assoziation: von kaputten menschen und dem (stellvertretenden) versagen der justiz
eine geschichte, die in ihren grundmustern durchaus nicht nur in diesem land eine grausige alltäglichkeit aufweisen dürfte, findet sich in dieser prozeßreportage (und zu meiner einschätzung komme ich auch deswegen, weil ich selbst schon eine keinesfalls vollständige sammlung ähnlicher prozeßberichte aus den letzten jahren zusammengetragen habe, in denen v.a. die bl-diagnose, seltener auch die narzisstische ps eine rolle spielen).
"Weil sie auf Grund ihrer Krankheiten, vor allem des Borderline-Syndroms, nur vermindert schuldfähig ist, kam die 25-jährige Lore E. aus Oyten gestern mit einer Haftstrafe von fünf Jahren für den Giftmordversuch an íhrem Stiefvater Hans E. davon.(...)
Dass sie das schnell zum Tode führende Nervengift in der Absicht, sich selbst umzubringen, beschafft hatte, nahm ihr die Kammer unter Vorsitz der Richterin Britta Raßweiler wegen bereits vorausgegangener Suizidversuche zwar ab, nicht aber, dass sie diese Absicht noch hatte, als sie das Gift in das Essen mischte. Da sei die Entscheidung "ich oder er" schon gefallen gewesen.(...)"
so weit, so schlecht. juristisch ist die sache klar: "Damit sei der Tatbestand des heimtückischen Mordversuches erfüllt." dem gesetz wurde allem anschein nach genüge getan, auch mit folgendem:
"Dass die Strafe nicht so hoch ausfiel, lag vor allem an den psychologischen Gutachten, die der Angeklagten eine schwere Persönlichkeitsstörung bescheinigten. Die habe möglicherweise auch zur Tatzeit ihre Steuerungsfähigkeit stark eingeschränkt. Borderline-Patienten neigen zu spontanen Aggressionsausbrüchen, die in der Regel allerdings gegen sich selbst gerichtet sind."
und hier geht´s dann schon mit meinen irritationen los, die im verlaufe des berichtes immer stärker geworden sind - der letzte satz stimmt so pauschal schon mal überhaupt nicht, vor allem nicht für männer mit dieser diagnose. wie sich die borderlinetypischen aggressionen äußern, hat nicht zuletzt auch etwas mit den in dieser gesellschaft üblichen geschlechterstereotypen zu tun, die immer noch eine recht große macht besitzen - auch, wenn es im zuge der allmählichen auflösung davon mehr und mehr phänomene wie männer mit essstörungen und prügelnde mädchen zu registrieren gibt.
"Lore E. hatte sich denn in der Vergangenheit auch häufig selbst verletzt. Gelegentlich, so eines der Gutachten, richte sich diese Aggression aber auch gegen einen anderen."(...)
wie im basisbeitrag "borderline" schon erwähnt, ist mit dem wort "selbstverletzung" bzw. den damit assoziierten vorstellungen vorsichtig umzugehen. auch dann, wenn sich in einer biographie indizien für ein traumatisches geschehen finden lassen:
"Den hatte die Angeklagte beschuldigt, sie über Jahre körperlich und seelisch misshandelt und auch sexuell missbraucht zu haben. Richterin Britta Raßweiler erklärte, diese Vorwürfe seien zwar nicht widerlegbar, aber auch nicht beweisbar. Ein Ermittlungsverfahren wegen sexuellen Missbrauchs der Stieftochter ist eingestellt worden."
erstens: es gibt dokumentierte fälle von nachweislich falschen beschuldigungen bezgl. sexualisierter gewalt, oft genug von frauen mit bl-diagnose. die motive dafür können vielfältig sein und sind imo keineswegs generell als indiz für eine durch und durch bösartige persönlichkeit zu werten. wobei: auch letzteres existiert.
zweitens: es gibt noch mehr dokumentierte fälle von zutreffenden anklagen in der selben sache, in denen traumatisierten frauen/kindern oft genug durch unglauben und ignoranz neues unrecht geschieht. auch hier sind häufig frauen mit bl-diagnosen vertreten.
drittens: was für eine aussage steckt im satz von den vorwürfen, die zwar "nicht widerlegbar, aber auch nicht beweisbar" seien? ein eingestelltes ermittlungsverfahren sagt zunächst mal überhaupt nichts aus - "beweise" im juristischen sinne sind nicht unbedingt mit dem gleichzusetzen, was den meisten von uns unter "beweisen" vorschwebt. und gerade sexualisierte gewalt innerhalb der sog. privatsphäre, innerhalb von familien, ist durch die eigenart der situation oft genug nicht juristisch verfolgbar - keine oder eingeschüchterte oder aus "loyalität" schweigende zeugInnen, dazu die traumaspezifischen prozesse von abspaltung und verdrängung. diese logik ist von der justiz bis heute immer noch nicht in ihren konsequenzen begriffen (ausnahmen bestätigen die regel).
im folgenden wird aber auch noch einiges mehr über das opfer des attentates bekannt:
"Dass das Verhältnis zwischen Stiefvater und Tochter kein gutes war, und Hans E. durch seine extreme Strenge und emotionale Kälte dazu erheblich beigetragen hatte, stellte die Vorsitzende Richterin deutlich fest.
