Samstag, 20. Februar 2010

kontext 62: wenn eine gesellschaft das objektive...

...bzw. die sog. objektivität als fetisch behandelt, als götze anbetet und die wahrnehmung im objektivistischen modus mit seinen verdinglichenden wirkungen als "normalität" betrachtet, so wird sie erstens zwangsläufig auf die dauer ver-rückt, was sich dann zweitens u.a. in solchen beobachtungen manifestiert:

(...) "Und was beiden sowohl dort als auch bei den Hausbesuchen auffalle, sei der geistige Gesundheitszustand ihrer Klienten. "Wir haben es immer mehr mit jungen Menschen zu tun, die psychische Probleme haben", sagt Urfels. "Und wir reden hier nicht vom Liebeskummer, sondern von einem absolut massiven Anstieg von suizidgefährdeten Jugendlichen und Borderline-Patienten", fügt Zenner hinzu. Zudem gebe es immer häufiger Fälle von Wahrnehmungsstörungen, "sowohl im Selbstbild als auch in der Fremdwahrnehmung". (...)

anfügen möchte ich noch, dass ich eigentlich keine "psychischen probleme" kenne, die nicht auch mit selbst- und fremdwahrnehmungsstörungen einhergehen bzw. sich in symptomen innerhalb dieses bereiches manifestieren können. umgekehrt müssen funktionale wahrnehmungsstörungen nicht unbedingt gleich eine psychiatrische diagnose nach sich ziehen; eher könnten ihre auswirkungen auf die sozialen beziehungen des betroffenen dann eine solche nach sich ziehen. einige interessante abschnitte aus einem
buch zu kindlichen wahrnehmungsstörungen machen mögliche ausmaße und folgen ganz gut deutlich - wenn Sie ab der seite 34 runterscrollen, gibt es jeweils kurze und knappe zusammenfassungen aller relevanten möglichen wahrnehmungsstörungen und ihrer ursachen.

und nicht zufällig sind viele der beschriebenen auswirkungen einzeln oder in kombinationen auch in den symptombeschreibungen vieler psychiatrischer diagnostischer modelle zu finden - unruhig, ablenkbar, unkonzentriert, schnell in konflikte mit anderen ohne erkennbare ursache verwickelt, rückzugs- und isolationstendenzen etc.

es wäre zur abwechslung mal eine wirklich vernünftige politische forderung, selbst- und fremdwahrnehmungskompetenzen sowie entsprechendes training in möglichst vielen gesellschaftlichen bereichen - von den schulen angefangen - zu verankern und die strukturen und mittel dafür einzufordern. das wäre dann im weitesten sinne auch schon als beitrag einer lebensnotwendigen traumaprävention zu begreifen (immerhin scheint es bereits in vielen sportarten normal zu werden, speziell
propriozeptives training in ihren jeweiligen bereich zu integrieren. auch, wenn das meist unter dem aspekt der leistungssteigerung gesehen werden sollte, ist das aufgrund der elementaren bedeutung sehr begrüssenswert).

aufgewärmt: grundeinkommen; "neurolinguistisches programmieren"

eine neue rubrik gibt´s jetzt also - immerhin wird das blog in diesem jahr bereits beiträge aus fünf jahren enthalten; und durch die ausgewählten themen ergibt es sich immer wieder, dass auch teils sehr alte beiträge für mich immer noch aktuell und in ihren kernaussagen weiterhin gültig sind. um die ergänzungen, die im laufe der zeit so anfallen, auch angemessen unterzubringen, reicht es meiner meinung nicht aus, wie bisher lediglich - und meist noch in den zugehörigen kommentaren - updates zu bringen. das werde ich zukünftig zwar auch noch machen, aber nur dann, wenn es sich um reine infolinks etc. handelt. für weitergehende inhaltliche anmerkungen jedoch werde ich ab jetzt diese rubrik nutzen - und neue leserInnen können auf diese weise auch bekanntschaft mit älteren, nichtsdestotrotz mir weiter wichtig erscheinenden beiträgen machen.

