Yurun (Gast) - 17. Okt, 02:40

eine adresse für ein gefühl haben

In Frankfurt haben wir uns jetzt vor dem EZB-Gebäude einigermaßen engerichtet und wenn das Wetter für Camps auch suboptimal ist, so dürften sich die Probleme bis zum ersten Regen als gut beherrschbar erweisen.

Auf einen Punkte möchte ich dabei hinweisen: eine Demonstration (oder eine Krise) hat keinen wirklichen Ort und keine Adresse, ein Camp hingegen schon. Ein älteres Ehepaar steht da und sagt sie hätten noch Feuerholz das abgeholt werden könnte, die nächsten bringen ein Zelt vorbei, backen Kekse, spenden Geld und Lebensmittel aller Art ... Da mögen vielleicht nur etwas mehr als hundert Leute wirklich zum Camp gehören, indirekt beteiligt sich daran aber mindestens die dreifache Menge an Personen und garantiert die Versorgung, die etwa hundertfache Menge "schaut sich das mal an". Das ist also kein sozialer Fremdköper inmitten der Stadt, sondern etwas das aus ihr heraus und gleichzeitig im Widerspruch zu ihr Wachsendes. Dies ist vor allem deswegen wichtig, weil jede soziale Form des Lebens und gegenseitigen Kümmerns wenn man so will ortsgebunden und ständig ist, sie benötigt eine Struktur und eben tatsächliches, mitmenschliches Erfahren. Ein unpersönlicher Event allein wird niemals die Strahlkraft haben einen gegen ihn organisierten Alltag innerhalb einer ihn fremden Umgebung zu überwinden, er kann nur eine Schockwirkung entfalten (die allerdings ebenso zum aufwachen gehört). Schocks wird es dabei so oder so wohl viele geben, je mehr desto näher wir an unsere Grenzen kommen, doch er hat ganz andere Eigenschaften als das beständige Streben eine Ordnung des Zusammenlebens zu errichten, die den Sehnsüchten der Menschen gerecht wird bzw. nach diesen strebt. Schon die Möglichkeit ein paar Kekse an einem Zelt abzugeben ist dabei der direkte Ausdruck solchen Strebens und manch Linker, der über soetwas lachen mag, meiner Ansicht nach ein Idiot erster Kajüte. Dieses "authentische individualität in einer kollektivität" erleben, was in früheren Zeiten einige wohl mehr als unangepasste Geldknappheit zum Hausbesetzer hat werden lassen, will erprobt sein. Hier erprobt es sich (besser "kann es") am Beispiel der Anprangerung einer der extremsten Formen seines Gegenteils, also des "nimm dir was du kriegen kannst und scheiß auf den Rest". Der Mythos des Finanzwesens als Steilvorlage für den Mythos des Gemeinwesens. Es ist daher eigentlich garnicht zu wichtig wie weitgreifend nun die Analyse dabei ist, wie sehr man also der tatsächlichen Asozialität auf die Schliche kommt, es kommt ganz und gar auf das "bis hierhin und nicht weiter an". Da beginnt nämlich die Revolte. Hier wird sie übrigens auch wieder verspielt, umso mehr desto technokratischer nach "Lösungen" theoretisiert und plenarisiert wird. Was da aber totgeredet wird ist keine Sache, sondern ein Gefühl. Die wenigsten haben aber dabei die Fähigkeit zu ihrem Gefühl auch eine Sprache zu finden, was das Ganze schon beim zuhören dann unauthentisch und langweilig macht. Inwiefern sich bei genügend Individuuen ein gemeinsamer Mut findet, solch ein Resultat abzuwenden, wird sich ja zeigen.

Unser Wasser beziehen wir in Frankfurt übrigens von einem Kapitalisten (aka Kioskbesitzer), der Dank des Camps einen guten Umsatz hat, und von der gleich daneben liegenden Oper.

quirinus - 17. Okt, 12:17

Vielen Dank, Yurun!

