che2001 (Gast) - 26. Sep, 09:15

Gut erinnere ich mich noch an die erste nasengepiercte Frau, die mir über den Weg lief, das war eine Waffenhändlerin. Damals war ein Nasenpiercing untrügliches In-Zeichen der Koks-User, heutzutage trägt das jede Friseurin oder Arzthelferin. Wer in den 70er Jahren in den Dschungel gegangen ist und käme heute wieder würde sich schon sehr wundern. Trotzdem, auch bei der Bedeutung von Piercing als tribaler Initiationsritus sehe ich diesen Archaismus noch nicht zwangsläufig als etwas Negatives; die Brücke zu Dingen wie Frauenbeschneidung und anderen Verstümmlungen muss nicht zwingend geschlagen werden. Was Anderes erscheint mir in diesem Zusammenhang interessant. In weiten Bereichen der Szene, die so in den 70ern/frühen 80ern hip war, nicht nur bei Linken, galt eine promiskuitive Sexualität mit häufigem PartnerInnenwechsel, offenen Beziehungen und erlaubten Seitensprüngen durchaus als etwas Positives und mit emanzipatorischen Vorstellungen zumindest partiell vereinbar, wenn nicht sogar verbunden. Ich habe dies auch positiv erlebt. Als bei uns ein Bewusstsein zur Aidsproblematik entstand - bis 1982 galt das ja als exotische New Yorker Schwulenkrankheit - kamen "alte Laster" wie BDSM und Fetischismus relativ schnell in Mode. Wie, wenn dies zunächst eine Reaktion von Menschen war, die auf eine ausschweifende, wilde Art, ihre Sexualität zu leben nicht verzichten wollten, aber damit konfrontiert waren, dass ihre gewohnte Promiskuität plötzlich lebensgefährlich war, also eher eine Art Ausweichen auf eine neue Spielwiese? In der zeitlichen Abfolge kam dann zunächst die Debatte über Vergewaltigungen in der linken Szene und dann die von Alice Schwarzer und Ingrid Strobl mit abweichenden Intentionen getragene Porno-Kampagne, kurz darauf die Debatte um "Neue Sinnlichkeit" mit der ästhetischen Inszenierung von BDSM, Fetischismus, aber auch New Romantic und sublimierter Nekrophilie (Gruftietum) in Verbindung mit dem Yuppietum als Zeitgeistbewegung, damals mit George Bataille und dem eigentlich sehr schwierigen, damals aber als Popautor gelesenen Philosophen Jean Baudrillard als Modeliteratur. Im "Wiener" wurde die Ästhetisierung von SM-Lesbentum als Gegenschlag gegen Schwarzer gefeiert, es steht also zu vermuten, dass es wirklich einen Zusammenhang zwischen Backlash in den Geschlechterbeziehungen, Yuppietum als soziokulturelle Bewegung und Neoliberalismus gibt. Vielleicht fällt Dir an dieser Stelle etwas ein, was weiterführt; mit der Dechiffrierung kultureller Codes kenne ich mich nämlich nicht so gut aus, und irgendwie habe ich das Gefühl, es wartet hier ein Aha-Erlebnis, auf das ich noch nicht gekommen bin. Ich würde diese Debatte auch gerne parallel auf meinem Blog weiterführen, da kippt die Debatte nämlich gerade ins Alberne.

mo (Gast) - 26. Sep, 20:32

debatte weiterführen,...

...gerne - ich weiß bloß noch nicht so recht, wann :-(

diese woche wird´s definitiv nix mehr, ich sage mal vorsichtig für die zwei folgenden wochen zu.
che2001 (Gast) - 6. Okt, 12:18

Ich hoffe zumindest, dass es Dir gelingt!
che2001 (Gast) - 21. Okt, 19:32

Das ist jetzt aber schon mehrere Wochen her!
mo (Gast) - 22. Okt, 21:47

@che (und auch andere)

yo, ich komme z.zt. nicht hinterher, was u.a. an zuwenig zeit liegt, die ich für das schreiben habe - das wird sich vermutlich in den nächsten zwei wochen auch leider nicht ändern. sorry.