(...)
Seine außergewöhnlichen Erziehungsmethoden waren auch in seiner Zeugenaussage deutlich geworden. Im Zorn drohe er mit jedem Gegenstand, den er gerade in die Hand bekomme, hatte er bestätigt."
das ganze szenario, von dem jetzt ein paar vermutlich recht kleine teile sichtbar geworden sind, ist wie üblich bei derlei "familiendramen" ein durch und durch trostloses - geprägt von einem fast tödlich eskalierenden kampf zwischen (stief-)tochter und (stief-)vater, die augenscheinlich beide ihre jeweiligen persönlichen schädigungen bzw. beziehungskrankheiten gegeneinander ausagiert haben. das die junge frau jetzt für fünf jahre im knast verschwindet - nachweislich ein milieu, in dem sich menschen unmöglich zum positiveren hin verändern können -, mag einem abstrakten "rechtsempfinden" befriedigung verschaffen. tatsächlich sehe ich in solchen urteilen eine bankrotterklärung einer gesellschaft, die sich mehr und mehr darauf beschränkt, das von ihr produzierte soziale elend nur noch zu verwalten und repressiv zu sanktionieren. ich möchte nicht mißverstanden werden: auch wenn ich mir durchaus situationen vorstellen bzw. entsprechende dynamiken verstehen kann, in denen für ein sich selbst unterlegen und als opfer begreifenden menschen die tötung des vermeintlichen oder tatsächlichen verursachers des eigenen leidens als einzig noch mögliche option erscheint, so halte ich doch eine akzeptanz solchen verhaltens in der regel für einen schweren fehler (ausnahmen, wie morde an historischen tyrannen/diktatoren, die massenhaft leid produzieren, bestätigen diese regel). es geht hier imo schlicht um elementare grenzen, existenziell wichtige stoppschilder.
ich sehe aber auch eine gesellschaft, die derlei stoppschilder aus berechtigten gründen aufstellt, in der pflicht, alles nur menschenmögliche zu tun, damit situationen wie die oben dargestellte sich erst gar nicht entwickeln können - und an diesem punkt versagen wir bisher alle mehr oder weniger kollektiv, und die justizielle "lösung" des problems stellt nur den deutlichsten ausdruck dieses versagens dar. vieles kommt zusammen: eine falsche anthropologie im sinne eines absurden welt- und menschenbildes, weitgehende unkenntnis über die menschliche struktur und die notwendigen bedingungen für ihre positiv-soziale entwicklung, die weitverbreitete und unbegriffene existenz und wirkung traumatisierender bzw. trauma-folge-strukturen in fast allen gesellschaftlichen bereichen, unwissenheit und ignoranz gegnüber dem phänomen der menschlichen simulationsfähigkeiten, daraus folgend mangelhafte psychiatrische/psychologische modelle von beziehungskrankheiten usw. usf.
vor diesem hintergrund ist das ergebnis (nicht nur) dieses prozesses logisch: eine schein-/als-ob-lösung, streng nach abstrakten und objektivistischen kriterien als platzhalter für ein vorgehen, welches nicht primär den straf- und schuldgedanken, sondern das individuelle und kollektive wohlergehen möglichst aller menschen in ihrem einzigen leben im blick haben müsste. das ausmaß der in dieser ganzen geschichte zutage tretenden wahrnehmungsverzerrungen bzw. -reduktionen ist schlicht deprimierend, passt aber natürlich in diese zeit.
und viel harte arbeit wird nötig sein, um diese trostlosen zustände endlich hinter uns zu lassen, das erscheint nur jenen - ja, idioten völlig utopisch, die sowieso von einer "angeborenen grundsätzlichen bösartigkeit" des menschlichen wesens an sich ausgehen. nichts könnte - und wer das wissen will, kann es wissen! - falscher sein als dieses womöglich bösartigste und destruktivste vorurteil aller zeiten. und bösartig v.a. auch deswegen, weil es sich hier aller wahrscheinlichkeit nach um eine selbsterfüllende prophezeiung handelt - will sagen: erst durch derlei vorstellungen kann es womöglich passieren, dass bereits pränatal beschädigte menschen tatsächlich "von geburt an" bösartig sind. aber auch das ist kein metaphysisches "schicksal", sondern ausdruck der allgemeinen missachtung elementarer psychophysischer gesetzmäßigkeiten, denen wir als menschen wie alles lebendige überhaupt unterworfen sind.
