sansculotte (Gast) - 22. Nov, 21:21

Unzulässige Verallgemeinerungen eines europäischen Gehirns

Wie ich aus der Rezension des Buchs "Trance from Magic to technology" herauslese, ist der Verfasser, Dennis Wier, ein US-Amerikaner (mit tschechischen Wurzeln?), der in der Schweiz lebt. Ich nenne sein ZNS nun trotzdem der Einfachheit wegen ein "europäisches Gehirn", weil die US-amerikanische Gesellschaft wesentlich auf der Gestaltung durch europäische Einwanderer basiert und Wier durch seinen Schweizer Wohnort eine gewisse Affinität zu Europa hat.

Zunächst: ich war zu ungeduldig, den Text bis zum Ende durchzugehen, weil mir gleich eingangs ein paar Sachen aufgefallen sind, die ich nicht unkommentiert lassen möchte.

1. Die Überbewertung der kognitiven Aspekte des menschlichen Bewusstseins. Um das Bewusstsein und seine verschiedenen Zustände zu verstehen, mag es sich ja aufdrängen, die kognitiven Funktionen (Denken, Vorstellungen, Ideen,...) zuerst zu betrachten. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Weitaus entscheidender für den Gesamtzustand des Bewusstseins ist seine Verankerung im Gefühlsbereich. Es sind die Emotionen, die letztendlich die Handlungsimpulse geben, und es ist die emotional eingefärbte "Gestimmtheit" des Bewusstseins, die darüber entscheidet, welche Prioritäten es setzt oder wohin es seine Aufmerksamkeit wendet. Die Stimmung, in der sich die Person befindet, entscheidet über seine Prioritäten, über seine Bereitschaft, sozial zu interagieren und zu handeln, und ergo über sein Bewusstseinsniveau. Es sind die Bedürfnisse, die das Bewusstsein anleiten, nicht umgekehrt. Im Gegenteil: die kognitiven Funktionen haben eher unterstützende Aufgaben.

2. Dementsprechend läßt sich "Trance", der Zustand "eingeschränkter oder eingeengter Wahrnehmung", nicht vollständig aus den kognitiven Funktionen des Bewusstseins erklären. Ich behaupte, dass gerade die Abwehr von Gefühlen und Bedürfnissen eine wesentliche Rolle beimEntstehen tranceartiger Zustände spielt. Es scheint, dass gerade ein vage gespürter innerlicher Druck, ein Unbehagen, das die Grenze zum Bewältigbaren überschritten hat, den Organismus in Trance kippen lässt. Überwältigende Gefühle (Flooding) führen, wie wir aus der Traumaforschung wissen, zur Dissoziation.

3. Kurz: Trance hat seine Wurzeln im Emotionalen. Trance ist eine Copying (Bewältigungs)-Strategie und erinnert sehr an das Freezing bei akuter Stressreaktion.

4. Die Überbetonung des kognitiven Aspekts führe ich auf die Prioritäten eines Gehirns zurück, das nur noch den kognitiven Bereich seines Bewusstseins wahrnimmt, weil es die Gefühle als gefährlich interpretiert und nahezu vollständig verdrängt. Meditation ist eine dieser Strategie entsprechende Technik. Auch in der Meditation werden Gefühle mithilfe von Wahrnehmungsausschluss extrem augeblendet.

5. Die Ursachen für eine derartige Strategie eines Gehirns, das sich rettet, indem es sich nur auf seine kognitiven Aspekte konzentriert, sehe ich in der zivilisatorischen Zurichtung dieses Gehirns. Die zivilisatorische Disziplinierung ist wahrscheinlich in der europäischen Kultur besonders ausgeprägt. Bestimmte kulturtypische, immer wieder auftretende Themata und Topoi weisen darauf hin, dass zivilisatorische Disziplinierung eng verbunden ist mit: Angst vor Gefühlen, Angst vor dem Unberechenbaren, Angst vor dem Chaos. Deutlich wird diese Panik in solchen Sätzen, die sich in der Rezension finden: "Die ungefilterte Wirklichkeit würde für den Menschen Chaos bedeuten, die uneingeschränkte Vielfalt, alle Möglichkeiten, die offenstehen... Es wäre ihm ein riesen Energieaufwand, oder sogar unmöglich sich allem gleichzeitig bewußt zu sein, alles zu verstehen und auch noch zu wählen, von dem was auf ihn eindringt, deswegen muß der Mensch schon vorher aussortieren, um nicht in Angst und Panik zu geraten. "
Das ist reinster "horror chao", die blanke Angst, die sich möglicherweise daraus ergibt, dass Durchschnittseuropäer in ihrer zivilisatorischen Disziplinierung so zugerichtet werden, dass ihr

6. Gehirn nahezu ständig von Katecholaminen und Neurotransmittern, die unspezifische Stressoren darstellen, wie etwa Dopamin überflutet ist. Diese Gehirn muss fast ausschließlich mit Selbstberuhigung in Zaum gehalten werden oder seinen ständig erhöhten Erregungszustand fast unablässig ausagieren. Die besondere Aggressivität europäischer Kolonisatoren, die fast alle kolonisierten Völker für erwähnenswert halten, mag ein weiteres Indiz für diesen besonderen physiologischen Zustand europäischer Gehirne sein. Es sind Gehirne, die ständig unter Stress stehen. Und Gehirne, die ständig gestresst sind, bedienen sich häufig der Trance als einer dem Organismus zur Verfügung stehenden Copying-Strategie.

Das wär's fürs Erste, es mag ein bisschen scharf formuliert sein, aber so ist die Tendenz, die ich bemerke. Vielen Dank noch für die ausführliche Antwort auf den vorigen Kommentar.

Viele Grüße
s

monoma - 23. Nov, 12:19

hallo sansculotte,

in deiner antwort steckt soviel drin bzw. hat sie bei mir einen ganzen haufen von fragen und assoziationen ausgelöst - bspw. zur mir seltsam erscheinenden "offiziellen" definition von kognition; fragen zum schamanismus (als weltweit verbreitetes trance- und dissoziationsphänomen), zur meditation u.a. - , sodaß ich zeit brauchen werde. aber ich möchte das schon gerne kommentieren.

erstmal danke jedenfalls für das "futter" :-)

mo

ps: das fragliche buch ist wohl auch schon deutschsprachig erhältlich.

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