Montag, 30. Mai 2011

kontext 75: "werdet zwerge!"

weil´s sehr gut passt und einiges weiterführt, was ich neulich mal angerissen hatte - die "taz-nord" hat einen hamburger literaturwissenschaftler zum zusammenhang zwischen melancholie und utopie interviewt:

"taz: Herr Fuest, was verstehen Sie unter Melancholie?

Leonhard Fuest: Erstmal ist der Begriff konnotiert mit radikaler Traurigkeit und Mattigkeit, Suizidalität. Und es gibt diesen Gedanken, dass der Melancholiker der enttäuschte Utopist ist. Der Melancholiker leidet daran, dass sich das, was er von der Welt erhofft hat, nicht realisieren lässt.

Das Ereignis …

… bleibt aus, genau. Daneben gibt es noch eine auf die Geschichte gerichtete Melancholie, die jüngst sehr wichtig geworden ist. Melancholie als eine Form der nie-an-ein-Ende-gelangenden Trauerarbeit. In den Gedächtnis- und Traumadiskursen seit des Zweiten Weltkrieges ist so die Melancholie als adäquate Haltung, etwa zum Holocaust, erkannt worden.
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Die moderne Übersetzung der Melancholie ist Depression. Was halten Sie davon?

Nichts. An die Depression knüpft sich ein ganz anderer Diskurs. Nach Baudelaire ist die Melancholie die "erlauchte Freundin der Schönheit". Man muss die Melancholie mindestens ästhetisch lesen, man kann sie philologisch und philosophisch lesen, aber natürlich auch politisch.

Wieso politisch?

Der Melancholiker ist der Widerständige. Er ist ein unruhiger Geist, er begnügt sich nicht." (...)


das fasst eigentlich in kurzform bereits alles wichtige zusammen, was es aus meiner sicht zur melancholie zu sagen gibt - und vor allem die abgrenzung zur depression, als klinisch relevantes phänomen, ist durchaus wichtig in einer zeit, da selbst gesunde prozesse von trauer und melancholie - gesund im sinne einer durchaus emotional vernünftigen reaktion auf und eines verarbeitungsversuches von schwer erträgliche(n) realitäten - oft genug gefahr laufen, im negativen sinne von professionellen, die sich offensichtlich mit ihrer eigenen trauer mehr als schwertun, pathologisiert zu werden.

und im gegensatz zur depression, die sich funktional in ihren offenen formen oft genug bis hin zur totalen agonie innerhalb eines lebens steigern kann, ist die melancholie etwas durchaus lebendiges.

(...) "Wie wird man Melancholiker?

Vor allem über die Beobachtung der Welt, beispielsweise das Konsumieren der Medien. Das bedeutet: tägliche Konfrontation mit dem Grauen. Zeitung lesen heißt, an den Rand des Abgrunds treten.

Aber es gibt doch manchmal auch Freudiges zu vermelden.

Ja, aber am Ende läuft es doch hinaus auf das Problem des Nicht-Fertig-Werdens mit jenen Grausamkeiten und Dummheiten, die die Welt zu regieren scheinen.

Was also tun?

Da wird es schwierig. Der Melancholiker ist ja einer, der ein gestörtes Verhältnis zur Tat hat. Der Melancholiker schätzt die Unermesslichkeit des Wissens. Die aber verhindert die Tat, weil dazu immer die Entscheidung nötig ist, das Urteil, jetzt genug zu wissen." (...)


