Freitag, 18. Juni 2010

kontext 66: wenn die selbstwahrnehmung fremdelt...

... dann können sich u.a. so interessante phänomene manifestieren, wie sie hier leicht herablassend unter dem begriff "hirngespinste" thematisiert werden:

(...) "Wohin sie auch die Augen wendet, es ist schon da: ein Gesicht halb durchsichtig. Es schwebt vor ihr in der Luft, drängt sich beim Blick in die Handtasche dazwischen. Es äfft ihre Miene nach, denn es ist ihr eigenes Gesicht, das sie verfolgt.

Die junge Frau, die seit einem Schlaganfall von ihrem eigenem Gesicht verfolgt wurde, ist nur eines von Dutzenden Fallbeispielen für sogenannte Selbstwahrnehmungsstörungen, die der Wahrnehmungsforscher Olaf Blanke an der ETH Lausanne gesammelt hat. Er sagt: "Man muss nicht verrückt sein, um Dubletten des eigenen Körpers zu sehen." (...)


aber ich will nicht zu nörgelig sein; der artikel ist wirklich spannend und wirft ein weiteres mal aus der perspektive der neuroforschung auch schlaglichter der erkenntnis auf phänomene, die früher im allgemeinen verständnis eher der religiösen, mystischen oder auch parapsychologischen schiene zugeordnet wurden - alleine die "out-of-body"-erfahrungen haben bspw. generationen lang in den genannten bereichen für wildeste erklärungsversuche gesorgt, was immerhin ob ihrer oftmals spektakulären wirkung auf betroffene menschen nachvollziehbar erscheint.

(...) "Ich löse mich auf. Mein Bauch zerfließt, meine Arme und Beine verschwinden. Ich möchte schreien, aber da ist nichts mehr, was dem Willen gehorcht. Einsamer kann man nicht sein.

"Ein epileptischer Patient berichtete mir, dass sein Körper während der Anfälle verschwindet", sagt Heydrich. Die Epilepsie ging von dem Bereich aus, der von Singer als möglicher Sitz des Selbst verdächtigt wird, vom frontalen Cortex. Und sie weist auf ein damit verbundenes System, welches das Gefühl fürs Selbst mit der Analyse von Bewegungen verknüpft. Um uns zu versichern, dass wir existieren, beobachten wir offenbar sorgfältig unsere Bewegungen."


das wort "beobachten" führt in diesem zusammenhang auf eine falsche fährte, weil es implizit eine "bewusste" aktion nahelegt - dem ist durchaus nicht so. grundsätzlich passt das aber zu dem, was über eine ganz fundamentale menschliche wahrnehmungsart, die
propriozeption, inzwischen bekannt ist. und das bringt überfälligerweise den ganzen körper ins spiel und führt mich darüber zum letzten absatz, an dem ich dann doch kritik üben möchte:

"Bei allem, was man heute über den Weg weiß, auf dem das Gehirn die verschiedenen Aspekte unseres Selbstgefühls konstruiert, drängt sich der Verdacht auf, dass unser Eindruck, ein einziges und eindeutiges Ich zu besitzen, vielleicht im wahrsten Sinne des Wortes ein Hirngespinst ist. Aber es ist offenbar nötig, um uns Sicherheit zu geben." (...)

um es kurz zu machen: natürlich stoße ich mich an dem wort "konstruiert", auch wenn das als ein beschreibendes attribut in diesem fall nicht unbedingt falsch ist. aber erstens ist das gehirn ein körperorgan, und eine hierarchiesetzung zu anderen organen ist weder hilfreich noch zwingend, selbst wenn man die spezifischen fähigkeiten des gehirns berücksichtigt. zweitens folgt daraus, dass das beschriebene "konstruieren" die vorgesehene art und weise des körpers ist, realität wahrzunehmen. auch, wenn diese art drittens eine durchaus breiter fließendes, wenn auch begrenztes spektrum an wahrnehmungen zulässt (die offen pathologischen wahrnehmungsarten zähle ich ebenfalls dazu). und viertens verweise ich hinsichtlich des "konstruierens" sowie die probleme, die dieses modell mit sich bringt, auf
diesen beitrag, in dem sich zusammenfassend meine grundsätzlichen kritikpunkte an konstruktivistischen weltbildern (und die werden in spezifischer ausprägung auch in großen teilen der hirnforschung benutzt) bzw. ihren implikationen finden lassen. wie gesagt: nicht, dass unser gehirn nicht auch im funktionalen sinne tatsächlich konstruiert. aber das kann eben keinesfalls als stütze für das gerede "jeder-konstruiert-sich-seine-eigene-realität" etc. herhalten.

dass die heute in der westlichen kultur verbreiteten ego-formen allerdings tatsächlich relativ sind, also auch qualitativ andere vorstellbar und möglich erscheinen, wird aus meiner sicht durch das eben skizzierte übrigens nicht negiert.

notiz: sind pestizide für das "aufmerksamkeitsdefizit(hyperaktivitäts-)syndrom" mitverantwortlich ?

