notiz: diverses in der presseschau
in den letzten wochen hat sich mal wieder so einiges angesammelt - und falls Sie gerade das erste mal hier zu besuch sein sollten und sich über die auswahl wundern: in diesem blog geht es primär um tatsächliche, hypothetische, mögliche und unmögliche zusammenhänge zwischen dem spektrum "psychischer störungen", welches sich am besten mit dem begriff beziehungskrankheiten fassen lässt und den in vergangenheit und gegenwart herrschenden sozialen und ökonomischen verhältnissen nicht nur in dieser gesellschaft.
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fangen wir an mit dem stichwort borderline: für regelmäßige leserInnen hier wird die beobachtung, dass seit längerer zeit diese diagnose öfter in forensischen gutachten besonders in zusammenhang mit prozessen rund um gewalt gegen kinder bis hin zum mord auftaucht, nichts neues darstellen. und so überraschen auch meldungen wie die folgende zwar nicht, thematisieren jedoch unfreiwillig wieder einmal mehr die sichtbaren und möglichen defizite und bruchstellen in der orthodoxen psychiatrischen betrachtungsweise des borderline-phänomens - im bericht über den prozeß gegen die eltern der ermordeten karolina sieht das so aus:
(...)"Der Verdacht wäre ohne Geständnis eben auf beide gleichermaßen gefallen." Dazu komme das Verhalten der Angeklagten in der Haft - "kein Bedauern, sie haben getanzt und waren bester Laune". Wer ernsthaft den Tod seines Kindes betrauere, verhalte sich anders.(...)
Wenig Eindruck machte auf die Kammer auch, was Nedopil und Weber vortrugen. A. trieb zwar Missbrauch mit Drogen, Alkohol und Tabletten, bei ihm könne durchaus auch eine Borderline-Störung vorliegen - doch welche strafrechtliche Relevanz habe dies für Karolinas Tod, fragten die Richter. Die Kammer habe "erhebliche Zweifel, ob sich die Tat überhaupt so zugetragen habe, wie von den Sachverständigen angenommen". Die sadistischen Quälereien hätten über Tage angedauert, gleichsam nach einer Art "Masterplan".
Wenn das Kinde nicht wie ein dressierter Hund parierte, habe es geheißen: "Jetzt braucht sie's wieder." Ein Leiden an der Borderline-Störung, wie der Bundesgerichtshof es fordere für den Fall einer Schuldminderung, sei bei A. nicht festzustellen. "Da haben die Sachverständigen ihre Sicht der Dinge zugrunde gelegt - von der Lebensgefährtin verlassen, ohne Beruf, ohne Aussicht auf Besserung der Verhältnisse. Aber ihm hat's ja gefallen, sein Leben als Pascha. Er ließ seine Lebensgefährtin sitzen, weil ihm Zaneta besser gefiel. Das ist alles. Da war kein Leiden, keine Notlage, kein Zwang. Karolina war für ihn das Kind eines Zuhälters, ein Bastard ohne Lebensrecht, der die sexuelle Beziehung nicht stören sollte." A.s eigenes Kind, auch ein Mädchen, habe er nach Zeugenaussagen dagegen immer liebevoll und fürsorglich behandelt, "wenn er nicht gerade in Haft oder in der Psychiatrie war". Das passe ja wohl nicht zu einer gestörten Persönlichkeit.(...)"
was ich vom letzten satz halte? ich sehe darin eine art institutionell (psychiatrie und auch justiz) gebilligten/erwünschten und ideologisch (mittels der herrschenden diagnosenkonstruktionen) unterfütterten selbstbetrug; besser: eine typische art fragmentierender wahrnehmung, von der hier zumindest die richter komplett befallen zu sein scheinen. selbst in der orthodoxen psychiatrie ist es imo weitgehend eine anerkannte tatsache, dass gerade störungen aus den bereichen borderline / narzisstischer / antisozialer ps keineswegs für die betroffenen selbst immer mit leid verbunden sein müssen, sondern das im gegenteil primär die soziale umwelt unter den ausagierten symptomen des betroffenen menschen enorm leiden kann. das scheint sich jedoch in justiziellen kreisen noch nicht herumgesprochen zu haben.
wobei ich vermute, dass es in der psychiatrie und auch in der justiz einige gibt, die sich vielleicht vor den unvermeidlichen konsequenzen fürchten, wenn bestimmte diagnostische modelle etwas realitätsgerechter ausfallen würden: wie oben im prozeßbericht geschrieben, kommen die richter offensichtlich nicht mit dem - äußerlichen - widerspruch zurande, einer person, der sie extrem kalkulierendes und eiskaltes verhalten einerseits, aber eben auch "missbrauch mit drogen, alkohol, tabletten" (auch hier übrigens ist fragmentierende - und gesellschaftstragende - wahrnehmung beteiligt: alle genannten stoffe sind faktisch psychoaktive drogen) und damit ein meistens untrügliches indiz für psychophysische probleme andererseits attestieren. der angeklagte leidet ihnen zuwenig - und genau mit dieser impliziten aussage machen sie die mangelhaftigkeit der diagnostischen modelle recht deutlich, wie ich finde.
der justizielle (bzw. objektivistische) blick dürfte sich auch von den erwähnten zeugenaussagen getäuscht haben lassen, die dem angeklagten mann eine "immer liebevolle und fürsorgliche" behandlung des eigenen kindes zuschreiben. das darf berechtigt angezweifelt werden, besonders wenn wir an die möglichkeit simulativer - als-ob - zuneigung bzw. pseudoempathie denken. mir kamen bei dieser passage recht schnell mal wieder die kz-kommandanten des naziterrors in den sinn, bei denen ähnliche beobachtungen - tagsüber eiskalte killer, am abend die "fürsorglichen" und sentimentalen familienväter - bis heute für ratlosigkeit bei konventionellen historikern sorgen, die ähnlich wie die justiz grundsätzlich der reduktionistischen und fragmentierenden theorie und praxis der westlichen wissenschaft verpflichtet sind.
wenn wir dagegen mal von den (medial) bekannten tatsachen ausgehen, haben wir folgendes bild: a) ein grausam vernachlässigtes und gefoltertes totes kind, b) ein mann (stiefvater) und eine frau (mutter), die dieses kind zwingend in einem objektmodus wahrgenommen haben müssen (anders hätten sie nicht so handeln können), unter extremer empathiereduktion, c) die dazu noch die ebenfalls in solchen prozessen regelmässig festgestellten "begleitsymptome" wie gleichgültigkeit, kalkül und desinteresse am leiden ihres opfers zeigen.
wenn Sie sich nochmal die basisbeiträge "borderline" und "als-ob-persönlichkeiten" ins gedächtnis rufen, werden Sie vermutlich selbst zu dem schluß kommen, dass die dort vorgestellten alternativen erklärungsansätze für derartige konstellationen wie eben beschrieben sehr viel plausibler erscheinen als das, was orthodoxe psychiatrie und justiz in erklärung und umgang mit solchen geschehnissen anzubieten haben. vielleicht liegt für diese institutionen der unerträgliche und strikt zu verleugnende knackpunkt darin, dass sich tiefgreifende störung und scheinbar "objektiv" realitätsangepasstes verhalten nicht nur nicht ausschliessen, sondern sogar ein sehr der aktuellen realität angepasstes verhalten - und zwar im sinne einer totalen akzeptanz der herrschenden normen - ein starkes indiz für eine schwere psychophysische störung darstellen kann, nämlich dann, wenn diese herrschenden normen als einziges "objektives" kriterium für menschliches sein und handeln zugelassen werden, unter mißachtung aller "nur" subjektiven oder gar "weichen" menschlichen möglichkeiten (empathie, liebe, solidarität).
