Zu den Dingen, die sich mir nicht erschließen, gehört zweifellos die Macht der Ignoranz. Nur so ist es zu erklären, dass der Unicef-Bericht über die Lage der Kinder keinen Eingang in die Hauptnachrichten der Mainstream-Medien gefunden hat. Und so ist wohl auch der Borderline-Bericht von Andre Henning im zuender-blog der "zeit" der Macht der Ignoranz geschuldet und einer selbstgefällige Pose "als ob man wissen wollte" (A.Miller). Auf jeden Fall war ich darüber -gelinde gesagt- verstimmt und habe bei der "zeit" einen Kommentar hinterlassen:
"Bin über den Beitrag und die Darstellung äußerst verärgert. Die essayistische Vagheit, in der sich Andre Henning gefällt, trägt einzig zur Mystifizierung dieser Krankheit und der Betroffenen bei. Das ständige Einstreuen von Floskeln wie "niemand weiß es..", das ständige Beschwören eines "ganz normalen" Lebens und einer "normalen Kindheit" durch Henning versenkt ernsthafte Versuche der Ursachenforschung noch weiter in den Sumpf ignoranter Beliebigkeit. Hauptsache, so scheint's, Hennings Text kommt in seinem Tonfall trost- und ausweglos genug daher, um als existenzialistisch durchzugehen. Schulterzuckendes Resumee: "Da kann man eben nichts machen".
Man könnte, wenn man nur die Geduld, den Mut und die Ausdauer aufbrächte, genauer hinzuschauen. Fast immer findet sich dann doch ein direkt verbundenes Trauma und die scheinbare Normalität entpuppt sich als grausame Tristesse, in der Kinder ohne Lebensfreude und in ständiger seelischer Not aufwachsen. Man könnte genau beschreiben, was zu solch "unverstandenem Verhalten" führt, würde man auch die Ergebnisse empirischer Forschung berücksichtigen. Würde man nicht alles, was darüber in Erfahrung zu bringen ist, hartnäckig ignorieren. Dann wüsste man, dass Selbstverletzung mit der Ausschüttung körpereigener Opiate und Endorphine einhergeht, dass die Betroffenen grundsätzlich einen zu niedrigen Anteil davon haben, und dass diese physiologischen Störungen Ursachen in der Entwicklung haben: all das könnte Henning wissen - wenn er denn nur gewollt hätte."
Zu den Dingen, die sich mir nicht erschließen, gehört des weiteren die krude Logik jener Massnahmen, die sich im allgemein als vom "gesunden Menschenverstand" getragen begreifen: etwa wenn Gewalt mit noch mehr Einsatz von Gewalt und darüber hinaus ihrer Institutionalisierung bekämpft wird. Das ist ja auch zu einleuchtend: Lehrkräfte prügeln Schüler, um ihnen beizubringen, dass Prügeln nicht richtig ist. Alles klar.
lässt sich imo dann begreifen, wenn einmal diese ignoranz genauer betrachtet wird, wobei die kollektive produktion von wahrnehmungsausschluß - denn das ist der präzisere begriff dafür - noch einmal anders funktioniert als die individuelle, auch wenn ich glaube, dass letztere zwangsweise die basis für erstere darstellt.
wenn einmal vorausgesetzt wird, dass kaum ein heute lebender mensch - von der vergangenheit ganz zu schweigen - ohne erfahrungen von verletzung, demütigung, verachtung...in unterschiedlichem ausmaß aufgewachsen ist bzw. mit sehr hoher wahrscheinlichkeit in direktem oder indirektem kontakt mit durch die bekannten historischen ereignisse des letzten jahrhunderts traumatisierten menschen steht oder stand, so wird diese ignoranz begreifbar. deMause schreibt in diesem zusammenhang von dissoziation als massenphänomen, und dieser gedanke ist leider sehr überzeugend. ebenso wie der klassische autismus wird auch die dissoziation heute als seltenes phänomen wahrgenommen, und sehr häufig nur im zusammenhang mit den "spektakulärsten" erscheinungsformen wie z.b. bei multiplen persönlichkeiten thematisiert. und auf diese weise in den extrembereichen heutiger psychiatrie belassen (eine gegentendenz ist die häufigere thematisierung in der psychotraumatologie, aber deren effekte müssen noch abgewartet werden).
soziale trance ist ein begriff, über den sich das nachdenken lohnt. und verabschieden müssen bzw. sollten wir uns sicherlich von den selbstbildern des bürgerlichen aufgeklärten individiums, welches nur dem eigenen willen unterworfen ist und verantwortlich handelt. das dürfte primär eine abwehrkonstruktion sein, um die tatsächlichen realitäten erträglich zu machen.
die soziale trance dürfte dazu gleichfalls auch an der logik beteiligt sein, die zb. gewalt mit mehr gewalt "bekämpfen" möchte. das lässt sich einerseits tatsächlich als re-inszenierung begreifen, andererseits jedoch auch als opferung (gerade die diesbezgl. thesen von deMause sind etwas, was ich mit einer spontanen inneren distanz betrachte, zu der allerdings auch die verbindungen zur religion beitragen, die er dabei herausarbeitet - kann sein, dass ich deren einfluss bis heute selbst unterschätze.
und borderline? ja, überdurchschnittlich häufig viele traumatische erlebnisse bei den betroffenen. zu definieren wären aber v.a. zwei dinge: erstmal der traumabegriff an sich (ich kenne bis heute zb. keinerlei untersuchungen zu möglichen zusammenhängen zwischen tradierten bzw. transgenerationalen traumata und bl), zum zweiten dann aber auch die bedeutung der pränatalen phase für die borderline-genese. zu der mertz einiges an material zusammengetragen hat. was mir dazu an dem zeit-artikel auffällt, ist das komplette verschweigen der antisozialen phänomene im bl-kontext. aber das ist bisher für derlei mediale berichterstattung geradezu typisch.