*

im zuge der aktuellen - hm, "diskussion" möchte ich das eigentlich nicht nennen, sagen wir mal auseinandersetzung - rund um "hartz IV" und den sozialstaat allgemein kommt am rande auch wieder das längere zeit etwas verschüttete thema des "bedingungslosen grundeinkommens" (bge) auf den tisch. aktuell liefert telepolis bspw. einen interessanten überblick zu laufenden
pilotprojekten in verschiedenen ländern. und im zugehörigen forum kam dann sehr schnell wieder ein aspekt auf, der seit beginn eine ganz zentrale rolle in der debatte spielt - wer würde dann noch (lohn-)arbeiten gehen?:

"Wenn ich mich mit Leuten über das BGE unterhalte und man dann dazu
übergeht das Für und Wider abzuwägen kommt es regelmäßig zu folgenden
Standpunkten:

1. 'Also ich würde das BGE nehmen und mir dann eine Tätigkeit suchen,
die mir liegt und noch was dazu verdienen. Vielleicht nur 4 Stunden
am Tag oder nur 3 Tage die Woche, vielleicht sogar ehrenamtlich.'

2. 'Aber die Anderen würden sich doch nur auf der faulen Haut
ausruhen. Kein anderer würde mehr arbeiten wollen. Wer soll dann das
BGE bezahlen.'

Interessant dabei ist, dass diese Meinung sowohl von Chefs als auch
von kleinen Angestellten vertreten wird ;-)


jenseits von allen primär ökonomischen bzw. technischen überlegungen zur umsetzbarkeit war das auch das hauptthema im beitrag
das "bedingungslose grundeinkommen" und seine psychophysischen hindernisse, in dem ich versucht habe aufzuzeigen, dass das aktuell herrschende menschenbild eigentlich das zentrale hindernis darstellt; und zwar nicht nur auf dem weg zu einem wie auch immer gestalteten bge, sondern auch bezgl. der meisten notwendigen gesellschaftlichen veränderungen. im grunde liegt der these von der "faulen haut" die überzeugung "der mensch ist von natur aus schlecht" zu grunde - und das ist dann allerdings ein glaubenssatz, der bereits stark soziopathische wahrnehmungselemente enthält.

*

letzteres lässt sich in keineswegs überspitzter form auch von der "psychotechnik" des sog. neurolinguistischen programmierens behaupten, dessen explizit konstruktivistischer und simulativer hintergrund im beitrag
"neurolinguistisches programmieren" oder: wahnsinn mit methode ? dargestellt wurde. nun ist mir eher zufällig ein interview aus dem jahr 2005 mit einem der entwickler der methode vor die augen gekommen, welches aufgrund seiner klaren aussagen ideal als ergänzung passt - man könnte auch sagen, da redet sich einer um kopf und kragen - zunächst mit seiner charakterisierung von "erfolgreichen" politikern:

"Die Presse: Haben Sie Politiker damit konfrontiert, Ihre Methoden missbraucht zu haben?

Grinder: Ja, in den USA. In meinen Augen ist eines der hervorstechenden Charakteristika eines Politikers, egal welcher Partei oder Ideologie, ein guter Massenhypnotiseur zu sein. Das ist keine negative Aussage. Es ist die Beschreibung von Eigenschaften, die ein Politiker braucht. Wenn ein Politiker zu 10.000 Leuten spricht, muss er eine Sprache wählen, die abstrakt genug ist, dass jeder, der zuhört, seine eigene Interpretation des Inhalts in den Worten des Politikers wiederfindet. Sie glauben, übereinzustimmen mit dem, was sie glauben, dass der Politiker sagt."


die feststellung "Das ist keine negative Aussage" ist dabei allerdings nur in seiner eigenen weltwahrnehmung gültig, und die ist eindeutig eine gestörte, was besonders im letzten teil des interviews überdeutlich wird:

"Grinder: Unbewusst vertraut er mir, weil ich bewusst die Körpersignale ablese und weiß, wann ich direkte Fragen stellen kann und wann nicht. Wenn ich gut bin in dieser Anpassung – die nonverbalen Signale zu lesen, wie der Zustand des Vis-à-vis ist und welche Reaktionen angebracht sind –, dann weiß ich, welche anderen Möglichkeiten ich habe, um zu verhindern, dass Hindernisse im Weg sind, die ich entstehen sehe. Das ist Manipulation. Es gibt ethische Manipulation und unethische Manipulation. Ich glaube, dass es unmöglich ist, effektiv zu kommunizieren, ohne zu manipulieren.

Die Presse: Wie gehen Sie mit Emotionen bei Verhandlungen um?