was speziell die in deinem beitrag angesprochenen themen betrifft, werde ich einiges davon ebenfalls im traumaschwerpunkt aufnehmen. besonders aber bestimmte feministische und (de-)konstruktivistische strömungen, s/m und kulturelle trends im zusammenhang mit verschärften soziökonomischen bedingungen sind nochmal ein eigenes thema, und zu s/m möchte ich schon länger im kontext "sex im strudel der verdinglichung" mal etwas längeres schreiben.

aber vorläufig bleibt der angekündigte schwerpunkt meine priorität. und ich vermute, das die oben angerissene diskussion von meiner seite aus dann sogar etwas verständlicher geführt werden kann, weil ich hier traumatische strukturen bekanntlich für als im hintergrund verantwortlich mitwirkend halte.
che2001 (Gast) - 24. Okt, 13:14

Eine Überlegung in diesem Kontext: Jüngere Frauen, die etwas auf sich halten, rasieren sich heutzutage nicht nur die Beine, sondern auch die Achselhöhlen, öfter auch die Schamhaare. Vor etwa 20 Jahren gab es das eigentlich nur im SM-und im Rotlichtmilieu, heutzutage ist es eine Modeerscheinung in ganz spießigen Normalo-Kreisen geworden. Immer verbreitet war diese Sitte hingegen in islamischen Ländern und Südamerika. Das würde ich als zeitgeistmäßige Veränderung der Körperkultur betrachten, die ich im gleichen Kontext ansiedle wie Tattoo und piercing, ohne dasss das etwas mit Traumatisierungen oder Selbstverstümmelung zu tun haben muss.
mo (Gast) - 24. Okt, 18:49

das sehe ich etwas anders

die genannten rasuren, gerade von bein- und achselhaaren, würde ich zum einen als symptom eines konformitätsdrucks hinsichtlich der mainstreamschönheitsideale ansehen. ich finde es seit ca. zehn jahren extrem auffällig, wie modellhaft gestylt - und dabei geradezu uniform - sehr viele frauen unter 30 herumrennen. für mich ein geradezu klassisches backlashsymptom (mir fallen da auch ein paar frauen ein, die ich eher als feministisch orientiert bezeichnen würde, und die am ende der 90er jahre selbst begonnen haben, sich derart zu rasieren - und für mich wurde bei diskussionen darüber schon der erwähnte konformitätsdruck sichtbar).

andererseits, und nicht unbedingt als gegensatz, sondern eher als hintergrund, sehe ich dabei eine tiefere symbolik: körperbehaarung als metapher für eine zunehmend als irgendwie und unausgesprochen unangenehm empfundene eigene biologie, incl. aller daraus erwachsenen grenzen und beschränktheiten - die tabuisierung von alter, krankheit und tod spielt da imo eine sehr große rolle, und diese glattgestylten puppengestalten entsprechen gleichzeitig dem damit einhergehenden diktum von möglichst ewiger jugend. ich schätze, in naher zukunft werden wir die ersten voll virtuellen stars haben, avatare mit entsprechender ki, die dann diese träume in ihrem als-ob-dasein perfekt "verkörpern", und genau daraus ihre anziehungskraft beziehen werden.

und warum ich diese ganze tendenz, diese bewegung weg von der eigenen körperlichkeit und hin zu durchkonstruierten identitätsentwürfen, durchaus nicht für begreifbar halte ohne berücksichtigung der wirkungen von gewaltstrukturen - das dürfte bei ansicht vieler beiträge hier dann deutlich sein.

vielleicht sollte ich anfügen, dass ich mir selbst ganz gerne eine glatze rasiere - heute hat das eher etwas mit praktischen erwägungen im vordergrund zu tun, aber es gab viele zeiten früher, da habe ich das bewusst gemacht, um bestimmte innere teile von mir auszudrücken - siehe zb. hier.
Wednesday - 25. Okt, 06:52

Oh nein, bitte - Rasuren haben nicht unbedingt ein Schönheitsideal im Sinn, sie können durchaus auch einfach nur nützlich sein. Im Haar halten sich zB (un)erwünschte Düfte besser als auf nackter Haut. Weisse Beine ohne schwarzem Haar drauf sehen zu kurzen Röcken wirklich besser aus. :-D Und nasses Achselhaar ist für viele höchstwahrscheinlich viel unangenehmer als die feuchte nackte Achselhöhle.