"Weil sie auf Grund ihrer Krankheiten, vor allem des Borderline-Syndroms, nur vermindert schuldfähig ist, kam die 25-jährige Lore E. aus Oyten gestern mit einer Haftstrafe von fünf Jahren für den Giftmordversuch an íhrem Stiefvater Hans E. davon.(...)
Dass sie das schnell zum Tode führende Nervengift in der Absicht, sich selbst umzubringen, beschafft hatte, nahm ihr die Kammer unter Vorsitz der Richterin Britta Raßweiler wegen bereits vorausgegangener Suizidversuche zwar ab, nicht aber, dass sie diese Absicht noch hatte, als sie das Gift in das Essen mischte. Da sei die Entscheidung "ich oder er" schon gefallen gewesen.(...)"
so weit, so schlecht. juristisch ist die sache klar: "Damit sei der Tatbestand des heimtückischen Mordversuches erfüllt." dem gesetz wurde allem anschein nach genüge getan, auch mit folgendem:
"Dass die Strafe nicht so hoch ausfiel, lag vor allem an den psychologischen Gutachten, die der Angeklagten eine schwere Persönlichkeitsstörung bescheinigten. Die habe möglicherweise auch zur Tatzeit ihre Steuerungsfähigkeit stark eingeschränkt. Borderline-Patienten neigen zu spontanen Aggressionsausbrüchen, die in der Regel allerdings gegen sich selbst gerichtet sind."
und hier geht´s dann schon mit meinen irritationen los, die im verlaufe des berichtes immer stärker geworden sind - der letzte satz stimmt so pauschal schon mal überhaupt nicht, vor allem nicht für männer mit dieser diagnose. wie sich die borderlinetypischen aggressionen äußern, hat nicht zuletzt auch etwas mit den in dieser gesellschaft üblichen geschlechterstereotypen zu tun, die immer noch eine recht große macht besitzen - auch, wenn es im zuge der allmählichen auflösung davon mehr und mehr phänomene wie männer mit essstörungen und prügelnde mädchen zu registrieren gibt.
"Lore E. hatte sich denn in der Vergangenheit auch häufig selbst verletzt. Gelegentlich, so eines der Gutachten, richte sich diese Aggression aber auch gegen einen anderen."(...)
wie im basisbeitrag "borderline" schon erwähnt, ist mit dem wort "selbstverletzung" bzw. den damit assoziierten vorstellungen vorsichtig umzugehen. auch dann, wenn sich in einer biographie indizien für ein traumatisches geschehen finden lassen:
"Den hatte die Angeklagte beschuldigt, sie über Jahre körperlich und seelisch misshandelt und auch sexuell missbraucht zu haben. Richterin Britta Raßweiler erklärte, diese Vorwürfe seien zwar nicht widerlegbar, aber auch nicht beweisbar. Ein Ermittlungsverfahren wegen sexuellen Missbrauchs der Stieftochter ist eingestellt worden."
erstens: es gibt dokumentierte fälle von nachweislich falschen beschuldigungen bezgl. sexualisierter gewalt, oft genug von frauen mit bl-diagnose. die motive dafür können vielfältig sein und sind imo keineswegs generell als indiz für eine durch und durch bösartige persönlichkeit zu werten. wobei: auch letzteres existiert.
zweitens: es gibt noch mehr dokumentierte fälle von zutreffenden anklagen in der selben sache, in denen traumatisierten frauen/kindern oft genug durch unglauben und ignoranz neues unrecht geschieht. auch hier sind häufig frauen mit bl-diagnosen vertreten.
drittens: was für eine aussage steckt im satz von den vorwürfen, die zwar "nicht widerlegbar, aber auch nicht beweisbar" seien? ein eingestelltes ermittlungsverfahren sagt zunächst mal überhaupt nichts aus - "beweise" im juristischen sinne sind nicht unbedingt mit dem gleichzusetzen, was den meisten von uns unter "beweisen" vorschwebt. und gerade sexualisierte gewalt innerhalb der sog. privatsphäre, innerhalb von familien, ist durch die eigenart der situation oft genug nicht juristisch verfolgbar - keine oder eingeschüchterte oder aus "loyalität" schweigende zeugInnen, dazu die traumaspezifischen prozesse von abspaltung und verdrängung. diese logik ist von der justiz bis heute immer noch nicht in ihren konsequenzen begriffen (ausnahmen bestätigen die regel).
im folgenden wird aber auch noch einiges mehr über das opfer des attentates bekannt:
"Dass das Verhältnis zwischen Stiefvater und Tochter kein gutes war, und Hans E. durch seine extreme Strenge und emotionale Kälte dazu erheblich beigetragen hatte, stellte die Vorsitzende Richterin deutlich fest.