selbst bei einer nur teilweisen akzeptanz dieses ansatzes würde das bspw. in einem fall wie dem obigen deutlich machen, dass der angeklagte tatsächlich "nur" bestimmte (ideologische) grundsätze und (falsche) grundannahmen dieser gesellschaft konsequent "gelebt" bzw. angewendet hat: "der mensch ist prinzipiell egoistisch"; "man(n) muss seine ellenbogen einsetzen", "gut ist, was mir nützt" und dergleichen mehr. das ermordete kind wurde einfach als störendes und hinderliches ding auf dem weg zur jämmerlich reduzierten befriedigung wahrgenommen, und dementsprechend "behandelt" - was unterscheidet also das mörderische handeln dieser eltern eigentlich prinzipiell vom ebenso mörderischen handeln vieler staatlicher institutionen und großen unternehmen in dieser welt? in der rücksichtslosigkeit, kälte und vorgeschobenen behauptung "objektiver zwänge" sowie der völligen unterwerfung bzw. identitätskonstruktion unter und mittels herrschender ideologischer fragmente lassen sich für mich keine großen unterschiede feststellen. zu solchen schlüssen darf eine grundsätzlich rachebedürfnisse erfüllende und der präventiven abschreckung dienende (ersteres wird ebenso grundsätzlich verleugnet) justiz natürlich nicht kommen, würde sie doch dann noch mehr als jetzt in ihrer funktion als herrschaftsinstrument sichtbar werden und letztlich ihren als-ob-charakter einer angeblich "objektiven und überparteilichen" instanz verlieren, weil sie weder tatsächliche gerechtigkeit ausübt, noch den täterInnen eine chance bietet, ihr leben tatsächlich zu verändern (knäste machen bekanntlich alles nur noch schlimmer, was sogar die etablierten zuständigen wissenschaften sehen - ohne daraus konsequenzen ziehen zu wollen). beide eben genannten punkte hängen stark mit dem zusammen, was ich hier schon früher als täter-opfer-dialektik benannt habe - und genau diese dialektik wird bis auf weiteres konsequent ignoriert. das wurde auch schon in früheren prozeßberichten deutlich, siehe z.b. hier.
der begriff "klassenjustiz" erfasst die ganze fragwürdigkeit des justizapparates nur unzureichend, auch wenn das wort für den betreffenden bereich imo natürlich zutreffend ist (harte urteile gegen manager, politiker u.a. angehörige der "eliten" kommen i.d.r. nur zustande, wenn die betroffenen bereits vorher von ihren jeweiligen kumpanen ver- und ausgestoßen worden sind). der eigentliche strukturelle defekt der heutigen justiz liegt jedoch imo betrachtet in genau der katastrophal falschen anthropologie, die sich in so ziemlich allen bereichen der gesellschaft finden lässt - unser bild von uns selbst ist befrachtet von schlichter unkenntnis über das eigenen "funktionieren", die eigenen möglichkeiten bzw. unmöglichkeiten, einer verheerenden körperfeindlichkeit sowie der verherrlichung ausgerechnet der schlimmsten menschlichen möglichkeiten incl. offen schwer pathologischer zustände. kurz: was wir uns angewöhnt haben, hinsichtlich uns selbst und unserer mitmenschen als "normal" zu betrachten, ist in der realität eher zu einem viel zu großen teil zugleich ausdruck und produkt eindeutig pathologischer menschlicher defekte. und das impliziert als nötige gegenmaßnahme u.a. eine radikale wahrnehmungsänderung, die erstmal und besonders das anscheinend "selbstverständliche" in frage stellen muss.
natürlich sind die beiden angeklagten auf ihre jeweils individuelle art und weise im weitesten sinne (schwer) gestört - aber es ist völlig unzulässig, das als ihr "persönliches" problem abzutun. natürlich müssen sie für ihr handeln spürbare konsequenzen erleben - unter beachtung der schutzinteressen anderer menschen -, die ihnen ermöglichen, sich in den ihnen erreichbaren grenzen zu verändern. aber es ist völlig fraglich, ob gefängnisstrafen neben schutzinteressen irgendetwas anderes erfüllen können (von rachebedürfnissen in diesem fall zu reden, ist eh absurd - wenn das kind überlebt hätte, könnte es als einzige mit subjektiver berechtigung derartiges vertreten. keinesfalls aber direkt unbeteiligte, die derart hauptsächlich ihre eigenen sowie gesellschaftlich ressentiments und projektionen ausagieren). solche taten, die darauf folgende "rechtsprechung" und die öffentlichen reaktionen sprechen in ihrer ganz eigenen und beklemmenden weise von einer gesellschaft, die von ihren selbst produzierten mörderischen realitäten nichts wissen will und sich lieber im schein und in inszenierungen verliert - und in diesem punkt unterscheiden sich angeklagte, richter und auch das zuschauende und "pfui! hängt sie!" rufende publikum kein stück.
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aus österreich kommt der folgende prozeßbericht, bei dem auf andere weise die mängel der diagnostischen konstruktionen sowie des justiziellen umgangs deutlich werden:
"Während sich der 21-jährige Vater der kleinen Iris-Maria, die Anfang Februar 2006 an den Folgen ihrer Verletzungen gestorben ist, am 21. Juni wegen Mordes vor einem Wiener Schwurgericht verantworten muss, hat die Staatsanwaltschaft Wien das Verfahren gegen die Tante des dreijährigen Rene eingestellt. Ein psychiatrischer Sachverständiger bescheinigt der Frau, die den Kleinen schwer misshandelt haben soll, Zurechnungsunfähigkeit zum Tatzeitpunkt und stuft sie als "nicht gefährlich" ein.(...)
Der mittlerweile 21 Jahre alte Vater soll sich im gerichtlichen Vorverfahren teilweise geständig gezeigt haben. Gegen die 25-jährige Kindesmutter, die von den Misshandlungen gewusst und diese teilweise mitangesehen haben soll, war die Voruntersuchung vorerst noch nicht abgeschlossen.
"Es ist noch ein psychiatrisches Gutachten ausständig", stellte ihre Anwältin Irene Pfeifer am Mittwoch auf Anfrage der APA fest. Die Frau soll dem Vernehmen nach an einem Borderline-Syndrom leiden. Von der gerichtspsychiatrischen Expertise wird abhängen, ob die Justiz weiter gegen die 25-Jährige vorgehen wird. Derzeit wird gegen sie wegen Verletzung ihrer Obsorgepflicht bzw. Vernachlässigung einer Unmündigen im Sinne des Paragrafen 92 Strafgesetzbuch und nicht wegen Mordes als Beitragstäterin ermittelt. Sollte ihr der Sachverständige Zurechnungsunfähigkeit bescheinigen, ist in ihrem Falle eine Einstellung des Verfahrens möglich.(...)"
über den haupttäter erfahren wir hier nichts weiter, obwohl bei einer erweiterten psychiatrischen diagnostik auch zu diesem einiges zu sagen wäre - da bin ich mir ziemlich sicher. dann aber geht es um eine gewalttätige tante und die vernachlässigende mutter - und bei beiden um die frage der zurechnungsfähigkeit - aber mit welchen ergebnissen? ein bereits eingestelltes verfahren und eine mögliche verfahrenseinstellung machen die objektivistische ignoranz von psychiatrie und justiz diesmal aus einer anderen perspektive deutlich: sie missachten grob die allgemeinen schutzinteressen, die bei selbst von der orthodoxen psychiatrie anerkannten psychophysischen störungen nicht primär im reinen verwahren mittels knast liegen können, sondern in einer weitergehenden behandlung/betreuung der beiden betroffenen frauen, bei denen zudem sichergestellt sein muss, dass sie bis auf weiteres keinen kontakt mit kindern mehr bekommen. nunja, vielleicht existieren ja auflagen o.ä., von denen der artikel schweigt - aber wieder scheint mir die entscheidende frage darin zu liegen, wie realitätsgerecht die angewandten psychiatrischen modelle tatsächlich sind - eine borderline-ps kann mit zeitweiligen zuständen einhergehen, die gegen die "objektiven" realitätsnormen verstoßen und dann mehrheitlich als psychotisch begriffen werden, was justiziell dann den zustand der unzurechnungsfähigkeit nahelegt - wie gesagt, eine kann-situation. wenn aber borderline und auch andere persönlichkeitsstörungen nur unter bestimmten umständen derart "entgleisen", und auch nur bei einer minderheit von betroffenen, die ansonsten den anschein eines "normalen funktionierens" bieten - dann drängt sich auch hier der eindruck auf, dass die psychiatrischen modelle bzw. das verständnis von borderline und anderen störungen hoffnungslos in der falle der scheinalternative "(quasi)psychotisch = unzurechnungsfähig oder nicht?" stecken, zumal wenn als entscheidendes kriterium für eine "psychose" einzig und alleine die nichtanpassung bzw. das nichtfunktionieren unter den herrschenden normen von realität verstanden wird. und genau darauf lassen bis heute die kriterien für "psychose" und "unzurechnungsfähigkeit" reduzieren.
es würde mich aber mal interessieren, ob in österreich generell eine borderline-ps mit unzurechnungsfähigkeit gleichgesetzt wird? wenn jemand was darüber weiß - bitte sehr. und schonmal danke.