Ich hab auch was dagegen, daß Frauen, die sich irgendwie schön machen, als irgendwie nicht emanzipiert zu betrachten... das erinnert mich an das blöde Vorurteil, Lesben seien immer hässlich, sonst wären sie nicht lesbisch....
che2001 - 25. Okt, 11:52

Monoma, ich gebe zu, dass es eine Tendenz in dieser Richtung gibt, aber auch nicht mehr. Klar, diese Britney-Spears-Verschnitte, die in den späten 90ern plötzlich rumrannten sind im Vergleich zu früherer Otfit-Pluralität schon auffallend. Ansonsten gebe ich auch Wednesday recht. So fragte ich einmal eine Frau, die sich sowohl Achsel- als auch Schamhaar rasierte, warum sie das täte, und als Antwort bekam ich: "Rasiertes Schamhaar ist für Oralverkehr praktischer", und das Achselhaar rasiere sie, weil wenn schon denn schon, darauf gekommen, beides zu tun, sei sie aber durch eine Zeitschrift. Der Konformitätsdruck, den Du beschreibst, existiert einschließlich der zugrundeliegenden psychophysischen Strukturen als Matrix im Hintergrund, ich würde das Problem nur nicht zu sehr verabsolutieren. Insofern geht es Dir mit Deinem Blog öfter wie mit der "Dialektik der Aufklärung": Sehr erhellend, ich würde nur Vieles als Richtungsweiser oder "Im Prinzip ist es so" sehen, aber nicht als ausschließliche Erklärung der beobachteten Phänomene, eher als Komponente in einem multikausalen Zusammenhang.
mo (Gast) - 25. Okt, 16:24

@w-day und che:

sicher, ich habe ja selbst oben von praktischen erwägungen geschrieben, die bei rasuren eine rolle spielen können - aber die hatte ich hier nicht unbedingt im sinn, wie ihr euch vielleicht vorstellen könnt.

die möglichen motivationen sehe ich daher ebenfalls vielschichtig, und einige davon sind natürlich ganz und gar kein problem. mir ging und geht es eher um die grenzbereiche, in denen zb. jemand vielleicht eher die nützlichen und/oder schönheitsaspekte als eine art rationalisierung benutzt (womöglich auch, ohne es selbst so zu sehen). ich finde, dass es durchaus ein zwanghaftes schön-sein-wollen gerade bei frauen gibt - schönheit hier im mainstreamsinne begriffen -, für das viel geld und zeit aufgewendet wird. und da sehe ich dann fließende grenzen zu einigen punkten, die ich im obigen posting angesprochen habe. nicht mehr und nicht weniger wollte ich dazu sagen - von multikausalen zusammenhängen gehe ich ebenfalls meistens aus, auch wenn ich mich hier auf bestimmte strukturen konzentriere (ach was ;-)

einen schönen herbsttag noch.
che2001 - 26. Okt, 16:18

Ebenso :-).

Klar, in diesem Blog geht es um Traumatisierungen und gesellschaftliche Pathologien. Dass aus diesen nicht die ganze Welt besteht, ist eine Binsenweisheit, ebenso wie die Tatsache, dass diese aber große Teile unserer Realität bestimmen. Nur, von Zeit zu Zeit finde ich es nützlich, auf die Relationen hinzuweisen, um nicht das Maß zu verlieren.
monoma - 29. Okt, 18:02

nunja - ich frage mich aber z.zt. immer mehr, wie groß die entsprechenden teile der realität eigentlich wirklich sind. und neben der gefahr des "maß verlierens" sehe ich auch die gefahr des relativierens - zumal gerade letzteres noch an allen ecken und enden gefördert wird.

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