notiz: "Liebe in Zeiten des Neoliberalismus"

so lautet heute die überschrift eines artikels in der jungen welt. auch, wenn er für regelmäßige leserInnen hier in seinen wesentlichen aussagen nicht sehr viel neues enthält - als zusammenfassende darstellung kann ich ihn durchaus empfehlen. unbefriedigend finde ich dabei nur die reduktion auf den "klassischen" begriff von liebe, nämlich die traute zweisamkeit incl. sexualität. dabei ist liebe imo eigentlich nicht nur ein hochpolitischer begriff - und lieblosigkeit eine absolut relevante politische kategorie in dem sinne, dass sich gesellschaften eigentlich daran messen lassen müssen, wieweit sie die sozialen und auch ökonomischen bedingungen schaffen, in denen sich ihre mitglieder zu liebesfähigen menschen entwickeln können - , sondern ebenfalls als die wichtigste basis des gesamten menschlichen lebens zu betrachten. es ist vielleicht angebracht, von liebe als existenzieller seinsweise zu sprechen - und das greift sehr weit über die definition von liebe hinaus, mit denen wir in dieser kultur so zu tun haben.

*

ein paar kommentierte auszüge aus dem artikel:

(...)"Der »flexible Mensch« entwurzelt (R. Sennet), denn soziale Bindungen stehen einer ökonomischen Selbstverwertung im Wege, die allseitige Verfügbarkeit, grenzenlosen Zeiteinsatz und geographische Mobilität verlangt."

ja. diese beobachtung wurde hier bereits in verschiedenen zusammenhängen aufgegriffen. ein problem bei derlei soziologischen analysen bestht imo darin, dass sie hinsichtlich der konkreten prozesse, mit denen sich die psychophysische struktur des menschen mit solchen bedingungen versucht auseinanderzusetzen, eigentlich immer sehr im nebulösen bleiben, wenn sie denn überhaupt thema werden. liegt es vielleicht auch daran, dass hier kein verständnis ohne mindestkenntnisse oder zumindest vorstellungen aus "fachfremden" bereichen wie medizin/anatomie, neurologie, psychiatrie, psychologie... möglich ist? immer wieder falle ich darüber: in weiten bereichen der sog. geisteswissenschaften wird mit einem seltsam abgehobenen, entkörperlichten und durchaus virtuellen menschenbild operiert - der "freischwebende geist" scheint immer noch das vorherrschende paradigma zu sein, mit allen negativen konsequenzen, die eine derart verzerrte wahrnehmung nun mal mit sich bringt.

"Mit der Beschleunigung der ökonomischen Reproduktionsgeschwindigkeit haben sich neue Anforderungen an die psychosoziale Reaktionsfähigkeit der Menschen entwickelt, die wiederum auf die zwischenmenschlichen Verhaltensweisen zurückwirken; tendenziell gleichen sich die alltäglichen Sozialstandards den Reaktionsmustern im Wirtschaftsleben an. Die Kurzfristigkeit der Perspektiven in der Arbeitswelt prägen zunehmend eine Haltung der Unverbindlichkeit im Privaten. Die im Berufsleben aufgezwungenen egoistischen bis asozialen Durchsetzungsstrategien äußern sich im privaten Leben in einem berechnenden Verhältnis zum Mitmenschen."(...)

nun, es ist nicht allzuweit hergeholt, den autor als marxisten zu begreifen. von daher ist seine prioritätensetzung oben - die veränderten ökonomischen bedingungen führen zu entsprechend härteren reaktionen im "wirtschaftsleben", und prägen darüber dann die sozialen fähigkeiten - schon nachvollziehbar. aber imo ist das eben nur die hälfte der realität, dazu auch eine undialektische: es ist eher eine wechselspiel teils komplexer art, in denen die ökonomischen strukturen ebenso abhängig sind von sozialen, "weichen" bedingungen - beide prägen sich gegenseitig.