Grinder: Eine Methode in der Verhandlung ist, eine dritte Position einzunehmen: Wann immer Gefühle ins Spiel kommen, die nicht mit dem Verhandlungsgegenstand in Einklang zu bringen sind, kann man in die Position des Beobachters springen. Aus der Position eines Dritten lässt sich das Geschehen neutral beobachten, wie im Theater. Es ist kein Druck mehr da. Ich kann mich selbst beobachten und mir raten: John, du musst dich so verhalten, um das Ziel der Verhandlung besser zu erreichen. Das heißt nicht, dass ich keine Emotionen habe. Ich wähle, welche Emotionen ich gerade erlebe."


das "bewusste" ablesen von mimik und körpersprache ist bereits ein hinweis darauf, dass hier keinerlei authentische beziehungsebene mehr vorhanden ist. freundlich gesagt, wird hier von einer sog. metaebene aus beobachtet; funktional ist das nichts anderes als der objektivistische wahrnehmungsmodus. im kern ein manöver, welches die meisten menschen der "zivilisierten" welt tag für tag in diversen situationen ebenfalls anwenden. nur: das nlp-weltbild behauptet, dass das die angeblich normale form menschlicher kommunikation darstellen würde.

letzteres gilt aber nur für grundsätzlich in ihrer selbst- und fremdwahrnehmung gestörte menschen - im kern beschreibt grinder hier nichts anderes als jene taktiken der (pseudo, als-ob, simulativen) kommunikation, wie sie im extrem auch jeder soziopath (aka
als-ob-persönlichkeiten) verwendet - lesen Sie nochmal die beschreibungen des tom ripley.

und klar ist das manipulation. die "ethik" ist dabei sekundär bzw. auch nur als konstrukt vorhanden, solange ernsthaft behauptet wird, "effektive (was ist damit eigentlich gemeint? und für wen effektiv?) kommunikation ist ohne manipulation unmöglich".

ich hoffe ja, dass die grosse mehrzahl meiner leserInnen durchaus so beziehungsfähig ist, dass Sie aus ganz eigenem erleben den grotesken unsinn dieser these nachvollziehen können - freundschaft, gar liebe und überhaupt alle erfüllten sozialen beziehungen sind in diesem system lediglich das resultat "effizienter manipulation" - mertz hatte schon völlig recht mit seinem vernichtenden urteil über nlp, nachzulesen im damaligen beitrag.

der objektivistische modus ist auch im letzten absatz von grinder unübersehbar, wenn er sagt

"Aus der Position eines Dritten lässt sich das Geschehen neutral beobachten, wie im Theater."

das sind nicht zufällig ebenfalls fast genau die gleichen worte, wie sie ein tom ripley bezgl. seiner (geplanten und kontrollierten) auftritte in der sozialen welt verwendet. hier wird genau jener wahrnehmungsmodus der objektivierung, kontrolle und letztlich zwangsläufigen verdinglichung beschrieben (und unverschämterweise als "anthropologische konstante" ausgegeben), der mit grosser wahrscheinlichkeit an so ziemlich allen destruktiven sozialen und zwischenmenschlichen prozessen hauptverantwortlich beteiligt ist. auch die scheinbare "auswahl der emotionen" gehört dazu - authentische gefühle lassen sich keinesfalls "auswählen", wie es hoffentlich die allermeisten von uns aus ihren alltagserfahrungen wissen - auch das ist nur mit simulierten emotionen möglich, wie sie ebenfalls in der parallelwelt der soziopathen die norm darstellen.

das sich nlp-training nicht nur bei leuten wie bspw. helmut kohl und
jörg haider findet, sondern auch in transnationalen konzernen verbreitet ist - zitat aus dem damaligen beitrag:

"...internationalen Konzerne IBM, Mercedes, Coca-Cola, Sandoz, Master Foods, American Express und BP wissen schon längst um das enorme Potential der neuen Coaching-Methode. Auch hierzulande hielt NLP bereits Einzug in firmeninterne Trainingsprogramme:

Bei Philips, Agip, Voest Linz, Bank Austria, Palmers, Interunfall, Siemens, Boehringer-Mannheim oder Wüstenrot verbessern Manager ihre Fähigkeiten mittels NLP."


macht nochmals deutlich, dass es sich dabei nicht um irgendeine esoterische randerscheinung handelt, sondern um eine verbreitete manipulationstechnik mit einem konstruktivistischen welt- und menschenbild dahinter - also im kern nichts anderes beschreibt als eine welt, wie sie eine defekte soziopathische wahrnehmung als normalität produziert.

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