Donnerstag, 2. Dezember 2010

notiz: wikileaks - am vierten tag

"Liest man die diplomatischen Depeschen, die von Wikileaks veröffentlicht wurden, kommt man zum Schluss: Offenbar wird die Welt von Verrückten regiert."

("Die große Freakshow")

*
yep. das ist zwar grundsätzlich weder eine neue tatsache noch eine neue erkenntnis, aber ich stimme der ansicht zu, dass das gesamte sich entfaltende szenario der letzten tage - und zwar nicht nur der inhalt der depeschen, sondern v.a. die weltweiten und inzwischen unzähligen reaktionen aller art auf alle aspekte dieser geschichte - so wie selten zuvor dafür geeignet ist, die oben genannte schlußfolgerung zu unterstreichen, und zwar sehr dick. und ich finde es dabei durchaus einen qualitativen unterschied, ob ich bezgl. historisch-politischen ereignissen oder auch hinsichtlich der psychophysischen verfassung von sog. "eliten" einiges vermuten, ahnen oder mir zusammenreimen kann, oder ob letztlich aus einem teil des elitären apparates selbst material offen wird, das in der gesamtschau auf nichts anderes hinausläuft. was gezeigt wird, ist neben dem, was allgemein so als "moralisch und ethisch fragwürdig" benannt wird (eine kategorie, die ich aus verschiedenen gründen für wirkungslos halte), ein kaleidoskop grundsätzlich antisozialem und psychiatrisch relevantem verhaltens: größenwahn, paranoia, macht über andere als selbstzweck, gestörte kommunikationsformen, und v.a. die vielzahl an intrigen und simulationen - plots und gegenplots, gegeneinanderausgespiele, in-den-rücken-gefalle, vertrauensbrüche, auf allen ebenen der machthierarchien ein ständiger konkurrenzkampf. kurz: es ist in der realität alles tatsächlich genauso, wie man es schon immer befürchtet und geschlußfolgert hat - eine dysfunktionale "familie" im ganz großen stil. mit den worten des eingangs verlinkten artikels, wenn auch mit einer falschen diagnostischen unterscheidung am schluß (weil damit bekanntlich das gleiche gemeint ist):

(...) "Und hier geben die Wikileaks-Depeschen den Blick frei auf eine erstaunliche Freakshow, ja auf einen dermassen schockierenden Jahrmarkt von Eitelkeit, Inkompetenz, Korruption und Machtwahn, dass man sich verwundert die Augen reibt und fragt, ob nur Chef werden könne, wer Psycho- oder zumindest Soziopath sei." (...)

wenn diese frage in folge der veröffentlichung von immer mehr gestellt wird, hat sie alleine schon deshalb ihren sinn gehabt.