"Angesichts zunehmender Beziehungskatastrophen mutet die ungebrochene Option für die Liebe deplaziert an. Doch gerade weil das herrschende Konkurrenzklima und die beruflichen Anforderungsprofile der vertraulichen Zuneigung und dem Streben nach Gemeinsamkeit wenig förderlich sind, verstärkt sich das Verlangen nach ihnen. Auf die sozialen und emotionalen Defiziterfahrungen reagieren die Menschen mit überspannten Glückserwartungen mit der Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit. Das Verlangen nach verläßlichen Partnerschaften hat sich bei jungen Menschen als Ersatz für die erodierten Gesellschaftsutopien etabliert. Obwohl selbst der illusorische Schleier eines bürgerlichen Familienidylls zerrissen ist, hat er seine Funktion als Orientierungsmuster nicht eingebüßt: Ein »Bedürfnis nach Verläßlichkeit und Heimat geht in die Utopie der Familie ein, obwohl jedermann die Erosion der bürgerlichen Familienstrukturen mit Händen greifbar vor sich hat.«(...) (O. Negt)


yo. hier stimme ich ebenfalls weitgehend zu.

(...)"Die mit Weltfluchttendenzen verbundenen Liebesvorstellungen waren damals Ausdruck des Gefühls eines Verlustes – und dürfte es heute immer noch sein, weil auch die Liebe in den Sog der gesellschaftlichen Fragmentarisierungstendenzen, der Gefährdung sozialer Schutzräume und einer »Individualisierung« im Sinne von Vereinzelung geraten ist. Das Liebenwollen und das Liebenkönnen, der Wunsch nach Zweisamkeit und die Lebenspraxis in den neoliberalistischen Zeiten haben sich auseinanderentwickelt.

Nicht selten ist das Bemühen, den Verlust in einen Gewinn umzuinterpretieren. Mit Hilfe ideologischer Rationalisierungsformeln wird versucht, die individuellen Reaktionen auf die Fragmentarisierung der Existenzbedingungen als Ausdruck eines selbstbestimmten Lebensentwurfs erscheinen zu lassen. Jedoch ist es fraglich, ob besonders viele Menschen ohne den marktvermittelten Anpassungszwang bereit wären, ihr Leben als ein Provisorium einzurichten und sich der latenten Gefahr sozialer Isolierung auszuliefern. Die »freiwillige« Wahl dieser Existenzformen entlarvt sich bei genauerer Betrachtung als Konsequenz beruflicher Zwänge oder allgemeiner Lebensumstände (die meisten »Singles« sind ältere Menschen)."


sehr überpointiert lässt sich das obige in der signatur eines users aus einem forum für aspergerbetroffene entdecken: "Autismus bedeutet nicht man könne nicht "lieben"; man kann ja auch Dinge statt Menschen lieben ;-)" oder aber menschen mittels eigener wahrnehmungsreduktion in dinge verwandeln. liebe lässt sich in solchen konstellationen allerdings nicht leben - das ist unmöglich. (btw: ob sich der smiley im zitat als hinweis auf ironie betrachten lässt, kann in dieser virtuellen ebene imo nicht beurteilt werden).

"Die Tendenzen zur Vereinzelung und sozialen Beziehungslosigkeit, auch zur sozialdarwinistischen Verachtung der Mitmenschen und zur Entwicklung von Selbsthaßsyndromen, sind Spiegelbild eines Lebens im Zeichen steter Unsicherheit und eines permanenten Bewährungsdrucks. Um in der Risikogesellschaft zu bestehen, müssen die Menschen die Disziplin und Zweckrationalität verinnerlichen, sie zu Maximen ihres Lebens machen: Leistung und Erfolg werden zu Imperativen allen Denkens und Handelns. Um sozial nicht zu unterliegen, müssen die Menschen ein zwanghaftes Verhältnis zu sich selbst einnehmen und bereit sein, Tag für Tag ein Stück der eigenen Emotionalität zu Markte zu tragen und ihre soziale Sensibilität zu beschädigen."(...)

die als letztes genannte beschädigung (die imo keinesfalls nur auf die "soziale sensibilität" beschränkt ist) kann allerdings - bekanntlich immer wieder thema hier - auch in diversen psychiatrischen diagnosemodellen entdeckt werden. und nachdem, was bisher über die möglichen ätiologien dieser verschiedenen störungen / defizite bekannt ist, lässt sich ebensogut sagen, dass entsprechend betroffene danach streben könnten, ihre eigenen, massiv von den oder der entsprechenden störung produziertes selbst- und menschen-/weltbild in die (soziale) realität hinein zu konstruieren - was letztlich unter der prämisse des eigenen überlebens durchaus sinn macht, wenngleich dieser auch beschränkt ist.. als beispiel: massive und chronische stresszustände, wie sie bspw. als posttraumatisches symptom auftreten können, werden in bestimmten wirtschaftlichen bereichen für die davon betroffenen sogar "positive" wirkungen haben können - wenn dieser stress nämlich in ein konstrukt ständiger "leistungsbereitschaft" und "arbeitswut" verpackt wird. die langfristigen folgen sind dann natürlich für die geschädigten menschen (und für die gesamte gesellschaft) katastrophal, wenn auch für ihre sog. arbeitgeber durchaus profitabel.