"das toxische chemikalien natürlich auch psychische bzw. neurologische effekte auslösen können, ist zwar seit langem bekannt, wird aber kaum jemals berücksichtigt."

*

so beschrieb ich mal vor ein paar jahren das problem mit den realistisch betrachtet sich völlig ausser kontrolle befindenden kontaminierungen der gesamten menschlichen und sonstigen lebenswelt mit immer neuen chemischen stoffen, von denen meistens niemand auch nur den hauch einer ahnung davon hat, wie sie sich mittel- und langfristig in den ökologischen beziehungsgeflechten auswirken werden. der satz kam mir bei ansicht einer meldung in den sinn, die es hierzulande vor ein paar wochen kaum wirklich zu größerer medialer aufmerksamkeit gebracht hat -
Studie findet Zusammenhang zwischen Pestiziden und Hyperaktivität; als zusammenfassende quelle nutze ich dafür mir das bisher unbekannte blog des "chemical sensitivity network", welches ich nach einigem drüber- und querlesen so interessant fand, dass ich es gleich mal mit in die blogroll gepackt habe.

und darum geht es:

(...) "Wissenschaftler aus den Vereinigten Staaten und Kanada fanden heraus, dass Jugendliche mit hohen Pestizidrückständen im Urin, vor allem solche von weit verbreiteten Insektiziden wie Malathion, eine höhere Wahrscheinlichkeit für ADHS aufwiesen – die Verhaltensstörung, die sich in der Schule und im sozialem Leben oft störend auswirkt.

Kinder mit einer über dem Durchschnitt liegenden Pestizidbelastung für den Marker eines einzigen Schädlingsbekämpfungsmittels , hatten fast doppelt so häufig die Diagnose ADHS erhalten, wie Kinder, die keine Spuren des Giftes in ihrem Körper zeigten.

“Ich denke, dass ist recht signifikant. Eine Verdoppelung ist eine starke Auswirkung,“ sagte Maryse F. Bouchard, eine Wissenschaftlerin der University of Montreal in Quebec und Leiterin der Studie, die am 17. Mai 2010 im medizinischen Fachjournal Pediatrics veröffentlicht wurde." (...)


"malathion" gehört zur gruppe der sog. organophosphatpestizide und ist in d-land, österreich und der schweiz nicht für den einsatz als "pflanzenschutzmittel" zugelassen, in den usa und anderen ländern aber schon. dazu wird es auch medizinisch zur behandlung von kopfläusen und krätze eingesetzt - hierzulande wurde das entsprechende mittel aber wohl 2006 vom markt genommen, während es in anderen europäischen staaten weiter in gleicher funktion anwendung findet, trotz hinweisen auf zunehmende resistenzen seitens der läuse (zusammenfassung aus dem gleichnamigen wikiartikel zum thema).

es gibt ja nicht nur bei der "ad(h)s"-diagnose weiterhin das problem, ob es sich beim diagnostischen modell nun primär um ein konstrukt handelt, welches dazu dient, als störend wahrgenommenes / interpretiertes verhalten v.a. bei kindern in klassischer art & weise (und unter kräftiger mithilfe der pharmaindustrie) zu pathologisieren oder ob hier tatsächlich eine - mitunter etwas diffuse, was aber eigentlich bei allen psychiatrischen diagnosemodellen sozusagen in der natur der sache liegt - relevante störung psychophysischer prozesse vorliegt, mit nachweisbaren veränderungen in gehirn und nervensystem(-en). für beide perspektiven gibt es meines wissen nachvollziehbare argumente, aber ich lasse mich da auch gerne korrigieren. womöglich können auch beide sichtweisen gleichzeitig gelten, aber das ist ein anderes thema.

unabhängig davon ist es durchaus eine dringende angelegenheit, die pathogenen einflüsse von pestiziden und chemischen substanzen überhaupt auf lebende organismen verschärft unter die lupe zu nehmen:

(...) "Pestizide wirken auf das Nervensystem ein, erläuterte Bouchard, die Organophosphatpestizide studierte, welche etwa 70 Prozent des Einsatzes von Pestiziden in den USA ausmachen. Sie wirken durch den Eingriff in das Nervensystem von Insekten, aber eine ähnliche Wirkung haben sie auch bei Säugetieren, einschließlich des Menschen. Die meisten Menschen in den USA haben Rückstände der Produkte in ihrem Urin." (...)

die interessante frage in diesem speziellen zusammenhang lautet natürlich so: würde sich das ergebnis auch bei europäischen kindern so finden lassen? das wäre dann aus meiner sicht tatsächlich ein belastbares und beweiskräftiges indiz für die in der frage der überschrift vorhandene these. bis dahin lässt sich durchaus den empfehlungen des csn-blogs für eltern betroffener kinder zustimmen - einfach versuchen, zumindest die bekannten hochpestizidbelasteten früchte und gemüse nicht mehr aus "konventioneller" erzeugung zu beziehen, auch wenn sie dann seltener auf den tisch kommen. aber eigentlich ist das eine empfehlung, die sich grundsätzlich für alle von vorteil erweisen würde - unabhängig von ad(h)s.

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