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wir verlassen die unschöne welt der prozeßberichte und werfen einen blick ins feuilleton - ein schriftsteller nörgelt über den literaturbetrieb und geht bei der zustandbeschreibung seiner kollegInnen bis zum äußersten:
(...)"Wer eine Gesellschaft umbauen will, muss die Menschen neu formatieren. Das klingt nach Science-fiction oder Totalitarismustheorie - und doch ist genau das der Punkt, der mich beunruhigt: dass ein politischer Wille, der ja nichts anderes ist, als der Wille einer bestimmten und überschaubaren Klasse, eine Gesellschaft so effizient durchdringen kann wie Karies meine Zähne. Der süße Geschmack tötet das Bewusstsein dafür ab, dass sich etwas ablagert und bis zur Wurzel durchfrisst. Am Schluss wird der zerstörte Zahn gezogen, an seiner Stelle wird ein neuer, künstlicher, kariesresistenter implantiert. Mit schönen Prothesen dürfen wir dann die Welt außerhalb unser selbst verachten. Erfolg ist, strahlend dort angelangt zu sein, wo wir nie hinwollten.(...)
Wer keine oder zu wenig Beachtung findet, weil die Welt zu groß ist und die Interessen zu vielfältig sind, der beachtet sich eben selbst. Aber nicht im Sinne von Selbsterkenntnis, sondern von Selbststimulation. Das ist neu: Ich brauche nicht mehr die Außenwelt, die Anderen, die Teile meines Selbst spiegeln, Teile, die ich dann zu dem zusammensetze, was man Ich nennt. Ich brauche nur mehr mich selbst und die Außenwelt als Publikum, dem ich eine Vorstellung von mir gebe. Ich definiere also mich selbst, schreibe mir selbst eine Rolle zu und bringe die Außenwelt dazu, mir zu glauben. Das nennt sich dann Erfolg und um nichts sonst geht es als um Erfolg.
Was dabei aufgelöst wird, ist das, was die Psychoanalyse als das kritische Selbst bezeichnet. Üblicherweise werden die Grenzen des Selbst vom Ich realistisch erfasst. Dazu braucht es Selbsterkenntnis - und die tut immer weh, weil damit die Erfahrung der eigenen Begrenztheit einhergeht. Wer diese Erfahrung in den Wind schlägt und sich stattdessen selber auf die Schulter klopft, manövriert sich in eine narzisstische Störung. Wenn diese Störung aber die Grundlage der gesellschaftlichen Entwicklung sein soll, wenn der neu formatierte Mensch sich dadurch auszeichnet, sich seine eigene Wirklichkeit zurechtzulegen und dadurch zur Borderline-Existenz zu verkommen, dann ist das das Ergebnis einer Besorgnis erregenden Borderline-Politik."(...)
eine treffende analogie, wie ich finde (mal abgesehen davon, dass sich über die verwendeten diagnostischen begriffe streiten lässt) - und durchaus auf andere bereiche zu übertragen, worüber sich der autor auch im klaren zu sein scheint.
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verweilen wir noch ein bißchen im kulturteil - ich habe ja bekanntlich ein faible für science fiction, und so sind mir solche gedanken durchaus vertraut:
(...)"Nun hat Science-Fiction eine neue, faszinierende Wendung erfahren. Aus den Einzelkämpfern sind Gruppen von Individuen geworden, deren Anderssein zum möglichen Schicksal eines jeden wird. Die "4400" bekamen ohne eigenes Zutun ein optimiertes Gehirn. Die "X-Men" leben mit angeborenen Mutationen - nur einer fällt aus der Reihe, weil er eine Laborzüchtung aus Wolf, Mensch und Supermetall ist. Sie sind das Ergebnis menschlicher Evolution und stehen in sozialer Konkurrenz zu den Normalos, die Angst vor ihnen haben, weil sie anders und besser sind.(...)
Natürlich ist alles Fiktion. Dennoch finden sich reale Vorbilder - nämlich in der Forschung über Autisten. Spätestens seit "Rain Man" sind Autisten einem breiten Kino-Publikum bekannt. Noch vor 20 Jahren galten die Betroffenen als geistig behindert.
Jeder zehnte Autist hat außergewöhnliche Begabungen, so genannte Insel-Begabungen. Eine hervorragende dreiteilige öffentlich-rechtliche TV-Dokumentation aus Deutschland porträtiert solche Autisten, auch Savants genannt. Sie beherrschen 25 Sprachen, sind Zahlengenies, können Klavier spielen, ohne es gelernt zu haben oder riesige Stadtpläne aus jeder erdenklichen Perspektive zeichnen.
Autisten können besonders gut logisch Denken – auf Kosten der sozialen Fähigkeiten wie Sprechen und Mimiken lesen. Das hat die Betroffenen in früheren Zeiten meist ins soziale Abseits gestellt. Im zaristischen Russland etwas glaubte man, dass autistische Kinder als besonders religiöse Menschen zur Welt gekommen sind und dass die "heiligen Narren" sich freiwillig für ein Leben jenseits aller Konventionen entschieden haben. Heute werden sie untersucht, gefördert und ans Leben herangeführt. Sie können wie die berühmte US-Amerikanerin Temple Grandin Professorin für Verhaltensforschung sein oder als Ehepaar zusammen in einer Wohnung leben.
Autismus hat genetische Ursachen, sagen die meisten Wissenschaftler. Damit lassen sich aber nicht alle Fälle erklären. Andere Forscher behaupten, zu viel Männlichkeitshormone im Mutterbauch oder neurologische Unfälle seien Schuld. Es gibt den berühmten Fall eines ehemaligen Schlägertypen, der nach einem Schlaganfall zu einem zahmen und hoch begabten Bildhauer wurde. Sein Gehirn wurde neu verdrahtet, erklärten seine Ärzte.(...)"
tja, nochmal der hinweis auf den möglichen charakter einer gesellschaftlich produzierten neurophysiologischen und bio-psychosozialen mutation - eine bestimmte gesellschaftsformation züchtet sich quasi mittels (neurologischer) selektion die ihr gemäßen mitglieder. geht nur voll in die hose, wenn die gesellschaft grundsätzlich durch traumatische struktruren geprägt ist - und davon um den preis des eigenen untergangs nichts wissen will.
ansonsten kann gute(!) science fiction imo durchaus zur weiter oben erwähnten nötigen wahrnehmungsveränderung / erweiterung beitragen - so meine eigene erfahrung. und noch etwas zu den benannten "ursachen": "genetisch", "hormonell", "neurologische unfälle": auch hier wieder die fragmentierende wahrnehmung, da es bis auf einzelfälle (und selbst da gilt die suggerierte kausalität nur bedingt) durchaus unzulässig ist, ein multidimensionales geschehen - in dem sinne, das neurologische, genetische und vielfältigste soziale einflüsse zusammen betrachtet werden müssen - so auf einzelne teile zu reduzieren. anders: ein wörtchen wie "genetisch" erklärt ohne den zugehörigenden kontext ersteinmal überhaupt nichts. stattdessen suggeriert es ein real nicht vorhandenes verständnis - aber damit lassen sich viele menschen auch gerne abspeisen. beruhigt ja auch ungemein.