wie schön :-) - mit der letzten antwort wird mein seit langem schwelender verdacht bestärkt, dass weite teile besonders der marxistisch (in allen formen) orientierten linken größtenteils verkappte melancholikerInnen sind - gerade dann, wenn auf "die noch nicht ausreifend gereiften gesellschaftlichen widersprüche" als begründung zum nichtstun verwiesen wird. aber auch dann, wenn quasi fix und fertige "lösungen", gar "pläne" gefordert werden, deren inhalt unbescheidenermaßen nichts geringeres als eine art kompletter instant-alternativentwurf für eine neue gesellschaft sein soll, dürfte sich hinter dieser nicht nur unmöglich umzusetzenden, sondern auch real in ihrer maßlosigkeit lähmenden forderung oft genug jene resigniert-müde bis trotzig abwinkende bittersweetness verbergen, die hierzulande natürlich noch zusätzlich jene aspekte enthält, die fuest weiter oben bezgl. der "niemals endenden" trauerarbeit angesprochen hat (ein aspekt übrigens, den ich anders sehe - eine trauerarbeit, die "niemals" zu enden scheint, hat durchaus pathologische qualitäten und verweist auf steckengebliebenes).

als literaturfreak verweist fuest dann im weiteren verlauf auf sozusagen ästhetische auswege - oder genauer: geistige tricks - für den umgang mit der grundsätzlichen melancholie, bei denen zumindest ich ihm nicht unbedingt folgen möchte. sicher, musik und literatur können zustände erhellen, ausdrücken, anders erfahrbar machen - aber sie können sie nicht verändern. und das ist letztlich - für mich - ein implizite aufforderung, die auch in der melancholie steckt - "du hast keine chance, aber nutze sie".

zur frage, wie er denn einen melancholischen anfall im gefolge einer (persönlichen) krise literarisch "behandeln" würde, gibt er eine vielsagende antwort:

(...) "Dann gibt es zwei Möglichkeiten: Linderung oder die homöopathische Herangehensweise, über die wir Sie zunächst in den Zustand einer Heilskrise versetzen. Dazu würde ich Ihnen etwa die Aphorismen von Emile Cioran verschreiben unter der Überschrift: "Vom Nachteil geboren zu sein". Da stehen so Sachen wie: "Atmen ist Unzucht". Oder: Man hätte uns ersparen sollen, einen Körper herumzuschleppen, die Last des Ichs reicht vollkommen aus." (...)

auch wenn ich finde, dass "atmen ist unzucht" als aussage durchaus etwas hat - letztlich ist diese ästhetisierte, also im weitesten sinne "geistige", herangehensweise dann eine sehr versteckte art des "mehr desselben", also mehr von dem, was die misere erst auslöst. das ist das logische ergebnis der verherrlichung des "geistigen" in der westlichen kultur, die dann solche sätze wie den letzten erst hervorbringt. das gilt zwar als kunst, ist aber letztlich eine getreue wiederspiegelung des grundsätzlichen objektivistischen wahns innerhalb dieser kultur, in der weiterhin größtenteils und hartnäckig ignoriert wird, dass das umjubelte "ich" westlicher ausprägung eine durch und durch körperliche angelegenheit ist, deren lästige ausprägungen erst durch bestimmte störungen innerhalb der psychophysis entstehen. und diese aufzulösen bzw. zu verändern, ist sicher auch kunst, aber mit einem ganz anderen verständnis vom menschlichen sein.

aber nun endlich zu den zwergen:

(...) "Ich bin Jahrgang 1967, das ist die Generation Golf. Ich finde es gut, dass bei dieser Generation bis heute, obwohl sie jetzt an die Macht geht, bislang, toi, toi, toi, keine Helden dabei sind. Und damit das auch so bleibt, schlage ich vor: Werdet, die ihr seid, werdet Zwerge!

Ist das nicht ein Rückzug?

Nein, ein Auszug. Die Zwerge, das sind in den Mythen die Ausgewanderten. Die Zwerge sind diejenigen, die weggegangen sind, weil die Menschen zu laut waren, zu habgierig, zu hässlich und zu tölpelhaft. Und es sind die, die unterirdisch wühlen, an den Wurzeln graben. Die wahren Radikalen."




