildes, und sie ist zunehmend gekoppelt mit der ökonomischen leistungsfähigkeit eines individuums, was gleichzeitig auf ihre wahrscheinliche basis verweist: eine allgemeine und alltägliche praxis der dissoziation. anders: wenn die postulierte hoheitsgewalt über das "eigene" selbst bereits auf einer pathologisch entgleisten realität aufbaut, halte ich es für nicht empfehlenswert, totalitäre tendenzen mit elementen der gleichen pathologischen logik zu kritisieren, die eben auch dieses totalitäre hervorbringt. ist das verständlich?
  • stichwort tattoos und piercings: wie im verlinkten beitrag zu sehen, halte ich das keinesfalls in allen fällen für eine harmlose mode. eher kann es sich dabei ohne weiteres auch um symptome für psychophysische störungen handeln, die bis zur realen antisozialität gehen können. mir fehlt bei zehs argumentation daher auch die aussage, dass es sich bei den betroffenen der staatlichen kontrolle eben nicht nur um opfer handeln könnte. warum ich allerdings die heutigen etablierten staatlichen und sonstigen institutionalisierten gesellschaftlichen apparate durch die bank für ungeeignet (und auch nicht befugt) halte, gegen reales antisoziales verhalten vorzugehen, habe ich an verschiedenen stellen schon öfter deutlich gemacht. und was aus meiner sicht die vielversprechendste alternative zu all dem mist sein könnte? freiwillige kollektive, gebildet aus psychophysisch tatsächlich gesunden - liebes- und beziehungsfähigen - menschen, die sich selbst nach den prinzipien der selbstregulation organisieren. mit weniger sollte sich niemand zufriedengeben.
*

zum schluß noch etwas wirklich ärgerliches:

(...)"Der Ulmer Hirnforscher Manfred Spitzer und der Zürcher Wirtschaftswissenschaftler Ernst Fehr glauben, dass Menschen tatsächlich nur dann brav sind, wenn ihnen auf die Finger geschaut wird. »Alle bekannten Gesellschaftsordnungen gründen darauf, dass die Verletzung sozialer Regeln bestraft wird«, schreiben sie diese Woche in der Fachzeitschrift Neuron. Nur wenn Strafe droht, kontrollieren wir die spontanen Regungen und verhalten uns regelkonform: Eigennutz ist der vorherrschende Impuls."(...)

dazu verweise ich nur hierauf...

(...)"der schlechte witz an dieser schon tausendmal gehörten falschen gleichung "der mensch (was nebenbei auch die unterschiedlichen rollen von männern und frauen bei diesem trostlosen spielchen unsichtbar macht) = grundsätzlich bestie = muss sich selbst mit verstand und rationalität quasi selbst zügel anlegen und züchtigen, was sich leider niemals hundertprozentig umsetzen lässt= das chaos sickert durch" besteht darin, dass es sich tatsächlich um eine selbsterfüllende prophezeiung handelt, welche der ach-so-aufgeklärte westen bis heute nicht begreifen kann und will."(...)

...sowie auf die dem beitrag folgende kleine diskussion.

das ganze forschungsprojekt scheint mir ein weiteres beispiel für die im wissenschaftsbereich allgemein anzutreffende dissoziierende wahrnehmung zu sein: ich bestreite nicht unbedingt die ergebnisse der forschung, aber ich bestreite die aus dem situativen moment heraus abgeleitete be-deutung - die neuronale konfiguration "eigennutz" entsteht weder aus dem nichts, noch ist sie eine naturnotwendigkeit.

kontext 36: kriegstraumata bei der bundeswehr

die junge welt kommt heute mit einem schwerpunkt zum thema, der neben einem allgemeinen überblick zur situation in der bundeswehr besonders die hier schon öfter erwähnte täter-opfer-dialektik bei den folgen von man-made-violence in den focus rückt:

