Freitag, 31. Oktober 2008

basis: wie das system auf einem soziopathischen menschenbild beruht (2)

(zum ersten teil)

*

der eine oder die andere mag sich ja über die thesen am ende des ersten teils gewundert haben, darum dazu ebenso noch ein nachtrag wie auch zu einer frage, die mich außerhalb des blogs zum text erreicht hat.

"privateigentum" ist eine halluzination, die sich nur mittels gewalt materialisieren lässt.

was angemerkt werden sollte: es handelt sich dabei um eine kollektive halluzination, die strukturell meiner meinung nach ähnlich funktioniert wie die beiden anderen großen virtuellen gebilde. die bis heute in der westlichen welt eine systemtragende rolle spielen. gemeint ist "gott" (als synonym für die hier verbreiteten monotheistischen religionen), und zum anderen die "nation". eine ausführlichere diskussion bezgl. der halluzinatorischen aspekte der letzteren ist
hier nachzulesen; ebenfalls sind in den arbeiten von klaus theweleit ein paar aufschlußreiche hinweise verstreut (wie zb. die anthropologische beobachtung, dass die mitglieder bestimmter stämme in tropischen regionen die verletzung ihrer (virtuellen) "territorialen" gebietsgrenzen umstandslos als verletzung ihrer realen körpergrenzen wahrnehmen und entsprechend reagieren. ich kann das gerade nicht weiter ausführen, ebensowenig wie eine genauere betrachtung der halluzination "gott". interessierte seien dazu bspw. auf die arbeiten von lloyd deMause verwiesen.

zum begriff der pathologischen ich-struktur kam dann eine frage, die sinngemäß die befürchtung enthielt, ob ich irgendwann einmal das "ich" generell pathologisieren würde.

generell auf absehbare zeit jedenfalls nicht ;-)

aber im ernst, die heute dominierenden ich-strukturen (nicht nur) in den westlichen gesellschaften haben sich aus meiner sicht in einem wechselseitigen prozeß von anpassung (nach innen) und beeinflussung (nach außen) mindestens zu einem großen teil per selektion entwickelt, und wenn dieser prozeß in einem strukturell destruktiven gesellschaftlichen umfeld stattfindet, dann ist die antwort auf die frage nicht schwer zu geben, wie diese ich-struktur(-en) dann aussehen werden. und für diese art der (anscheinend) stinknormalen, weil gewöhnten "ichs" bevorzuge ich schon das attribut pathologisch, weil ich sie als (zwangsläufiges) produkt pathologischer sozialstrukturen ansehe. andere historische epochen kannten auch zumindest teilweise ihre eigenen und qualitativ anderen ich-strukturen, womit noch nichts über die jeweils eigene pathologie derselben gesagt wäre.

und ja, zumindest fiktiv kann ich mir auch eine psychophysische menschliche struktur vorstellen, in der eine ich-struktur nach heutigem verständnis nur noch eine sehr begrenzte und nachrangige rolle spielen würde. aber das ist ein anderes thema.

*

weiter im freitagstext (den link dazu gibt´s im ersten teil):

(...)"Der Mensch ist für den Kapitalismus also wie geschaffen. All seine Bestrebungen sind "ökonomischer" Natur, wenn auch mit biologischem Endziel. So ließe sich letztlich alles, was der Mensch tut, irgendwie in die Sprache der Biologie oder der Wirtschaftswissenschaft übersetzen. Wie Menschen auch immer handeln: ob sie sich lieben, Gedichte schreiben oder ein Kind adoptieren; - immer verfolgen sie das Ziel einer eigensüchtigen Nutzensmaximierung. Eine Mutter "investiert" ihre Mutterliebe als "Anlagekapital" in einen Sohn, um dadurch eine "Dividende" in Form ihres Reproduktionserfolgs und vielleicht ihrer Altersversorgung einzufahren."(...)

