Ubue - 17. Mär, 22:24

Mechanismen

@ Monoma:

in diesen Kommentarbewegungen, ich merke es, entwickele ich mich auch wieder erheblich weg von den Mertz-Thesen. Im Grunde kann ich seinem ganzen thesenstrotzenden Buch fast überall zustimmen, dann aber bezogen auf Borderliner ohne wirksame Therapie, die sozusagen im Regen stehen gelassen werden und mit deren Leben niemand gerne tauschen möchte. Ja, die Opfer- und Täterperspektiven vermischen sich hier auch seltsam, ich halte sie sogar für offen, für ungeklärt.

Am meisten fällt mir im Moment in der Rückschau auf, daß mertz so wenig eigenes Therapieprogramm für Borderliner anbietet. Man stelle sich einen Moment vor, es kommt wieder so ein kontaktgestörter Mensch mit virulentem Verfolgungsintrojekt zu Mertz in die Sprechstunde, was würde Mertz dann sagen, was würde er machen?

Wenn ich dazu phantasiere, kann ich mir eigentlich nur noch Handlungsweisen der Schadensminimierung bei Mertz vorstellen, aber sehr wenig an offener, konstruktiver Therapievorgabe.

Letzlich sind bei Mertz auch recht wenig Reiz-Verstärker-Beschreibungen drin zu den typischen Borderline-Mechanismen, die Themen innere Kognitionen von Borderlinern sowie Emotionsregulierugnsversuche bei Borderline sind unterbelichtet.

Linehan argumentiert hier meines Erachtens mit der wirklich nötigen Klarheit. Was man erkennen kann, sind bei Borderlinern fast phobie-ähnliche Reaktionen auf Anzeichen von negativen Emotionen. Diese fungieren somit als diskriminativer Hinweisreiz und werden dann lebenslang vermieden. Auf diese Weise kommen die enormen Emotionsstaus bei Borderline-Menschen zustande.

In der "Hitliste" der unterdrückten und geblockten Emotionen sind alle negativen Emotionen auf den oberen Plätzen. Bei der Emotion "Ärger" wird schon sehr viel kontrolliert und unterdrückt, jeweils bei Anzeichen bei sich selbst, aber auch bei anderen. Bei der Emotion "Angst" wahrscheinlich noch etwas mehr an Unterdrückung. Auf Platz 1, meines Erachtens ist das zweifelsfrei zu erkennen, wenn man nur psychologisch genau genug hinsieht, ist bei Borderlinern die Unterdrückungsleistung hinsichtlich der Emotion "Trauer".

Daraus ergeben sich dann viele der bekannten Phänomene. Die übermäßige Kontrolle führt immer wieder zur totalen Überlastung des Individuums. Folglich kommt es zu einem unsteten, nicht gut vorhersagbaren Muster von Ausbrüchen. Wie Linehan zurecht feststellt, sind es aber gerade diese inkontingenten Verstärkerpläne, die so schlecht zu löschen sind.

Interessant sind dann auch die "Trauerkurven" bei Borderline, nach meinen Beobachtungen werden sie von vielen Betroffenen wie ein nach oben gerichteter Eiszapfen aufgemalt, wenn man sie darum bittet. Man sieht dann schon daran, wie die Trauer noch kurz einschießt, eine sehr hohe Spannung erzeugt und dann geblockt wird. Linehan spricht demzufolge von der an- und ablaufenden Welle, wenn Emotionen nicht geblockt werden, sondern sozusagen ausschwingen können.

Der Borderline-Mensch hat meistens auch die ungünstige Kognition: wenn ich das Gefühl ganz zulassen würde, dann würde es mich wegschwemmen. Genau genommen hat er damit sogar recht, denn in der Tat hat er keine Übung darin, eine Emption derart frei ausschwingen zu lassen. Meistens ist er ja übertapfer, sich selbst abwertend, hochkontrolliert, "reißt sich zusammen".

Kein Wunder, daß sich dann innerlich permanente Hochspannungen ergeben. Man muß schon sehr enau beobachten und hinsehen, um das so zu erkennen, oberflächlich stellt sich vieles anders da: der Borderliner als jemand, der immer wieder schlecht drauf ist, dem es auch sichtlich schlecht geht. So weit ich sehen kann, sind dies aber immer wieder "geblockte" Zustände, gerade deswegen können sie auch so unerträglich werden, daß die Suizidgedanken einschießen (wenn man genau beobachtet, eigentlich immer nur bei viel Invalidierungserfahrung und dann meistens gleich einige Sekunden oder höchstens Minuten später).

Schade, daß Mertz diese ganzen konkreten Beobachtungen nicht stärker einbezogen hat, ich ärgere mich momentan, daß er Linehan nicht stärker rezipiert hat.

Wie oben gesagt, stimmt sein ganzes Buch von vorne bis hinten, nur eben auf die unbehandelten Borderliner mit sehr verfestigten Störungsbildern bezogen, ohne Hoffnung auf wirksame Hilfe, ohne Achtsamkeitserfahrungen, und durch die Verstärker in der ewig gleichen unguten Mühle verfangen.

Die phobieartigen Zusammenhänge, oben angedeutet, sind aus psychologischer Sicht besonders spannend, denn Meidung schafft ja eine selbstverstärkende Wirkung. Wenn man nun nicht eine Spinne oder einen Fahrstuhl meidet, sondern den Moment, wo in Mimik und Körperspannung bei einem selbst oder beim anderen z.B. Trauer hochkommt, schafft man eine ganz eigentümliche Realitätserfahrung. Linehan vergleicht es, m.E. wiederum sehr gut beobachtet, mit einem Raum, den man niemals betreten hat und niemals betritt, weil man nie über die Schwelle kommt.

Ich sehe wenig Argumente, warum diese Erfahrung grundsätzlich nicht möglich sein soll, es braucht dafür eben nur bestimmte Voraussetzungen, möglichst kampf- und hierarchiefrei, möglichst als Experte in eigener Sache, möglichst in einer guten Balance von Akzeptanz und Veränderung, die ein Borderliner normalerweise auch niemals in seinem Leben erfahren hat und sich ohne Anleitung und Anstöße von außen auch nicht gut herstellen kann.

Beste Grüße! Ubue

monoma - 19. Mär, 15:59

@ubu

werde erst zum wochenende wieder zeit haben, ausführlicher zu antworten. also nicht wundern ;-)

zwischenzeitlich ist für dich vielleicht auch der neueste artikel zu pränatalen traumata ganz interessant? ich erinnere mich an deine diesbezgl. bemerkungen zu den mertzschen thesen.

gruß
mo

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