*

als erstes wieder eine kurze übersicht zu den aus meiner perspektive brisantesten punkten, wie sie sich bis zur stunde darstellen. ich werde dabei nicht zu jeder einzelnen quelle verlinken; z.t. auch deswegen, weil ich es für empfehlenswert halte, dass sich möglichst viele selbst ein bild machen, welches durch eigene recherche zu vielen überrraschenden funden führen kann - gerade, was die bisherigen internationalen reaktionen betrifft. das folgende ist eine zusammenstellung von der cablegates-site selbst (die immer wieder mal in phasen schwer erreichbar ist), sowie hauptsächlich internationalen medien - da muss v.a. der guardian hervorgehoben werden, vereinzelt sind heute auch schweizerische und österreichische medien dabei.
  • us-diplomaten in aller welt führen offensichtlich routinemäßig geheimdienstliche aufgaben mit ausdrücklichem auftrag des state departments aus
  • in diesem zusammenhang wird nicht nur die uno bespitzelt, sondern inzwischen ist zb. aus paraguay bekannt geworden, dass der entsprechende auftrag dort lautete, bei den letzten wahlen von allen spitzenkandidaten einen kompletten persönlichkeitsscan durchzuführen, incl. einer dna-probe
  • der präsident des yemen belügt die dortige bevölkerung & und das parlament, indem er einsätze der us-army als solche der eigenen armee ausgibt
  • es gibt eine interessante und undurchsichtige enge verbindung zwischen putin und berlusconi, incl. einer art netzwerk von leuten weitgehend unbekannter coleur um die beiden
  • in den niederlanden und belgien sind taktische us-atomwaffen stationiert, was in beiden ländern in den letzten jahrzehnten von den regierungen egal welcher coleur niemals zugegeben wurde
  • in der türkei bekommt "staatschef" erdogan, der u.a. mit einem wahlprogramm der korruptionsbekämpfung antrat, gerade erste innenpolitische schwierigkeiten, weil durch die depeschen die existenz von vermutlich gleich acht konten bei schweizer banken bekannt geworden ist
  • es ist ein - nach brd-recht völlig illegaler - waffenexport aus d-land durch eine us-firma aus dem "blackwater"-geflecht nach afghanistan bekannt geworden. wo ich gerade bei diesem söldner-unternehmen bin: ebenfalls gibt es hinweise darauf, dass "blackwater" versucht, in ostafrika bei der bekämpfung sog. piraten mitzumischen. wer die praktiken dieser firma kennt, kann sich ausmalen, worauf das hinausläuft
zu den "hot spots" nahost, pakistan, china/nordkorea ist ansonsten genügend an anderen stellen nachzulesen. es wird auch schon deutlich, dass nicht nur die berühmten "diplomatischen verstimmungen" angesagt sind, sondern der leak auch das potenzial für innenpolitische krisen und turbulenzen triggert. die türkei ist diesbezgl. schon genannt; in paraguay wurde zwischenzeitlich die us-amerikanische botschafterin zur regierung zitiert, um erklärungen für das "höchst befremdliche" vorgehen der us-diplomatie zu liefern. auch alpha-rüde putin zeigte sich inzwischen in einem cnn-interview "not amused"; das wird sich wahrscheinlich noch steigern, sobald mehr über einen angekündigten thematischen schwerpunkt im leak - die strukturen der russischen mafia im staat - bekannt wird. die pakistanische regierung ist verschnupft, den öligen feudalherren am golf hat´s erstmal die sprache verschlagen. in großbritannien steht der chef der "bank of england" nach offen gewordenen despektierlichen äußerungen über den neuen tory-regierungschef ziemlich dumm da usw. usf. kurz: die konsequenzen des leaks entfalten sich tatsächlich so vielfältig und unvorhersehbar, wie das bereits am sonntag abschätzbar gewesen ist. und die wertung "diplomatischer super-GAU" für die usa dürfte spätestens in ein paar wochen keine übertreibung mehr sein. auch und gerade vor diesem hintergrund sollten aktuelle verschwörungstheorien, nachdem der leak eine "geplante" aktion darstelle, nochmal dringend auf ihren realitätsgehalt überprüft werden - das müsste dann schon ein gewaltiges ziel einer verschwörung sein, um einen derartigen scherbenhaufen als nebenwirkung einzukalkulieren.

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auch vor dem hintergrund der letzten sätze oben möchte ich im folgenden auf einen speziellen aspekt eingehen, der meines wissens kaum bis gar nicht thematisiert wird. klar ist, dass wir hier sozusagen die "interne hauspost" bzw. teile davon einer regierung vor uns haben, aber eben nicht irgendeiner regierung, sondern die desjenigen staates, der sich selbst durchaus immer noch - trotz des erbärmlichen sozioökonomischen und psychosozialen zustandes von land und staat - als eine art imperium begreift, god´s own country, auserwählt, der ganzen welt ein leuchtendes vorbild in sachen lebengestaltung zu geben. und ja, es gibt in den usa tatsächlich immer noch genügend einflußreiche leute, die das wirklich glauben.

beim querlesen durch die depeschen - da kann man hierzulande ruhig mit denjenigen aus der berliner botschaft anfangen - fand ich von anfang an auffällig, dass so ziemlich jeder von den us-diplomaten als relevant verzeichnete neuzugang auf der öffentlich-politischen bühne hierzulande in einer art und weise beschrieben wird, die sofort an ein nachrichtendienstliches dossier erinnert - aus öffentlichen und nichtöffentlichen quellen werden schlicht komprimierte personendossiers erstellt, und genau daraus stammt zu einem großen teil das als "klatsch" bezeichnete, welches in den letzten tagen im hiesigen medialen focus dominierte.

was aber wie gesagt meines wissen bisher so ziemlich nirgendwo erwähnt wurde, oder besser gesagt: als schlußfolgerung gezogen wurde, ist die sehr wahrscheinliche tatsache, dass wir es hier tatsächlich durchgängig mit grundsätzlich geheimdienstlichen dossiers zu tun haben. es ist hierzulande kaum bekannt, dass in den usa inzwischen ein wahrer dschungel von solchen "diensten" existiert - nach dieser
darstellung, die zwar schon von 2007 ist, aber an deren inhalt sich meines wissens bis auf einige formale änderungen nichts grundsätzlich geändert hat, kommt man dort beim nachzählen auf sage und schreibe sechzehn verschiedene dienste, mit teils extrem spezialisierten aufgabenbereichen. in zusammenhang mit der aktuellen situation ist dabei v.a. der folgende dienst relevant:

