Yurun (Gast) - 14. Nov, 21:35

Bildzeitung "Wissenschaftler sagen: Ein Drittel aller Deutschen irre."

Die Stoßrichtung des Aufrufs folgt ungefähr diesem Muster: aus klinischer Beobachtung lässt sich feststellen, dass die Anzahl psychischer Erkrankungen stark zunimmt. Diese haben dabei soziale Ursachen und Wirkungen, sind also psychosozial, es braucht daher zu ihrer Bekämpfung eine gesellschaftliche Atmosphäre, die weniger krank macht. Soweit so vielseitig interpretierbar.

Ich werde dabei aber den Eindruck nicht los, man könnte hier ebenso einen Aufruf gegen die Zunahme von Rückenleiden und Kreislauferkrankungen veröffentlichen, wobei diese dann ähnlich sozial bzw. kultuell bedingt sind und somit eine Riege von leitenden Medizinern dazu bewegt, für mehr Bewegung, gesunde Ernährung und ergonomische Arbeitsplätze einzutreten. Als Resultat fasst dann irgendein Ministerium einen Aktionsplan und ein paar Krankenkassen fahren mit "Deutschland wird fit" Bussen durch die Republik.

Ingesamt finde ich den Aufruf begrüßenswert, dass er aber aus einer internen Diskussion von Medizinern beruht, welche sich zwar der Gemengelage zumindest symptomatisch sehr bewusst sein dürften, im Gegenzug aber auch zu einer Art klinischen Verharmlosung neigen, zeigt sich hier deutlich. Etwas drollig finde ich da dann auch den noch extra fett hervorgehobenen Aufruf "zu einem offenen gesellschaftlichen Dialog", wobei es in der Tat aber auch kein wirkliches Forum gibt, an das man eine solche Diskussion richten könnte (selbst schon ein Symptom des Ganzen). Sehr "nett" dabei auch der Posten "Volkswirtschaftliche Kosten seelischer Erkrankungen", sonst könnte im offenen Dialog noch der Eindruck entstehen, man hätte keine Argumente. Alles in allem wie das allmähliche Erwachen gegenüber einem sich zunämlich ins Bewusstsein drängenden Problem, allerdings noch mit einer deutlichen Unschärfe, womit man es da hinter den Kulissen eigentlich zu tun hat.

Die Reaktionen scheinen mir da nicht ohne Grund oft durchdachter als der Aufruf an sich, diese prominent plazierte Umfrage "Ich finde die Initiative wichtig" beispielsweise wirkt trotz oder gerade wegen ihrer Irrelevanz wie versteckte Satire. Dabei zeigt sich allerdings auch ein wesentlicher Ansatzpunkt: viele derer die sich da Gedanken machen stochern mit mal mehr und mal weniger Erfolg etwas im Ungefähren einer Art gefühlten psychozosialen Lage ihrer jeweiligen Umgebung (bzw. ihrerselbst), wobei hier dann die vielseitige Esoterikerszene eine durchaus bedeutende Rolle spielt. Das Feld wurde meinem Eindruck nach durch Vernachlässigung und aktive Diffamierung zu lange Gruppen bzw. Einzelmenschen überlassen, die mit einer analytischen bzw. wirklich problemgerechten Herangehensweise überfordert waren (bzw. nicht zum anliegen hatten) und dann zum Beispiel die Arbeiten eines Außenseiters wie Wilhelm Reich mit allen möglichen Popanz für sich instrumentalisierten. Hier könnte eine gewisse Flurbereinigung durch methodisch arbeitende Wissenschaftler wie Praktiker den Blick für eine breitere Öffentlichkeit schärfen, schon allein dadurch weil sie durch ihre institutionelle Rolle besseres Gehör finden, einiges mehr an Ressourcen haben (als zum Beispiel dieser Blog hier) und schwer mit "Spinnerei" wegzuwischen sind. Solche Aufrufe sind dann eben der erste zaghafte wie stellenweise unbeholfene Versuch, diese Probleme ins Blickfeld einer ominösen Öffentlichkeit zu bekommen. In einigen Bereichen wie etwa in Fragen frühkindlicher Erziehung bzw. Prägung ist da ja schon seit einiger Zeit etwas mehr an Bewegung zu spüren. Was ich mich dann frage ist ob der dazu notwendige beharrliche Mut denn existiert, oder ob nur das Verantwortungsbewusstsein einiger weniger halblaut "tu was" schreit - schnell uberschrien von anderen Stimmen wenn es allzu mühselig oder gar bedrohlich wird bzw. keine Beachtung/Fördergelder findet.

monoma - 15. Nov, 14:24

@yurun

kurz was zu einigen punkten:

- ja, die focussierung primär auf "psychosomatische / psychische" störungen lässt sich tatsächlich bemängeln, zumal vieles als "organisch" betrachte - von krebs über rückenleiden bis hin zu herz-kreislauf-geschichten, von den meines wissens ebenfalls zunehmenden allergien gegen alles mögliche ganz zu schweigen - ebenfalls in vielen fällen von der ätiologie her auch von den lebensbedingungen der betroffenen stark beeinflusst wird. ich betrachte das hauptsächlich als ausdruck der hier üblichen dissoziativen wahrnehmung, die gerade in der medizin deutlich zu besichtigen ist - wobei ich eigentlich auch primär von der psychosomatik erwarte, diese trennungen mehr bewußt zu machen.

- das obligatorische "was das alles kostet!" habe ich gar nicht mehr extra erwähnt; vermutlich weil das in der vergangenheit bei so ziemlich jedem analogen thema auch schon aufgetaucht ist (ich hatte diesbezgl. mal vor längerer zeit entsprechende aussagen von seiten des "deutschen kinderschutzbundes" zu den folgen innerfamiliärer gewalt kommentiert). das gerade dieses kostenargument besonders geren von "leitenden funktionsträgern" gerade im sozialen bereich kommt, wenn es u.a. um die folgen der profitorientierten wirtschaft geht, ist ein ständiges ärgernis. wobei es vermutlich auch tatsächlich genügend leute gibt, für die das das einzige relevante argument darstellt - ist schließlich objektiv quantifizierbar...

ps: die imaginäre "bild"-überschrift gefällt mir ;-) da könnten sie dann eine serie draus machen - zweiter tag: "wissenschaftler sagen: 99% aller bild-leser irre". dritter tag: "bild: wie wir unsere leser irre machen - der exklusivbericht"

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