Dinge, die sich mir nicht erschließen
"Bin über den Beitrag und die Darstellung äußerst verärgert. Die essayistische Vagheit, in der sich Andre Henning gefällt, trägt einzig zur Mystifizierung dieser Krankheit und der Betroffenen bei. Das ständige Einstreuen von Floskeln wie "niemand weiß es..", das ständige Beschwören eines "ganz normalen" Lebens und einer "normalen Kindheit" durch Henning versenkt ernsthafte Versuche der Ursachenforschung noch weiter in den Sumpf ignoranter Beliebigkeit. Hauptsache, so scheint's, Hennings Text kommt in seinem Tonfall trost- und ausweglos genug daher, um als existenzialistisch durchzugehen. Schulterzuckendes Resumee: "Da kann man eben nichts machen".
Man könnte, wenn man nur die Geduld, den Mut und die Ausdauer aufbrächte, genauer hinzuschauen. Fast immer findet sich dann doch ein direkt verbundenes Trauma und die scheinbare Normalität entpuppt sich als grausame Tristesse, in der Kinder ohne Lebensfreude und in ständiger seelischer Not aufwachsen. Man könnte genau beschreiben, was zu solch "unverstandenem Verhalten" führt, würde man auch die Ergebnisse empirischer Forschung berücksichtigen. Würde man nicht alles, was darüber in Erfahrung zu bringen ist, hartnäckig ignorieren. Dann wüsste man, dass Selbstverletzung mit der Ausschüttung körpereigener Opiate und Endorphine einhergeht, dass die Betroffenen grundsätzlich einen zu niedrigen Anteil davon haben, und dass diese physiologischen Störungen Ursachen in der Entwicklung haben: all das könnte Henning wissen - wenn er denn nur gewollt hätte."
Zu den Dingen, die sich mir nicht erschließen, gehört des weiteren die krude Logik jener Massnahmen, die sich im allgemein als vom "gesunden Menschenverstand" getragen begreifen: etwa wenn Gewalt mit noch mehr Einsatz von Gewalt und darüber hinaus ihrer Institutionalisierung bekämpft wird. Das ist ja auch zu einleuchtend: Lehrkräfte prügeln Schüler, um ihnen beizubringen, dass Prügeln nicht richtig ist. Alles klar.
mfG, s
die macht der ignoranz...
wenn einmal vorausgesetzt wird, dass kaum ein heute lebender mensch - von der vergangenheit ganz zu schweigen - ohne erfahrungen von verletzung, demütigung, verachtung...in unterschiedlichem ausmaß aufgewachsen ist bzw. mit sehr hoher wahrscheinlichkeit in direktem oder indirektem kontakt mit durch die bekannten historischen ereignisse des letzten jahrhunderts traumatisierten menschen steht oder stand, so wird diese ignoranz begreifbar. deMause schreibt in diesem zusammenhang von dissoziation als massenphänomen, und dieser gedanke ist leider sehr überzeugend. ebenso wie der klassische autismus wird auch die dissoziation heute als seltenes phänomen wahrgenommen, und sehr häufig nur im zusammenhang mit den "spektakulärsten" erscheinungsformen wie z.b. bei multiplen persönlichkeiten thematisiert. und auf diese weise in den extrembereichen heutiger psychiatrie belassen (eine gegentendenz ist die häufigere thematisierung in der psychotraumatologie, aber deren effekte müssen noch abgewartet werden).
soziale trance ist ein begriff, über den sich das nachdenken lohnt. und verabschieden müssen bzw. sollten wir uns sicherlich von den selbstbildern des bürgerlichen aufgeklärten individiums, welches nur dem eigenen willen unterworfen ist und verantwortlich handelt. das dürfte primär eine abwehrkonstruktion sein, um die tatsächlichen realitäten erträglich zu machen.
die soziale trance dürfte dazu gleichfalls auch an der logik beteiligt sein, die zb. gewalt mit mehr gewalt "bekämpfen" möchte. das lässt sich einerseits tatsächlich als re-inszenierung begreifen, andererseits jedoch auch als opferung (gerade die diesbezgl. thesen von deMause sind etwas, was ich mit einer spontanen inneren distanz betrachte, zu der allerdings auch die verbindungen zur religion beitragen, die er dabei herausarbeitet - kann sein, dass ich deren einfluss bis heute selbst unterschätze.
und borderline? ja, überdurchschnittlich häufig viele traumatische erlebnisse bei den betroffenen. zu definieren wären aber v.a. zwei dinge: erstmal der traumabegriff an sich (ich kenne bis heute zb. keinerlei untersuchungen zu möglichen zusammenhängen zwischen tradierten bzw. transgenerationalen traumata und bl), zum zweiten dann aber auch die bedeutung der pränatalen phase für die borderline-genese. zu der mertz einiges an material zusammengetragen hat. was mir dazu an dem zeit-artikel auffällt, ist das komplette verschweigen der antisozialen phänomene im bl-kontext. aber das ist bisher für derlei mediale berichterstattung geradezu typisch.
viele grüße
mo