(...) "INR (Bureau of Intelligence and Research, Außenministerium). Arbeitet Geheimdienstinformationen für die Verwendung durch das US-Außenministerium auf. (...) Fast zwei Millionen Berichte und etwa 3.500 schriftliche Analysen pro Jahr." (...)

anscheinend war der oder eher das "inr" zunächst irgendwann mal eine hauptsächlich interne sammelstelle für die berichte anderer dienste - so klingt es zumindest aus den obigen zeilen heraus. es ist aber aus meiner sicht keine allzu abwegige spekulation zu vermuten, dass sich dieser "dienst" so entwickelt hat, wie es solche organisationen nun mal zu tun pflegen: als bürokratisch und hierarchisch strukturierte organisationen befolgen sie zunächst mal das gesetz der selbsterhaltung; bei nachrichtendiensten kommt durch die obligatorische geheimniskrämerei und die vernebelung des eigenen tuns noch hinzu, dass sie eher als andere staatliche behörden im zweifelsfall darin erfolgreicher sind, sich als unverzichtbar hinzustellen. und gerade dieser punkt ist bei der enormen konkurrenz auf dem markt der staatlichen geheimdienste der usa elementar, um das erwähnte gesetz zu befolgen. und ich vermute, dass aus der ursprünglich eher passiv anmutenden tätigkeit im zusammenspiel aus politischen vorgaben und den mechanismen der organisation selbst irgendwann etwas durchaus aktives geworden ist - manifestiert z.b. in den ersten beiden punkten der liste weiter oben. in letzter konsequenz bedeutet das: der gesamte diplomatische apparat der usa ist nicht von einer geheimdienstlichen struktur zu unterscheiden. und das betrachte ich durchaus als einen qualitativen unterschied zum bekannten szenario, dass botschaften eines beliebigen landes egal wo auch meistens ein oder zwei büros irgendwo im haus haben, in denen vertreter des jeweiligen auslandsnachrichtendienstes sitzen. das sollte allgemein bekannt sein, dabei ist es aber durchaus i.d.r. auch so, dass das jeweilige diplomatische corps eben nicht durchgängig quasi aus agenten besteht, sondern möglicherweise sogar spannungsverhältnisse zwischen den "klassischen" diplomaten und den agenten als norm existieren.

im falle der usa verhält sich das ganz offensichtlich anders - der hiesige botschafter in berlin hat nicht nur die erwähnten dossiers angefertigt, was bereits eine deutlich nachrichtendienstliche tätigkeit darstellt, sondern unterhält allem anschein nach auch ein eigenes netz von zuträgern und informanten, umgangssprachlich also spitzel, für die der ominöse "aufstrebende junge fdp-aktivist" repräsentativ stehen kann. hillary clinton steht als chefin also einem apparat vor, bei dem die unterscheidung zwischen diplomatischem corps und agentennetz faktisch aufgehoben ist. und ihre reaktionen auf die bisher bekannten tatsachen aus den depeschen machen deutlich, dass ihr das nicht nur bewusst ist, sondern das sie das auch richtig so findet.

mir fällt historisch betrachtet eigentlich nur eine klasse von staaten ein, bei denen die oben erwähnte unterscheidung in den auslandsbotschaften strukturell ähnlich aufgehoben ist: diktaturen aller coleur und repressiv-autoritäre polizeistaaten. ich würde die usa nun nicht eins zu eins mit den genannten gleichsetzen wollen, aber u.a. die unter bush galoppierende terrorparanoia hat einfach sehr wahrscheinlich mit dafür gesorgt, dass im gesamten repressionsapparat entsprechende tendenzen offen zutage getreten sind. auch die nachgewiesene folterpraxis besonders der cia spricht dafür, zumindest weite teile der sog. sicherheitsorgane als latent bis manifest polizeistaatlich agierend zu betrachten. und von daher wären die im leak offen gewordenen entsprechenden depeschen einfach ein ausdruck dieser tatsache. die inhalte kann man zwar als unwesentlichen klatsch bezeichnen - den ich im übrigen keinesfalls uninteressant finde - , jedoch ist der skizzierte vermutliche hintergrund ganz und gar nicht unwesentlich.

*

ich mache mir dabei durchaus keine illusionen über die vorgehensweisen anderer staaten; aber die usa müssen sich nun mal erstens an ihren ständig in die welt herausgetröteten vermeintlichen grundsätzen von "freedomanddemocracy" messen lassen, und zweitens sind sie der einzige staat auf dem planeten, der eine selbsterklärte globale "führungsmacht" sein will und das über mehrerer jahrzehnte auch war. wie sich diese macht jetzt verhält und wie sie sich öffentlich und intern gegenüber freund und feind verhält, spricht schlicht bände. und diese folgerung hat nichts mit irgendeinem antiamerikanismus zu tun. soweit erstmal für heute.

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