(...)
Seine außergewöhnlichen Erziehungsmethoden waren auch in seiner Zeugenaussage deutlich geworden. Im Zorn drohe er mit jedem Gegenstand, den er gerade in die Hand bekomme, hatte er bestätigt."
das ganze szenario, von dem jetzt ein paar vermutlich recht kleine teile sichtbar geworden sind, ist wie üblich bei derlei "familiendramen" ein durch und durch trostloses - geprägt von einem fast tödlich eskalierenden kampf zwischen (stief-)tochter und (stief-)vater, die augenscheinlich beide ihre jeweiligen persönlichen schädigungen bzw. beziehungskrankheiten gegeneinander ausagiert haben. das die junge frau jetzt für fünf jahre im knast verschwindet - nachweislich ein milieu, in dem sich menschen unmöglich zum positiveren hin verändern können -, mag einem abstrakten "rechtsempfinden" befriedigung verschaffen. tatsächlich sehe ich in solchen urteilen eine bankrotterklärung einer gesellschaft, die sich mehr und mehr darauf beschränkt, das von ihr produzierte soziale elend nur noch zu verwalten und repressiv zu sanktionieren. ich möchte nicht mißverstanden werden: auch wenn ich mir durchaus situationen vorstellen bzw. entsprechende dynamiken verstehen kann, in denen für ein sich selbst unterlegen und als opfer begreifenden menschen die tötung des vermeintlichen oder tatsächlichen verursachers des eigenen leidens als einzig noch mögliche option erscheint, so halte ich doch eine akzeptanz solchen verhaltens in der regel für einen schweren fehler (ausnahmen, wie morde an historischen tyrannen/diktatoren, die massenhaft leid produzieren, bestätigen diese regel). es geht hier imo schlicht um elementare grenzen, existenziell wichtige stoppschilder.
ich sehe aber auch eine gesellschaft, die derlei stoppschilder aus berechtigten gründen aufstellt, in der pflicht, alles nur menschenmögliche zu tun, damit situationen wie die oben dargestellte sich erst gar nicht entwickeln können - und an diesem punkt versagen wir bisher alle mehr oder weniger kollektiv, und die justizielle "lösung" des problems stellt nur den deutlichsten ausdruck dieses versagens dar. vieles kommt zusammen: eine falsche anthropologie im sinne eines absurden welt- und menschenbildes, weitgehende unkenntnis über die menschliche struktur und die notwendigen bedingungen für ihre positiv-soziale entwicklung, die weitverbreitete und unbegriffene existenz und wirkung traumatisierender bzw. trauma-folge-strukturen in fast allen gesellschaftlichen bereichen, unwissenheit und ignoranz gegnüber dem phänomen der menschlichen simulationsfähigkeiten, daraus folgend mangelhafte psychiatrische/psychologische modelle von beziehungskrankheiten usw. usf.
vor diesem hintergrund ist das ergebnis (nicht nur) dieses prozesses logisch: eine schein-/als-ob-lösung, streng nach abstrakten und objektivistischen kriterien als platzhalter für ein vorgehen, welches nicht primär den straf- und schuldgedanken, sondern das individuelle und kollektive wohlergehen möglichst aller menschen in ihrem einzigen leben im blick haben müsste. das ausmaß der in dieser ganzen geschichte zutage tretenden wahrnehmungsverzerrungen bzw. -reduktionen ist schlicht deprimierend, passt aber natürlich in diese zeit.
und viel harte arbeit wird nötig sein, um diese trostlosen zustände endlich hinter uns zu lassen, das erscheint nur jenen - ja, idioten völlig utopisch, die sowieso von einer "angeborenen grundsätzlichen bösartigkeit" des menschlichen wesens an sich ausgehen. nichts könnte - und wer das wissen will, kann es wissen! - falscher sein als dieses womöglich bösartigste und destruktivste vorurteil aller zeiten. und bösartig v.a. auch deswegen, weil es sich hier aller wahrscheinlichkeit nach um eine selbsterfüllende prophezeiung handelt - will sagen: erst durch derlei vorstellungen kann es womöglich passieren, dass bereits pränatal beschädigte menschen tatsächlich "von geburt an" bösartig sind. aber auch das ist kein metaphysisches "schicksal", sondern ausdruck der allgemeinen missachtung elementarer psychophysischer gesetzmäßigkeiten, denen wir als menschen wie alles lebendige überhaupt unterworfen sind.
monoma - 5. Apr, 20:17