(...)"684 Bundeswehrsoldaten sind bislang wegen Posttraumatischer Belastungsstörungen (PTBS) behandelt worden. Das teilte die Bundesregierung im Februar dem Bundestagsabgeordneten Gert Winkelmeier mit. Das sind rund ein Prozent derjenigen, die zwischen 1996 und 2005 im Auslandseinsatz waren. Der Bundeswehrpsychiater Karl-Heinz Bisold geht aber von weit höheren Zahlen aus. Im Deutschen Ärzteblatt (Nr. 41/2006) schätzte er den Anteil behandlungsbedürftiger Soldaten nach Auslandseinsätzen »auf zwei bis fünf Prozent«. Das Problem sei, so Biesold, »daß die Soldaten sich nicht eingestehen wollen, daß sie krank sind«, aus Furcht, von den Kameraden verachtet zu werden.

Auch fünf Prozent dürften noch untertrieben sein. Eine US-Untersuchung mit GIs, die den Vietnamkrieg führten, aus dem Jahr 1992 ermittelte, daß rund 15 Prozent von PTBS betroffen waren, bei Soldaten mit »hoher Gefechtsintensität« sogar über 38 Prozent. Von den Irak-Rückkehrern leidet nach einer Studie des »Walter Reed Army Institute of Research« aus dem Jahr 2004 knapp jeder achte US-Soldat an der psychischen Störung."(...)


zur situation in den usa siehe auch hier - "benutzt und weggeworfen".

(...)"Und doch, die Bundeswehr sieht sich veranlaßt, das Problem auch selbst zu thematisieren. Im Vordergrund steht Abhärtung: den Soldaten werden Techniken zum Streßmanagement und »realitätsnahe« Einsatzvorbereitungen vermittelt, wie z.B. simulierte Geiselnahmen. Daß manche Ausbilder dabei über die Stränge schlagen, hat sich gezeigt, als Rekruten im Ausbildungslager Coesfeld im Jahr 2004 mehrfach mißhandelt wurden."(...)

mit potenziell traumatischen mitteln auf ein trauma angeblich vorbereiten: das ist wirklich eine irre logik. und eine logik, so wäre zu ergänzen, die einen wahren kreislauf des irrsinns produziert:

(...)"Der Luftwaffenpsychologe Bernd Willkomm schrieb in der Bundeswehrzeitschrift Y im Dezember 2006: »Je länger dann ein Auslandseinsatz dauert, umso mehr kann es bei den Soldaten … zur Absenkung von Hemmschwellen führen.« Damit erklärt der Psychologe auch, daß sich Soldaten in Afghanistan mit Skeletteilen in Pose gesetzt haben. Es habe sich dabei »mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine sogenannte passive Aggressivitätshandlung« gehandelt. »Aktive« Handlungen, wäre zu ergänzen, haben US-Soldaten im Folterknast Abu Ghraib im besetzten Irak vorgeführt. Deswegen geht das Thema auch Antimilitaristen an. Traumatisierte Soldaten sind latent aggressiv. Und sie traumatisieren Zivilisten, die ihrerseits ihre Aggressionen weitertragen und zu Tätern werden können."(...)

*

die letztgenannte fatale dynamik wird auch in einem interview mit der ärztin veronika engl thematisiert:

(...)"Sind Posttraumatische Belastungsstörungen ein typisches Soldatenproblem?

Aus medizinischer Sicht gibt es keinen Unterschied zwischen Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) bei Soldaten und Zivilisten. Ausschlaggebend ist, daß jemand Gewalt erlebt, entweder gegen sich selbst oder gegen jemanden in der unmittelbaren Umgebung. Als Zivilist erleben Sie eher eng umgrenzte Ereignisse, etwa einen Autounfall. Soldaten dagegen sind in einer dauerhaft traumatisierenden Situation. Man spricht hier von einer multiplen bzw. seriellen Traumatisierung. Dadurchsteigt das Risiko, in der Folge an einerTraumafolgestörung zu erkranken, wenn die Erfahrungen nicht fachgerecht behandelt und verarbeitet werden können.