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bleiben wir beim thema autismus: immer neue (und auch alte) erklärungsansätze sorgen für ständigen nachschub an news, siehe z.b. hier
"Wer sich ausruht und seinen Gedanken freien Lauf lässt, blickt oft nach innen und beurteilt dabei die vertraute Umgebung im Zusammenspiel mit der eigenen Person. Bei Autisten sind diese Tagträume nicht möglich. Die Gelegenheit zur Selbstreflexion wird offenbar durch die starke Konzentration auf äußere Einflüsse blockiert.
Wissenschaftler der Universität von Kalifornien vermuten in der fehlenden "Innenansicht" des Gehirns die Ursache für den sozialen und emotionalen Rückzug bei autistischen Personen. Autismus ist durch starke Selbstbezogenheit und Störungen im zwischenmenschlichen Verhalten gekennzeichnet. Oft fällt schon im Kleinkindalter die mangelnde Kontaktaufnahme zu engen Bezugspersonen auf.
In einer Studie verglichen Forscher die Gehirnaktivitäten autistischer Personen mit denen gesunder Probanden. Die während einiger Konzentrationsübungen und in den Ruhephasen gemessenen Daten zeigten, dass die typischen Hirnregionen der Selbstreflexion bei den autistischen Teilnehmern kaum beansprucht wurden. So genannte Netzwerke, die normalerweise in Entspannungsphasen für die Verarbeitung von Erlebnissen sorgen, bleiben bei Autisten inaktiv.
Bei gesunden Menschen wird das Netzwerk erst dann abgeschaltet, wenn anspruchsvolle geistige Aufgaben die volle Konzentration erfordern. Ob die Dysfunktion von gesammelten Eindrücken und deren Aufarbeitung bei autistischen Personen für deren emotionale Störungen verantwortlich ist, sollen weitere Untersuchungen klären."
passt erstens zur u.a. von temple grandin beschriebenen ständigen erregung des nervensystems (was bekanntlich auch ein symptom posttraumatischer zustände darstellt), ist aber zweitens reduktionistisch in dem sinne, dass mir hier zu sehr auf die rein kognitiven fähigkeiten primär des gehirns focussiert wird - ich bezweifle, dass phasen entspannter selbstreflexion auch mittels tagträumen alleine durch die betrachtung der dabei auftretenden neurologischen aktivitäten zu verstehen sind - hier wird vermutlich mal wieder ein ganzkörperliches geschehen (und entspannung spielt sich nun mal im ganzen körper ab) aufgespalten. dazu: tagträume sind nicht gleich tagträume - wenn in einem (relativ) gesunden menschen der objektivistische modus "korrekt" in einer voll entwickelten subjektivität arbeitet, dann ergänzen sich körperliche entspanung und tagträume (als "mentale" und womöglich kreative art, wie sich das gehirn entspannt), zu einem ganzen. wenn der objektivistische modus aber dominiert, dann können tagträume auch einen regelrecht dissoziativen (im pathologischen sinne) charakter bekommen - und stellen dann eher den ausdruck einer tiefgreifenden wahrnehmungsreduktion dar, die womöglich mit regelrechter trance einhergehen kann.
interessant auch der hinweis am ende darauf, dass die uns allen mehr oder weniger bekannten zustände von sog. geistiger konzentration sich tatsächlich als eine art quasiautistischer zustände begreifen lassen - sie basieren auf wahrnehmungsreduktion, die aber im gesunden fall nicht wirklich von der gesamten (körperlich basierten) wahrnehmung trennt - virtuelle räume, in denen bestimmte menschliche optionen verwirklicht werden können. und genau diese ausgangslage scheint mir bei den beziehungskrankheiten in verschiedener art und weise ver-rückt zu sein.
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beim stichwort "virtuelle räume" fällt mir noch eine buchbesprechung ein (ich werde das buch nochmal näher in der passenden rubrik vorstellen):
"Werner Bätzing ist Professor für Kulturgeographie und hat bereits mehrere Bücher zu ökologischen Problemen der Alpenregion geschrieben; Evelyn Hanzig-Bätzing ist Philosophin mit besonderem Interesse an Soziologie und Psychoanalyse. In ihrem ersten gemeinsamen Buch untersuchen die beiden aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen. Sie kommen zu dem Schluß, daß die entfesselte spätkapitalistische Gesellschaft alle bisher für die menschliche Spezies geltenden Grenzen einem allumfassenden Machbarkeitswahn opfert. Permanent geforderte Flexibilität und Leistungsbereitschaft rufen eine massenhafte Entindividualisierung hervor, verwandeln Menschen von handelnden Subjekten in ökonomisch kalkulierbare Objekte. In der Folge käme es zu einem massenhaften Verschwinden des Geschichtsbewußtseins und zu massiven Störungen bei der Wahrnehmung der realen Welt. An deren Stelle trete eine virtuelle Welt der unterschiedslosen Gleichzeitigkeit, in der alles berechenbar, beherrschbar und käuflich ist."(...)
"Evelyn Hanzig-Bätzing konzentriert sich auf die Folgen der sich in der Totalität des Marktes zunehmend wandelnden Lebenswelt für die in diese Welt eingepaßten Menschen. Postmoderne Beliebigkeit ersetzt die gesellschaftskritische Auseinandersetzung; Pille und Bildschirm treten an die Stelle geistigen Lebens. Beziehungsunfähigkeit, Verlorenheit, sexuelle Frustration – die auf Perfektionismus fixierte Gesellschaft bringt reihenweise psychische Krankheiten hervor.
Erschreckend manifestiert sich der Durchmarsch der totalen Leistungsgesellschaft am »Arbeitsplatz Schule«. Kinder, die ähnlichen Streßsituationen wie Erwachsene ausgesetzt werden, verhalten sich analog: Sie werden krank. Bis zu 25 Prozent der Kinder reagieren auf die gestiegenen Anforderungen mit psychischen und psychosomatischen Überlastungs- und Überforderungssyndromen."(...)
tja. dürfte in der reinen beschreibung vermutlich sehr zutreffend sein, und scheint auch über einige tellerränder herauszuschauen. ohne es selbst bisher zu kennen, sage ich mal: tipp.
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im zusammenhang mit den thematiken von beginn dieses beitrages hatte die zeit vor ein paar wochen einen imo recht guten artikel, in dem u.a. das folgende zu lesen ist:
(...)"Gerade das Schicksal des Täters S. illustriert, wie scheinheilig in Deutschland Kriminalpolitik gemacht wird: Gestörte Jugendliche und verurteilte Sexualstraftäter bleiben sich selbst überlassen, die Behörden sind blind für das, was ihnen gegenüber nötig wäre, und taub für alle Alarmzeichen – aber dann, wenn sich die wachsende Störung der Delinquenten in schweren Straftaten entladen hat, dreschen die Volksvertreter – vom Bürgermeister bis zum Bundeskanzler – publikumswirksam auf diese besonders verachtete Tätergruppe ein und rufen nach schärferen Gesetzen, am besten gleich in die nächste Kamera."(...)
und was so ein knastaufenthalt schlimmstenfalls anrichtet, ist sehr nachdrücklich so beschrieben:
(...)"Der psychiatrische Sachverständige Stefan Orlob diagnostiziert bei S. zwar diverse Störungen im Sozialverhalten, die eine drohende Entwicklung hin zu einer dissozialen Persönlichkeitsstörung andeuten könnten, stellt aber keine schwere seelische Abartigkeit fest. Im Urteil schließen die Richter aus den Ausführungen des Sachverständigen, dass S. durch gezielte Maßnahmen noch zu retten ist. Deshalb ordnen sie an: »Im Vollzug wird der Angeklagte dringend sozialtherapeutischer Hilfe bedürfen, um so die bei ihm festgestellten Defizite aufzuarbeiten.«(...)