"Besonders durch einen Blick auf die Geschlechterverhältnisse wird das ganze gesellschaftlich produzierte psychische Elend sichtbar: Nicht nur in den literarischen Zustandsbeschreibungen wird das Sexualleben als emotionale Wüste geschildert. Die herrschende Trostlosigkeit und die Intensität der Selbstentfremdung wird von vielen sexualwissenschaftlichen Untersuchungen bestätigt, die eine Tendenz zur Anonymisierung, Beziehungsarmut und emotionalen Kälte beschreiben. Mit dem Fernsehen, dem Telefon und dem Computer wird die Beziehungslosigkeit überspielt: Eros verschwindet tendenziell in den Maschinen. Triebvitalität wird ins Virtuelle übertragen, zwischenmenschliche Vereinigungsbedürfnisse auf Ersatzhandlungen reduziert."(...)

genau die erwähnte "übertragung ins virtuelle" lässt sich funktionell eigentlich nur begreifen, wenn es eine vorstellung der prozesse gibt, die diese virtuellen spären im menschen überhaupt produzieren können. und genau dafür ist das modell des objektivistischen modus ganz gut geeignet.

beschreibungen wie die obige sind dazu auch ein schwerwiegendes indiz dafür, dass diese gesellschaft es tatsächlich mit einer sehr ungesunden, dominanten stellung dieses modus und seiner produktionen zu tun hat.

(...)"Der Sexualforscher Volkmar Sigusch zeichnet die Welt der gegenwärtigen Sexualbeziehungen mit ihrem Egoismus und Dispersionen, ihren bizarren Ersatzhandlungen und narzißtischen Inszenierungspraktiken, ihrem kalten Selbstbefriedigungsdrang (der Kinderprostitution, Sextourismus und Gewaltpornographie mit einschließt) und ihrer ästhetisierten Lustlosigkeit als ein Horrorgemälde in der Tradition Hieronymus Boschs."(...)

auch das möchte ich hier absehbarer zeit aufgreifen: sex in der dingwelt. eigentlich ist das doch sehr naheliegend, dass sich schwere schäden der allgemeinen und speziellen beziehungsfähigkeiten mit am krassesten in der sexualität manifestieren. und "lust" (an der eigenen bzw. fremden objektwerdung wie im bereich von s/m-praktiken zb.) ist nicht gleich lust im sinne eines kraft- und freudvollen, lebendigen und intensiven, liebevollen erlebens.

(...)"Doch auch die gescheiterte Liebe und das verfehlte Streben nach erotischer Erfüllung sind Ausdruck einer im Kern unkontrollierbaren und individuelle Selbstentfaltung reklamierenden Subjektivität. Das Bedürfnis nach Zuneigung, Liebe und Gemeinsamkeit kann immer wieder fehlgeleitet und enttäuscht, nicht aber ausgelöscht werden. Es besitzt eine subversive Kraft, weil sie das Streben nach einem erfüllten Leben durch das Verhältnis zu anderen thematisiert und daran erinnert, daß das Ich ohne das Du nicht existieren kann."(...)

"Solange durch die sozialen Strukturbedingungen ein erfülltes Leben eher behindert denn gefördert wird, verweist die Utopie der Liebe auf die konkrete Utopie einer solidarischen Gesellschaft: »Setze den Menschen als Menschen und sein Verhältnis zur Welt als ein menschliches voraus, so kannst du Liebe nur gegen Liebe austauschen, Vertrauen nur gegen Vertrauen.« (Karl Marx: MEW 40, S. 567)"


dem bleibt wiederum nur hinzuzufügen, dass die erwähnten bedürfnisse - eben weil sie eine körperlich-materielle basis besitzen - in einem gewissen sinne doch soweit "ausgelöscht" werden können, dass sie praktisch so unerkennbar oder auch verstümmelt werden, dass sich die frage stellt, ob es dann noch sinn macht, von solchen bedürfnissen zu reden.
Mondschaukel - 30. Nov, 10:57

Schade ...

der Artikel in der jungen Welt, aus dem Du zitierst, ist nicht mehr zu haben (nur noch kostenpflichtig)

Gruß, Mondschaukel

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