*

sehr spannende ansätze zur zwergenhaftigkeit in
spanien:

(...) "So etwas habe ich noch nie gesehen", sagt ein älterer Mann und setzt sich zu den anderen auf den Boden. Rund 600 Menschen aller Altersgruppen waren am Samstag pünktlich um 12 Uhr auf einem Platz in Lavapiés, dem Herzen des alten Madrid, zur "Volksversammlung" gekommen. Keinen Kilometer entfernt hatten sich weitere 500 Menschen eingefunden. Noch ein Stück weiter 600, im Arbeiterviertel Vallecas weit über 1.000.

Die Liste umfasst 140 Stadtteile, Vororte und Dörfer der Region. "Die Bewegung ist in den Stadtteilen angekommen", stellt eine Sprecherin im Protestcamp auf dem zentralen Platz Puerta del Sol zufrieden fest. (...)

Seit der Platz im Herzen Madrids vor zwei Wochen nach einer Großdemonstration unter dem Motto "Echte Demokratie Jetzt!" besetzt wurde, arbeitet die junge Frau in der "Kommission Ausweitung". Jetzt sitzt sie vor dem Computer und trägt die Früchte ihres Engagements ein. "30 Stadtteile haben ihre Daten bisher übermittelt. Insgesamt waren dort 15.000 Menschen", sagt sie. 25.000 bis 30.000 oder mehr könnten es am Ende gewesen sein. "Nicht bei einer Demonstration, sondern um zu diskutieren und zu planen, wie es weitergeht", sagt einer ihrer Kollegen." (...)


behalten Sie das einfach mal im hinterkopf, wenn spanien in den nächsten tagen medial nur noch im zusammenhang mit gurken genannt wird.

ebenfalls sind in griechenland nicht nur seit tagen plätze besetzt, sondern es finden auch tag für tag bzw. abend für abend große
massendemonstrationen statt, von denen unsere von und für domestizierte gartenzwerge gemachten medien nur wiederwillig notiz nehmen - dabei sind zusehends nicht nur in spanien und griechenland wild werdende zwerge unterwegs. auch in paris gab es gestern auf dem platz vor der bastille eine erste große demonstration von ca. 5000 menschen, die sich ebenso wie etliche in italien und portugal anschicken, ihre mögliche zwergenhaftigkeit zu entdecken.

gesammelte infos gibt´s neben den üblichen verdächtigen namens twitter und facebook ( mit dem ich allerdings größte bauchschmerzen habe), auf einer neuen seite mit dem schönen namen
europeanrevolution.

und das passende wort zum montag zum weitgehenden und fast schon beleidigten linken und linksradikalen schweigen zu all dem, was sich da inzwischen auf vielen europäischen plätzen abspielt, klaue ich heute aus einer
kommentarspalte bei indymedia:

"Ich habe nicht erst seit den Antideutschen den Eindruck, dass die Marginalisierung weiter Teile der Linken nicht einer geschlossenen völkischen Geisteshaltung der Bevölkerung zuzuschreiben ist, vielmehr wird die eigene Marginalität mit einer Exklusivität verwechselt und daher angestrebt. Der Rest: Normalos, Bürgerliche, Wohlfühl-Ökos, Masse....

Diese Borniertheit zeigt, dass die bestehende linksradikale Praxis ein Anachronismus geworden ist. Klar, was ich von so mancher(m) Demokratie jetzt-AktivistIn zu hören bekomme, klingt mitunter naiv. Einig bin ich mit ihnen aber, dass die bestehenden Verhältnisse (so) unerträglich geworden sind, dass man nicht einmal mehr von einer bürgerlichen Demokratie sprechen kann.

Es ist eine liquid modernity, es wird (hoffentlich) keine geschlossenen Weltbilder mehr geben. Entweder wir gehen Bündnisse ein und ertragen die mitunter auch skurrile Vielfalt und Vielstimmigkeit oder wir beobachten von unserem exklusiven, besserwisserischen Standpunkt aus. Wenn es scheitert, werden die Rechtspopulisten durchmaschieren, die Foghs, Le Pens, Orbans, Wilders, Straches, Sarrazins und ihr menschenverachtendes Pack." (...)


strike! auch für "die" linke gilt die aufforderung der überschrift.

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