"Als Stefan Orlob, der Sachverständige, der Maik S. nach der Vergewaltigung schon einmal untersucht hat, ihn nach dem Mord an Carolin ein zweites Mal begutachtet, trifft er auf einen Verschlossenen. Der Proband erleichtert sein Gewissen nicht mehr durch ein Geständnis, er schweigt zu seiner Tat. Orlob findet einen gefühlskalten und rücksichtlosen Menschen vor, dessen dissoziale Persönlichkeitszüge sich im Gefängnis zur Psychopathie verfestigt haben. Für irgendein Tätertherapieprogramm sei der Angeklagte wohl nicht mehr erreichbar, stellt der Gutachter fest."(...)
zwischen den beiden obigen absätzen ist zu lesen, wie die (eh schon begrenzten) möglichkeiten zur inneren veränderung des späteren mörders in einem wust aus behördlichem desinteresse und ignoranz verschwinden - so werden tatsächlich unter staatlicher aufsicht soziopathische persönlichkeiten erzeugt. und nicht umsonst werden knäste bekanntlich auch "schulen des verbrechens" genannt.
lesenswert wird der artikel auch durch die zwar nicht neue, aber dennoch immer wieder zu wiederholende feststellung der diskrepanz zwischen der seit jahren in den meisten bereichen rückläufigen kriminalität (in der offiziellen definition) einerseits und dem parallel zunehmenden unsicherheitsempfinden bei vielen menschen andererseits. hier geht es deutlich um wahrnehmungsweisen und -inhalte, und die haben zentral etwas mit psychophysischen zuständen zu tun bzw.drücken sie aus und prägen sie. die erwähnte diskrepanz ist hier ebenfalls für die zukunft als eigenes thema vorgemerkt.
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um schwere verbrechen, die allerdings selten bis nie geahndet und oft genug nicht mal als solche definiert werden, ging es vor ein paar wochen in einem schwerpunkt der taz - im dossier "kapital ohne moral" ist u.a. zu lesen:
"Aus den Schießscharten des gepanzerten Mercedes-Transporters spucken die Mündungsfeuer von acht Maschinengewehren. Wenn die brasilianische Spezialpolizei Drogenhändler in den Slums von Rio de Janeiro jagt, spielen zivile Opfer keine Rolle. Einwohnern, die sich nicht rechtzeitig verstecken, kann es ergehen wie dem elfjährigen Carlos Henrique. Bei einer Razzia im Elendsviertel Vila do João traf ihn im vergangenen Juli eine Kugel in den Kopf. Sie wurde aus einem Polizeipanzer abgefeuert.
Elf Personen kamen allein zwischen Mai und September 2005 auf diese Art ums Leben, sagt Katharina Spieß von amnesty international. Die Menschenrechtsorganisation hat Augenzeugenberichte gesammelt und eine Kampagne gegen die Polizeigewalt in Rio gestartet.
Amnesty international wirft DaimlerChrysler vor, dessen Produkte würden benutzt, um Menschenrechte zu verletzen. DaimlerChrysler verstoße gegen eigene und internationale Standards, denn der Konzern hat offiziell unterschrieben, alles zu tun, dass so etwas nicht passiert. DaimlerChrysler ist Mitglied im Globalen Pakt der Vereinten Nationen. Eins der Prinzipien des Vertrages verlangt, "dass Ihr Unternehmen sich nicht an Menschenrechtsverletzungen beteiligt". Bürgerrechtsorganisationen und Gewerkschaften fordern - so wie amnesty von DaimlerChrysler - auch von anderen Konzernen, die grundlegenden Menschen- und Arbeitsrechte nicht nur theoretisch zu akzeptieren, sondern sie auch praktisch einzuhalten.
"Totenschädel" heißen die schwarz gestrichenen Panzerfahrzeuge von Rio de Janeiro im Volksmund. Von einem Schwert durchbohrt ziert der Totenkopf das Wappen des "Bataillons für Spezialoperationen" (Bope) der Polizei von Rio de Janeiro. Bope-Kommandeur Venâncio Moura beschreibt die Tätigkeit seiner Truppe so: "Wie operieren wie in einem konventionellen Krieg: Die Panzer fahren voraus, die Infanterie umzingelt den Feind." Einwohner der Favelas berichten, dass die Lautsprecher der Panzerwagen im Einsatz verkünden: "Wir kommen, um eure Seelen zu holen."
Mit einem Foto von einem "Totenschädel"-Fahrzeug - im Brasilianischen "Caveirão" genannt - dokumentiert amnesty, dass die Spezialpolizei Produkte von DaimlerChrysler verwendet. Der Mercedes-Stern am Kühler des Panzerwagens ist deutlich zu sehen. In ihrem Brief an DaimlerChrysler-Direktor Michael Inacker schreibt die Menschenrechtsorganisation, dass "Fahrgestelle von Mercedes-Benz noch immer in Caveirãos der Polizei von Rio de Janeiro benutzt werden".
Die Recherchen von amnesty international haben ergeben, dass Mercedes-Fahrzeuge von der brasilianischen Firma TCT Blindados zu Polizeipanzern umgebaut worden seien. Auf der Internetseite von TCT, die mittlerweile nicht mehr erreichbar ist, waren bis vor wenigen Tagen Bilder von Panzerwagen mit den Emblemen von Mercedes und Ford zu sehen."(...)
passend dazu ein interviewauszug aus einer printausgabe des "ai-journals":
"Ein Krieg gegen Arme"
ai: Wer ist in Brasilien von der Gewalt besonders betroffen?
Marcelo Freixo: Die öffentliche Sicherheit in Brasilien befindet sich in einem sehr bedrohlichen Zustand. Insbesondere die Zahl der Personen, die von der Polizei getötet wurden, hat sich in den vergangenen Jahren eklatant erhöht. Durchschnittlich werden in Rio de Janeiro drei Menschen pro Tag erschossen. Nirgendwo sonst auf der Welt gibt es eine so hohe Tötungsrate durch die Polizei wie in Rio. Und das sind nur die offiziellen Zahlen - die Dunkelziffer ist noch viel höher. Insgesamt kommen in Brasilien jedes Jahr etwa 40.000 Menschen durch Schusswaffen ums Leben. Und die meisten Opfer sind arm und haben eine schwarze Hautfarbe.
Elizabete M. de Souza: Mein 13-jähriger Bruder wurde im Januar 2004 in Caju, einer Favela in Rio, von der Polizei erschossen, zusammen mit vier anderen Jugendlichen. Nach Angaben der Beamten haben die Opfer zuerst das Feuer eröffnet. Doch ein Augenzeuge berichtete, dass es eine regelrechte Exekution war. Nach seiner Aussage musste er mit seiner Familie das Viertel verlassen - aus Angst vor der Polizei. Ich habe damals gemeinsam mit anderen Angehörigen von Opfern eine Initiative gegründet, weil der Fall meines Bruders keine Ausnahme ist. Wir haben unsere Geschwister verloren, Vater und Ehemänner - und die Regierung unternimmt nichts. Wir wollen Gerechtigkeit. Die Täter müssen sich vor Gericht verantworten.
ai: Warum handelt die Regierung nicht?
Freixo: Der Grund liegt nicht in der Inkompetenz der Behörden. Die Ursachen liegen vielmehr in einem Konzept der öffentlichen Sicherheit, das alle Opfer einfach als Drogenhändler oder Kriminelle darstellt, gegen die nur Gewalt hilft. Und eine schlecht informierte Öffentlichkeit akzeptiert dieses haben viele Berichte und Empfehlungen an die Regierung gerichtet. Deshalb müssen unsere Nachforschungen absolut korrekt sein. Dabei stützen wir uns vor allem auf ein Netz von Menschenrechtsorganisationen und sozialen Bewegungen. Insbesondere mit amnesty international arbeiten wir seit Jahren eng zusammen.
ai: Weshalb wird die Polizeigewalt in einem so hohen Maße akzeptiert?