ist es wirklich nötig zu erwähnen, dass die erste reaktion auf leute, die derartiges ernsthaft vertreten, nur darin bestehen kann, ihre wahrnehmungsfähigkeiten genau unter die lupe zu nehmen? denn da liegt die eigentliche quelle eines solchen menschenbildes, welches die in dieser reduzierten wahrnehmung befindlichen für bare münze nehmen müssen, weshalb auch eine argumentative wiederlegung faktisch unmöglich ist. denn hier geht es um eine art von wissen, die nur mit voll vorhandener subjektivität (incl. den entsprechenden wahrnehmungsfähigkeiten) als realität vorhanden sein kann. liebe ist - in der vollen subjektiven bedeutung - etwas zweckfreies, d.h. eben nicht objektivierbar. und genau diese zweckfreiheit ist etwas, für dessen wahrnehmung der objektivistische modus weder geeignet noch vorgesehen ist - er hat eine recht gut eingrenzbare sonderfunktion in der menschlichen struktur, ist dafür auch bestens ausgerüstet und hat deswegen den im ersten teil erwähnten werkzeugcharakter. aber in einer pathologisch bedingten monopolfunktion bezgl. der wahrnehmung eines menschen produziert er unabwendbar diverse arten von teils krass realitätswidrigen konstrukten und als-ob-zuständen, zu denen dann auch solche ansichten wie im obigen zitat zu rechnen sind - objektivistische logik. und da diese logik eben bis heute den wichtigsten baustein für die westlichen (natur-)wissenschaften darstellt, überrascht die bereitwillige unterstützung solcher konstrukte aus dieser ecke kein stück. die gleiche reduktion ist am werk. aber es gibt erfreulicherweise anzeichen, dass eben diese objektivistische logik sich selbst mittels ihrer eigenen, objektivistisch ermittelten ergebnisse zu widerlegen beginnt:

(...)"Neuerdings ist dieses Menschenbild jedoch ausgerechnet in die naturwissenschaftliche Kritik geraten. Alles schien so schön zusammenzupassen: die Evolutionsbiologie mit den Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften und diese wiederum mit den realen Anforderungen der neoliberal interpretierten Ökonomie. Neuere Erkenntnisse der Genetik und Neurobiologie weisen nun darauf hin, dass auch das Gegenteil der dort aufgestellten Behauptungen richtig sein könnte. Es handelt sich um die Rolle der so genannten "reward systems", der Motivations- oder Belohnungssysteme im menschlichen Gehirn.

Bei Menschen wie bei allen Säugetieren wird nämlich, wenn sie angenehme Erfahrungen machen, der Botenstoff Dopamin ausgeschüttet, der ein Gefühl von Glück und Zufriedenheit erzeugt und den Organismus in einen Zustand von Konzentration und Handlungsbereitschaft versetzt."(...)


das sich hier durch die hintertür dann doch wieder per "belohnungssysteme" eine objektivistisch und ökonomisch verseuchte begrifflichkeit einschleicht, ist zwar ärgerlich, mag aber für den moment als symptom der vorhandenen wissenschaftlichen selbst- und fremdwahrnehmung stehenbleiben. eine tatsächlich subjektorientierte und -bezogene wissenschaft wird ihre eigenen begrifflichkeiten entwickeln, die inhaltlich meiner vermutung nach in vielen fällen sogar treffender sein wird.

"Wann aber erfolgt eine solche körpereigene Belohnung? Geschieht es, wenn wir im "struggle for life" unsere egoistischen Ziele gegen andere durchsetzen konnten?(...)

Das mag gelegentlich der Fall sein. Doch zu einer Aussage über die Natur des Menschen reicht es aufgrund dieser neueren Forschungsergebnisse nicht aus. Regelhaft und mit großer Sicherheit sind wir dagegen glücklich, wenn wir eine gute und befriedigende Beziehung zu anderen Menschen aufbauen konnten, wenn wir erfolgreich eine soziale Bindung eingegangen sind. Der Freiburger Mediziner und Genetiker Joachim Bauer sieht den Kern aller Motivation darauf gerichtet, "zwischenmenschliche Anerkennung, Wertschätzung, Zuwendung und Zuneigung zu finden und zu geben. Wir sind - aus neurobiologischer Sicht - auf soziale Resonanz und Kooperation angelegte Wesen."(...)


und mit dem letzten satz sollte man unsere straßen, häuser, schulen, unis, behörden u.a. vollplakatieren. ich finde es immer sehr bedauerlich, dass sich gerade die linke in all ihren variationen den in diesem satz komprimierten und geradezu revolutionären erkenntnissen der neuroforschung (und auch der genforschung, die erst kürzlich die interaktionen von genen mit den sozialen bedingungen entdeckt hat) bis heute komplett verweigert, obwohl sich darin nichts weniger als die tatsache ausdrückt, dass den herrschenden strukturen & ideologischen grundlagen des systems damit ihre bisherige wissenschaftliche bemäntelung entrissen wird. für marxisten bedeutet das zb., dass sich hier eine materiell-körperlich begründete und wissenschaftlich fundierte basis für einen freiheitlichen kommunismus entwickeln und begründen lässt. und für eher anarchistisch angehauchte (wie mich) wird damit das bisherige völlig pervertierte menschenbild hierarchischer gesellschaften vom kopf auf die füße gestellt, mit den gleichen optionen wie gerade geschrieben.