Als 'Linker' muß man tatsächlich sehr borniert sein, um solche Aktionen abzulehnen. Die Wirkung eines Camps kann ja schon erahnen, wer sich zusammen mit anderen im Kreis auf einen Platz setzt, wo - wie gestern in Bremen - der Reihe nach jeder zu Wort kommt. Ich habe die bürgerlichen Ehepaare beobachtet, die das gestern miterlebt haben. Alle haben, wenn auch nur für Minuten, mit nachdenklichem Gesicht den jungen Leuten zugehört, und niemand (abgesehen von einem Besoffenen und einer offensichtlich psychisch gestörten alten Frau) hat die Anwesenden beleidigt oder ist kopfschüttelnd weggegangen. Alle Passanten schienen in den Redebeiträgen etwas von sich selbst wiederentdeckt zu haben, zumindest das von allen geäußerte starke Unbehagen an den jetzigen Zuständen. Und das war nur möglich, weil keiner der Anwesenden politische Parolen von sich gab, sondern von sich erzählte, ohne jemanden missionieren zu wollen. Diese Gesprächskultur des gegenseitigen Zuhörens muß gepflegt werden, damit überhaupt wieder gegenseitiges Vertrauen entstehen kann, gerade zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlichen Alters. Ohne dieses Vertrauen ist kein im besten Sinne soziales Miteinander möglich. Das beginnt vielen inzwischen zu dämmern. Die berechtigte Empörung (zumindest) über die Finanzhaie hängt ja ganz wesentlich damit zusammen, daß sie nicht nur unsere materielle Lebensgrundlage zerstören, sondern das Vertrauen all der Leute, die einst an das Märchen glaubten oder jetzt noch glauben, die Märkte würden alles zum Besten aller regeln.

PS. Gerade habe ich einen neuen NDR-Bericht über die Camper in Hamburg gefunden, worin das eben Gesagte zum Ausdruck kommt, siehe hier.
demon driver - 17. Okt, 13:54

"Gesprächskultur des gegenseitigen Zuhörens"

Entschuldigt vielmals, wenn mir Kekse nicht reichen (ich lache nicht darüber und finde sowas nett, aber Versuche, solche Gesten mit emanzipatorischer Bedeutung aufzuladen, lassen mich verzweifeln), und so richtig es sein mag, eine breite gemeinsame Gesprächsgrundlage zu finden, so leer und theoretisch und ohnmächtig bleibt die, wenn die Inhalte fehlen oder falsch sind. Und zumindest die Inhalte, die bisher hauptsächlich transportiert werden und haften bleiben, wenn die Zeitung hier heute morgen über die Protestierenden beispielsweise wieder schreibt, "sie forderten schärfere Regeln für Banken, eine europäische Vermögensabgabe und bessere Arbeitsperspektiven", sind nun mal völlig falsche Inhalte.

Darüber muss man doch auch als Befürworter der Bewegung und als Teilnehmer reden können, solche Bedenken müssen doch auch in der Bewegung ernst genommen werden, und wenn genau das nicht stattfindet, dann fehlt der Bewegung an dieser Stelle doch genau das, was jetzt als ihr Vorzug herausgestellt werden soll, nämlich die "Gesprächskultur des gegenseitigen Zuhörens". Und wenn, wie hier in diesem Blog, die Teilnahme an der Protestbewegung mit der Überzeugung, die Wahrheit gepachtet zu haben, als nicht in Frage zu stellende Pflicht für Linke postuliert wird, dann hört nicht nur meine in Ansätzen durchaus vorhandene Sympathie für den Protest auf, da endet dann auch meine Geduld mit denjenigen, die sowas hier vortragen.
monoma - 17. Okt, 19:43

@d.d.

da ich vor kurzem erst von der arbeit gekommen bin und immer noch - oder schon wieder :-( - gesundheitlich angeschlagen bin, statt einer ausführlichen antwort für den moment von mir nur der hinweis auf dieses papier der "interventionistischen linken", in dem einiges von dem genauer skizziert ist, worum es nicht nur mir geht.
monoma - 17. Okt, 19:43

@yurun

danke für die eindrücke und gedanken!
demon driver - 17. Okt, 20:18

@monoma

Danke für den Link; Dir auf jeden Fall rasche Genesung.

Der Text enthält sicher viel Vernünftiges, aber auch manches Problematische; ich will hier nur einen Punkt erwähnen, der sich so ähnlich auch ein bisschen durch Dein Blog zieht: der ungetrübt positive Bezug auf den "arabischen Frühling", der sich zunehmend desaströs entwickelt. Nicht nur in Ägypten, wo Teile der "Demokratiebewegung" die israelische Botschaft stürmen und Israel den Krieg erklären, sondern auch in Libyen, wo Islamisten die Macht ergreifen und ein rassistischer Mob die neue Macht nutzt, um verbreitet Jagd auf Schwarze zu machen, sie zu inhaftieren und Opfer zweifelhafter Gerichtsverfahren werden zu lassen. Nicht wirklich Vorbilder, denen ich im Rahmen hiesiger Proteste hinterherlaufen möchte.

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