Freixo: Die öffentliche Meinung in Brasilien toleriert Polizeigewalt, weil diese Gesellschaft durch die Angst geprägt ist. Die Opfer stammen aus den armen Vierteln, doch die Angst regiert in den reichen Bezirken. Diese Angst führte auch zur Niederlage bei dem Referendum über die Waffenabgabe im vergangenen Oktober. Was wir vor allem brauchen, ist daher ein anderes Konzept von Sicherheit - ein Konzept, das die Armut und nicht die Armen bekämpft.
de Souza: Wer nicht in den Armenvierteln wohnt, fühlt sich durch deren Bewohner bedroht, als wenn sie alle in das Verbrechen involviert wären. Dabei kommen die Bediensteten der Mittel- und Oberschicht, die Kindermädchen, Pförtner und Hausangestellten, in der Regel alle aus der Favela.
ai: Werden Sie selbst bedroht?
Freixo: Wie viele andere Menschenrechtsverteidiger in Brasilien muss ich mit einer gewissen Gefahr leben. Dagegen gibt es keinen Schutz. Von den Behörden können wir jedenfalls keine Hilfe erwarten.
de Souza: Nachdem ich Anzeige wegen dem Tod meines Bruders erstattet hatte, erhielt ich die ersten Drohungen. Ein Mann sagte am Telefon, dass sie auch meine Tochter töten könnten. Ich schlafe deshalb nicht mehr zu Hause, sondern bei Freunden. Mein Kind habe ich außerhalb der Stadt untergebracht. Der Anruf kam aus einer Polizeistation.
(Interview: Anton Landgraf)
die einen nennen so etwas "demokratie und freie marktwirtschaft", andere nennen es neoliberalismus, wieder andere kapitalistischen staatsterrorismus. in meinen augen sind das alles synonyme - recherchieren Sie hier im blog einmal mit der internen suche und dem keyword "mafia".
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und sonst? wm-zeit ist tittytainment-zeit - und es hat mich schon etwas in den fingern gejuckt, aus der perspektive dieses blogs heraus sowohl die einzelnen teilnehmenden länder als auch erscheinungen wie den hooliganismus näher zu beleuchten. aber bei ersten vorbereitenden recherchen habe ich schnell gemerkt, dass so ein vorhaben derzeit einfach meine persönlichen kapazitäten übersteigt. wer einigermaßen interessiert ist und mitverfolgt, wie sich die soziale realität hier entwickelt, wird wahrscheinlich sowieso dieses globale event einzuschätzen wissen. wobei ich persönlich mich gleichzeitig mit der dramatik und auch ästhetik wirklich guten fussballs durchaus vergnügen kann. aber das sollte den blick trotzdem nicht trüben - von der korrupten fifa angefangen über die sponsoren coca-cola und die hamburgerbraterei bis hin zur gnadenlosen auslese in den fußballzentren brasiliens und der instrumentalisierung eventueller wm-erfolge durch die regierungen diverser staaten zwecks kaschierung antisozialer maßnahmen gibt es mehr als genug, was mehr als übel aufstößt.
wachsam bleiben, kann da nur die devise lauten.
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fangen wir an mit dem stichwort borderline: für regelmäßige leserInnen hier wird die beobachtung, dass seit längerer zeit diese diagnose öfter in forensischen gutachten besonders in zusammenhang mit prozessen rund um gewalt gegen kinder bis hin zum mord auftaucht, nichts neues darstellen. und so überraschen auch meldungen wie die folgende zwar nicht, thematisieren jedoch unfreiwillig wieder einmal mehr die sichtbaren und möglichen defizite und bruchstellen in der orthodoxen psychiatrischen betrachtungsweise des borderline-phänomens - im bericht über den prozeß gegen die eltern der ermordeten karolina sieht das so aus:
(...)"Der Verdacht wäre ohne Geständnis eben auf beide gleichermaßen gefallen." Dazu komme das Verhalten der Angeklagten in der Haft - "kein Bedauern, sie haben getanzt und waren bester Laune". Wer ernsthaft den Tod seines Kindes betrauere, verhalte sich anders.(...)
Wenig Eindruck machte auf die Kammer auch, was Nedopil und Weber vortrugen. A. trieb zwar Missbrauch mit Drogen, Alkohol und Tabletten, bei ihm könne durchaus auch eine Borderline-Störung vorliegen - doch welche strafrechtliche Relevanz habe dies für Karolinas Tod, fragten die Richter. Die Kammer habe "erhebliche Zweifel, ob sich die Tat überhaupt so zugetragen habe, wie von den Sachverständigen angenommen". Die sadistischen Quälereien hätten über Tage angedauert, gleichsam nach einer Art "Masterplan".
Wenn das Kinde nicht wie ein dressierter Hund parierte, habe es geheißen: "Jetzt braucht sie's wieder." Ein Leiden an der Borderline-Störung, wie der Bundesgerichtshof es fordere für den Fall einer Schuldminderung, sei bei A. nicht festzustellen. "Da haben die Sachverständigen ihre Sicht der Dinge zugrunde gelegt - von der Lebensgefährtin verlassen, ohne Beruf, ohne Aussicht auf Besserung der Verhältnisse. Aber ihm hat's ja gefallen, sein Leben als Pascha. Er ließ seine Lebensgefährtin sitzen, weil ihm Zaneta besser gefiel. Das ist alles. Da war kein Leiden, keine Notlage, kein Zwang. Karolina war für ihn das Kind eines Zuhälters, ein Bastard ohne Lebensrecht, der die sexuelle Beziehung nicht stören sollte." A.s eigenes Kind, auch ein Mädchen, habe er nach Zeugenaussagen dagegen immer liebevoll und fürsorglich behandelt, "wenn er nicht gerade in Haft oder in der Psychiatrie war". Das passe ja wohl nicht zu einer gestörten Persönlichkeit.(...)"
was ich vom letzten satz halte? ich sehe darin eine art institutionell (psychiatrie und auch justiz) gebilligten/erwünschten und ideologisch (mittels der herrschenden diagnosenkonstruktionen) unterfütterten selbstbetrug; besser: eine typische art fragmentierender wahrnehmung, von der hier zumindest die richter komplett befallen zu sein scheinen. selbst in der orthodoxen psychiatrie ist es imo weitgehend eine anerkannte tatsache, dass gerade störungen aus den bereichen borderline / narzisstischer / antisozialer ps keineswegs für die betroffenen selbst immer mit leid verbunden sein müssen, sondern das im gegenteil primär die soziale umwelt unter den ausagierten symptomen des betroffenen menschen enorm leiden kann. das scheint sich jedoch in justiziellen kreisen noch nicht herumgesprochen zu haben.
wobei ich vermute, dass es in der psychiatrie und auch in der justiz einige gibt, die sich vielleicht vor den unvermeidlichen konsequenzen fürchten, wenn bestimmte diagnostische modelle etwas realitätsgerechter ausfallen würden: wie oben im prozeßbericht geschrieben, kommen die richter offensichtlich nicht mit dem - äußerlichen - widerspruch zurande, einer person, der sie extrem kalkulierendes und eiskaltes verhalten einerseits, aber eben auch "missbrauch mit drogen, alkohol, tabletten" (auch hier übrigens ist fragmentierende - und gesellschaftstragende - wahrnehmung beteiligt: alle genannten stoffe sind faktisch psychoaktive drogen) und damit ein meistens untrügliches indiz für psychophysische probleme andererseits attestieren. der angeklagte leidet ihnen zuwenig - und genau mit dieser impliziten aussage machen sie die mangelhaftigkeit der diagnostischen modelle recht deutlich, wie ich finde.