Wie hoch schätzen Sie den Anteil betroffener Soldaten?

Den muß man nicht schätzen. Es gibt umfangreiche Forschungen dazu, und man weiß, daß rund 20 Prozent der Soldaten, die in kriegerischen Einsätzen Gewalt erleben, später an PTBS leiden. Das Risiko steigt mit der Einsatzdauer und der Intensität der Gewalt.

Das Weißbuch der Bundeswehr sieht vor, daß ab 2010 bis zu 14000 Soldaten gleichzeitig im Auslandseinsatz stehen …

Man muß davon ausgehen, daß von diesen 14000 Soldaten, soweit sie direkte Bedrohung erfahren, rund 20 Prozent behandlungsbedürftig werden. Wenn die Behandlung unterbleibt, heißt das: Viele Soldaten werden unter irreversiblen Störungen leiden, nicht mehr arbeitsfähig sein, gegen sich selbst und andere gewalttätig – das wären unermeßliche soziale Kosten."(...)


in diese "sozialen kosten" muss dann auch eine art der allgemeinen gesellschaftlichen verrohung miteinbezogen werden, für die derart traumatisierte soldaten quasi als multiplikatoren wirken können - ein drastisches beispiel aus den usa.

(...)"Wie ist der Stand der PTBS-Forschung in Deutschland?

Deutschland war lange ein Nachzügler. Im Ersten Weltkrieg sprach man hierzulande noch von der »Zitterneurose« und begegnete den Soldaten mit ungeheurem Zwang. In der englischen Armee war PTBS schon damals als Krankheitsbild anerkannt. Erst in den letzten 20 bis 25 Jahren hat sich die deutsche Medizin intensiv des Themas angenommen. Den Anstoß gab vor allem die feministische Theorie und Psychotherapie. Die psychotherapeutische Behandlung nach häuslichen Gewalttraumata ist, wie schon gesagt, nicht grundverschieden von der Behandlung bei kriegsgenerierten Störungen.

Hat das eine überhaupt mit dem anderen zu tun?

Allerdings. Der Staat schickt Männer und Frauen in den Krieg, die traumatisiert werden und andere traumatisieren. Soldaten und Zivilisten, die hinterher unter Störungen leiden, richten Aggressionen gegen sich selbst oder, und das betrifft einen bedeutenden Teil der Kriegsopfer, gegen andere Menschen. Gerade Männer neigen viel eher dazu, die Aggressionen, die sie erleiden mußten, nach außen zu wenden.

Soldaten sind also Täter und Opfer zugleich?

Zumindest aus medizinischer Sicht. Der sogenannte »Krieg gegen Terror« ist nichts anderes als Terror durch Krieg. Wir Menschen sind nun mal nicht dafür geschaffen, anderen Gewalt anzutun und Gewalt zu erleben – es macht uns krank. Wer eine PTBS entwickelt, droht selbst zum Täter zu werden – sei es gegen sich selbst oder gegen andere, sei es in einer Terrorgruppe, einer Armee oder, was meistens der Fall ist, er droht zum Täter gegen Frauen oder Kinder zu werden. Dafür fehlt in der Politik leider jegliche Einsicht."


diesen aussagen bleibt wenig hinzuzufügen, mit einer ausnahme: es könnte durchaus sein, dass die "politik" (synonym für das treiben von am eigenen machterhalt interessierten "eliten") durchaus mehr (instrumentalisierende) einsicht in die beschriebene täter-opfer-dialektik besitzt, als es zunächst den anschein hat. traumatisierte menschen jedenfalls machen in den seltensten fällen revolutionen, eher im gegenteil: ihre traumainduzierten ängste und ihre misstrauen haben pathologische effekte auf alle authentische sozialität, machen sie prinzipiell lenk-. kontrollier- und ausrechenbar. und die kollateralschäden stören diese "eliten" wie üblich kein stück.

*

in der traumareihe wird es zukünftig übrigens auch noch einen beitrag zur geschichte der kriegstraumata geben.

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