"Neben Dopamin und gewissen körpereigenen Opioiden ist dafür ein bedeutsamer "Wohlfühlbotenstoff" verantwortlich, das Oxytozin."(...)


mehr zum oxytocin auch
hier. es ist vor dem hintergrund der aktuellen forschung ebenfalls ganz beruhigend zu wissen, dass sich erste ansätze, solches wissen in irgendeiner form zur stabilisierung des kapitalismus einzusetzen, vorläufig zerschlagen haben:

(...)"Investoren mit einer Oxytocin-Zufuhr gaben ihren Partnern deutlich mehr Geld. Wie es scheint, steuert das Hormon, ob wir einem Menschen vertrauen oder nicht.

Die Eine-Million-Euro-Frage: Würde es nun die Wirtschaft ankurbeln, wenn alle Deutschen täglich Oxytocin schnüffelten? So weit wollen sich die Forscher noch nicht aus dem Fenster lehnen. »Wir wissen nicht mal, wie lange das Hormon wirkt. Ein paar Minuten? Eine halbe Stunde?«, bremst der Kalifornier Paul Zak. Unklar sei auch, wie stark das Hormon die Entscheidung des Gehirns beeinflusse. »Sprechen triftige Gründe dagegen, einem Menschen zu vertrauen, wird uns das Oxytocin jedenfalls kaum umstimmen«, vermutet Zak."(...)


was einem produkt wie
liquid trust hoffentlich auch weiterhin ein nischendasein bescheren wird.

weiter im artikel:

(...)"Damit geraten einige Grundannahmen des soziobiologischen und neoliberalen Menschenbildes ins Straucheln. "Definitiv falsch", so Bauer, sei die Annahme, dass Gene gegeneinander konkurrieren. Die bedeutende amerikanische Biologin Lynn Margulis ist der Meinung, Begriffe wie "Konkurrenz" und "Überlebenskampf" seien menschliche Konstruktionen, die aus dem Wirtschaftsleben von außen in die Biologie hineingetragen werden. Die Biologie kenne kein Erfolgsdenken wie es die Wirtschaft beherrscht. Und während die Soziobiologen den Altruismus als eine raffinierte Variante des Egoismus ansehen, behauptet dieser neuere Ansatz umgekehrt, der Egoismus sei, recht verstanden, eine Form des Altruismus, stehe jedenfalls nicht im Gegensatz dazu. Was zunächst egoistisch zu sein scheint, so auch Aggressivität, sei in der Regel darauf gerichtet, auf Umwegen zum eigentlichen Ziel unseres Strebens zu gelangen: die Ausschüttung der ersehnten Botenstoffe - eine Belohnung, die dann eintritt, wenn Beziehungen gelingen und Menschen kooperativ sind."(...)

ich teile die aussagen über den egoismus, wobei das wort inzwischen einen solch negativen klang hat, das ich eher "individualität" bevorzuge, in die ein gesunder egoismus eingebettet ist. davon zu trennen wäre deutlich der egozentrismus, den ich als bezeichnung besser für all das geeignet halte, was normalerweise unter egoismus an destruktivität gesammelt wird. ansonsten finde ich es erfreulich, dass auch der konstruktivistische charakter vieler ideologischer systemstützender aussagen offensichtlich zum thema wird.

*

und dem fazit des ganzen kann ich nur freudig zustimmen:

(...)"Von Hayeks Vorschlag, die Idee der sozialen Gerechtigkeit als Atavismus anzusehen, könnte unter Berücksichtigung der neueren biologischen Forschung sogar umgedreht werden: Sofern die "spontane Ordnung" einer neoliberal interpretierten Marktwirtschaft den Menschen Schwierigkeiten macht, liegt das nicht daran, dass die Menschen an überholten Vorstellungen festhalten. Umgekehrt ließe sich eine Wirtschaftsordnung als "atavistisch" deuten, die auf Prinzipien baut, die noch nie mit der menschlichen Natur harmonierten."(...)

yo!

*

ich habe mich jetzt kürzer gefasst, als ich ursprünglich vorhatte und kann mir vorstellen, dass es einigen leserInnen immer noch unklar sein wird, warum ich diese überschrift für die beiträge gewählt habe. betrachten Sie´s als eine art eigenständige einleitung für den text, an dem ich jetzt schon lange sitze - ein beitrag, der sich speziell mit dem wesen und der rolle der soziopathie in und für die heutige westliche gesellschaft befassen wird. spätestens dann wird die these der überschrift voll verständlich sein.

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