der justizielle (bzw. objektivistische) blick dürfte sich auch von den erwähnten zeugenaussagen getäuscht haben lassen, die dem angeklagten mann eine "immer liebevolle und fürsorgliche" behandlung des eigenen kindes zuschreiben. das darf berechtigt angezweifelt werden, besonders wenn wir an die möglichkeit simulativer - als-ob - zuneigung bzw. pseudoempathie denken. mir kamen bei dieser passage recht schnell mal wieder die kz-kommandanten des naziterrors in den sinn, bei denen ähnliche beobachtungen - tagsüber eiskalte killer, am abend die "fürsorglichen" und sentimentalen familienväter - bis heute für ratlosigkeit bei konventionellen historikern sorgen, die ähnlich wie die justiz grundsätzlich der reduktionistischen und fragmentierenden theorie und praxis der westlichen wissenschaft verpflichtet sind.
wenn wir dagegen mal von den (medial) bekannten tatsachen ausgehen, haben wir folgendes bild: a) ein grausam vernachlässigtes und gefoltertes totes kind, b) ein mann (stiefvater) und eine frau (mutter), die dieses kind zwingend in einem objektmodus wahrgenommen haben müssen (anders hätten sie nicht so handeln können), unter extremer empathiereduktion, c) die dazu noch die ebenfalls in solchen prozessen regelmässig festgestellten "begleitsymptome" wie gleichgültigkeit, kalkül und desinteresse am leiden ihres opfers zeigen.
wenn Sie sich nochmal die basisbeiträge "borderline" und "als-ob-persönlichkeiten" ins gedächtnis rufen, werden Sie vermutlich selbst zu dem schluß kommen, dass die dort vorgestellten alternativen erklärungsansätze für derartige konstellationen wie eben beschrieben sehr viel plausibler erscheinen als das, was orthodoxe psychiatrie und justiz in erklärung und umgang mit solchen geschehnissen anzubieten haben. vielleicht liegt für diese institutionen der unerträgliche und strikt zu verleugnende knackpunkt darin, dass sich tiefgreifende störung und scheinbar "objektiv" realitätsangepasstes verhalten nicht nur nicht ausschliessen, sondern sogar ein sehr der aktuellen realität angepasstes verhalten - und zwar im sinne einer totalen akzeptanz der herrschenden normen - ein starkes indiz für eine schwere psychophysische störung darstellen kann, nämlich dann, wenn diese herrschenden normen als einziges "objektives" kriterium für menschliches sein und handeln zugelassen werden, unter mißachtung aller "nur" subjektiven oder gar "weichen" menschlichen möglichkeiten (empathie, liebe, solidarität).
selbst bei einer nur teilweisen akzeptanz dieses ansatzes würde das bspw. in einem fall wie dem obigen deutlich machen, dass der angeklagte tatsächlich "nur" bestimmte (ideologische) grundsätze und (falsche) grundannahmen dieser gesellschaft konsequent "gelebt" bzw. angewendet hat: "der mensch ist prinzipiell egoistisch"; "man(n) muss seine ellenbogen einsetzen", "gut ist, was mir nützt" und dergleichen mehr. das ermordete kind wurde einfach als störendes und hinderliches ding auf dem weg zur jämmerlich reduzierten befriedigung wahrgenommen, und dementsprechend "behandelt" - was unterscheidet also das mörderische handeln dieser eltern eigentlich prinzipiell vom ebenso mörderischen handeln vieler staatlicher institutionen und großen unternehmen in dieser welt? in der rücksichtslosigkeit, kälte und vorgeschobenen behauptung "objektiver zwänge" sowie der völligen unterwerfung bzw. identitätskonstruktion unter und mittels herrschender ideologischer fragmente lassen sich für mich keine großen unterschiede feststellen. zu solchen schlüssen darf eine grundsätzlich rachebedürfnisse erfüllende und der präventiven abschreckung dienende (ersteres wird ebenso grundsätzlich verleugnet) justiz natürlich nicht kommen, würde sie doch dann noch mehr als jetzt in ihrer funktion als herrschaftsinstrument sichtbar werden und letztlich ihren als-ob-charakter einer angeblich "objektiven und überparteilichen" instanz verlieren, weil sie weder tatsächliche gerechtigkeit ausübt, noch den täterInnen eine chance bietet, ihr leben tatsächlich zu verändern (knäste machen bekanntlich alles nur noch schlimmer, was sogar die etablierten zuständigen wissenschaften sehen - ohne daraus konsequenzen ziehen zu wollen). beide eben genannten punkte hängen stark mit dem zusammen, was ich hier schon früher als täter-opfer-dialektik benannt habe - und genau diese dialektik wird bis auf weiteres konsequent ignoriert. das wurde auch schon in früheren prozeßberichten deutlich, siehe z.b. hier.
der begriff "klassenjustiz" erfasst die ganze fragwürdigkeit des justizapparates nur unzureichend, auch wenn das wort für den betreffenden bereich imo natürlich zutreffend ist (harte urteile gegen manager, politiker u.a. angehörige der "eliten" kommen i.d.r. nur zustande, wenn die betroffenen bereits vorher von ihren jeweiligen kumpanen ver- und ausgestoßen worden sind). der eigentliche strukturelle defekt der heutigen justiz liegt jedoch imo betrachtet in genau der katastrophal falschen anthropologie, die sich in so ziemlich allen bereichen der gesellschaft finden lässt - unser bild von uns selbst ist befrachtet von schlichter unkenntnis über das eigenen "funktionieren", die eigenen möglichkeiten bzw. unmöglichkeiten, einer verheerenden körperfeindlichkeit sowie der verherrlichung ausgerechnet der schlimmsten menschlichen möglichkeiten incl. offen schwer pathologischer zustände. kurz: was wir uns angewöhnt haben, hinsichtlich uns selbst und unserer mitmenschen als "normal" zu betrachten, ist in der realität eher zu einem viel zu großen teil zugleich ausdruck und produkt eindeutig pathologischer menschlicher defekte. und das impliziert als nötige gegenmaßnahme u.a. eine radikale wahrnehmungsänderung, die erstmal und besonders das anscheinend "selbstverständliche" in frage stellen muss.
natürlich sind die beiden angeklagten auf ihre jeweils individuelle art und weise im weitesten sinne (schwer) gestört - aber es ist völlig unzulässig, das als ihr "persönliches" problem abzutun. natürlich müssen sie für ihr handeln spürbare konsequenzen erleben - unter beachtung der schutzinteressen anderer menschen -, die ihnen ermöglichen, sich in den ihnen erreichbaren grenzen zu verändern. aber es ist völlig fraglich, ob gefängnisstrafen neben schutzinteressen irgendetwas anderes erfüllen können (von rachebedürfnissen in diesem fall zu reden, ist eh absurd - wenn das kind überlebt hätte, könnte es als einzige mit subjektiver berechtigung derartiges vertreten. keinesfalls aber direkt unbeteiligte, die derart hauptsächlich ihre eigenen sowie gesellschaftlich ressentiments und projektionen ausagieren). solche taten, die darauf folgende "rechtsprechung" und die öffentlichen reaktionen sprechen in ihrer ganz eigenen und beklemmenden weise von einer gesellschaft, die von ihren selbst produzierten mörderischen realitäten nichts wissen will und sich lieber im schein und in inszenierungen verliert - und in diesem punkt unterscheiden sich angeklagte, richter und auch das zuschauende und "pfui! hängt sie!" rufende publikum kein stück.
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aus österreich kommt der folgende prozeßbericht, bei dem auf andere weise die mängel der diagnostischen konstruktionen sowie des justiziellen umgangs deutlich werden:
"Während sich der 21-jährige Vater der kleinen Iris-Maria, die Anfang Februar 2006 an den Folgen ihrer Verletzungen gestorben ist, am 21. Juni wegen Mordes vor einem Wiener Schwurgericht verantworten muss, hat die Staatsanwaltschaft Wien das Verfahren gegen die Tante des dreijährigen Rene eingestellt. Ein psychiatrischer Sachverständiger bescheinigt der Frau, die den Kleinen schwer misshandelt haben soll, Zurechnungsunfähigkeit zum Tatzeitpunkt und stuft sie als "nicht gefährlich" ein.(...)
Der mittlerweile 21 Jahre alte Vater soll sich im gerichtlichen Vorverfahren teilweise geständig gezeigt haben. Gegen die 25-jährige Kindesmutter, die von den Misshandlungen gewusst und diese teilweise mitangesehen haben soll, war die Voruntersuchung vorerst noch nicht abgeschlossen.
"Es ist noch ein psychiatrisches Gutachten ausständig", stellte ihre Anwältin Irene Pfeifer am Mittwoch auf Anfrage der APA fest. Die Frau soll dem Vernehmen nach an einem Borderline-Syndrom leiden. Von der gerichtspsychiatrischen Expertise wird abhängen, ob die Justiz weiter gegen die 25-Jährige vorgehen wird. Derzeit wird gegen sie wegen Verletzung ihrer Obsorgepflicht bzw. Vernachlässigung einer Unmündigen im Sinne des Paragrafen 92 Strafgesetzbuch und nicht wegen Mordes als Beitragstäterin ermittelt. Sollte ihr der Sachverständige Zurechnungsunfähigkeit bescheinigen, ist in ihrem Falle eine Einstellung des Verfahrens möglich.(...)"
über den haupttäter erfahren wir hier nichts weiter, obwohl bei einer erweiterten psychiatrischen diagnostik auch zu diesem einiges zu sagen wäre - da bin ich mir ziemlich sicher. dann aber geht es um eine gewalttätige tante und die vernachlässigende mutter - und bei beiden um die frage der zurechnungsfähigkeit - aber mit welchen ergebnissen? ein bereits eingestelltes verfahren und eine mögliche verfahrenseinstellung machen die objektivistische ignoranz von psychiatrie und justiz diesmal aus einer anderen perspektive deutlich: sie missachten grob die allgemeinen schutzinteressen, die bei selbst von der orthodoxen psychiatrie anerkannten psychophysischen störungen nicht primär im reinen verwahren mittels knast liegen können, sondern in einer weitergehenden behandlung/betreuung der beiden betroffenen frauen, bei denen zudem sichergestellt sein muss, dass sie bis auf weiteres keinen kontakt mit kindern mehr bekommen. nunja, vielleicht existieren ja auflagen o.ä., von denen der artikel schweigt - aber wieder scheint mir die entscheidende frage darin zu liegen, wie realitätsgerecht die angewandten psychiatrischen modelle tatsächlich sind - eine borderline-ps kann mit zeitweiligen zuständen einhergehen, die gegen die "objektiven" realitätsnormen verstoßen und dann mehrheitlich als psychotisch begriffen werden, was justiziell dann den zustand der unzurechnungsfähigkeit nahelegt - wie gesagt, eine kann-situation. wenn aber borderline und auch andere persönlichkeitsstörungen nur unter bestimmten umständen derart "entgleisen", und auch nur bei einer minderheit von betroffenen, die ansonsten den anschein eines "normalen funktionierens" bieten - dann drängt sich auch hier der eindruck auf, dass die psychiatrischen modelle bzw. das verständnis von borderline und anderen störungen hoffnungslos in der falle der scheinalternative "(quasi)psychotisch = unzurechnungsfähig oder nicht?" stecken, zumal wenn als entscheidendes kriterium für eine "psychose" einzig und alleine die nichtanpassung bzw. das nichtfunktionieren unter den herrschenden normen von realität verstanden wird. und genau darauf lassen bis heute die kriterien für "psychose" und "unzurechnungsfähigkeit" reduzieren.
es würde mich aber mal interessieren, ob in österreich generell eine borderline-ps mit unzurechnungsfähigkeit gleichgesetzt wird? wenn jemand was darüber weiß - bitte sehr. und schonmal danke.
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wir verlassen die unschöne welt der prozeßberichte und werfen einen blick ins feuilleton - ein schriftsteller nörgelt über den literaturbetrieb und geht bei der zustandbeschreibung seiner kollegInnen bis zum äußersten:
(...)"Wer eine Gesellschaft umbauen will, muss die Menschen neu formatieren. Das klingt nach Science-fiction oder Totalitarismustheorie - und doch ist genau das der Punkt, der mich beunruhigt: dass ein politischer Wille, der ja nichts anderes ist, als der Wille einer bestimmten und überschaubaren Klasse, eine Gesellschaft so effizient durchdringen kann wie Karies meine Zähne. Der süße Geschmack tötet das Bewusstsein dafür ab, dass sich etwas ablagert und bis zur Wurzel durchfrisst. Am Schluss wird der zerstörte Zahn gezogen, an seiner Stelle wird ein neuer, künstlicher, kariesresistenter implantiert. Mit schönen Prothesen dürfen wir dann die Welt außerhalb unser selbst verachten. Erfolg ist, strahlend dort angelangt zu sein, wo wir nie hinwollten.(...)
Wer keine oder zu wenig Beachtung findet, weil die Welt zu groß ist und die Interessen zu vielfältig sind, der beachtet sich eben selbst. Aber nicht im Sinne von Selbsterkenntnis, sondern von Selbststimulation. Das ist neu: Ich brauche nicht mehr die Außenwelt, die Anderen, die Teile meines Selbst spiegeln, Teile, die ich dann zu dem zusammensetze, was man Ich nennt. Ich brauche nur mehr mich selbst und die Außenwelt als Publikum, dem ich eine Vorstellung von mir gebe. Ich definiere also mich selbst, schreibe mir selbst eine Rolle zu und bringe die Außenwelt dazu, mir zu glauben. Das nennt sich dann Erfolg und um nichts sonst geht es als um Erfolg.
Was dabei aufgelöst wird, ist das, was die Psychoanalyse als das kritische Selbst bezeichnet. Üblicherweise werden die Grenzen des Selbst vom Ich realistisch erfasst. Dazu braucht es Selbsterkenntnis - und die tut immer weh, weil damit die Erfahrung der eigenen Begrenztheit einhergeht. Wer diese Erfahrung in den Wind schlägt und sich stattdessen selber auf die Schulter klopft, manövriert sich in eine narzisstische Störung. Wenn diese Störung aber die Grundlage der gesellschaftlichen Entwicklung sein soll, wenn der neu formatierte Mensch sich dadurch auszeichnet, sich seine eigene Wirklichkeit zurechtzulegen und dadurch zur Borderline-Existenz zu verkommen, dann ist das das Ergebnis einer Besorgnis erregenden Borderline-Politik."(...)
eine treffende analogie, wie ich finde (mal abgesehen davon, dass sich über die verwendeten diagnostischen begriffe streiten lässt) - und durchaus auf andere bereiche zu übertragen, worüber sich der autor auch im klaren zu sein scheint.
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verweilen wir noch ein bißchen im kulturteil - ich habe ja bekanntlich ein faible für science fiction, und so sind mir solche gedanken durchaus vertraut:
(...)"Nun hat Science-Fiction eine neue, faszinierende Wendung erfahren. Aus den Einzelkämpfern sind Gruppen von Individuen geworden, deren Anderssein zum möglichen Schicksal eines jeden wird. Die "4400" bekamen ohne eigenes Zutun ein optimiertes Gehirn. Die "X-Men" leben mit angeborenen Mutationen - nur einer fällt aus der Reihe, weil er eine Laborzüchtung aus Wolf, Mensch und Supermetall ist. Sie sind das Ergebnis menschlicher Evolution und stehen in sozialer Konkurrenz zu den Normalos, die Angst vor ihnen haben, weil sie anders und besser sind.(...)
Natürlich ist alles Fiktion. Dennoch finden sich reale Vorbilder - nämlich in der Forschung über Autisten. Spätestens seit "Rain Man" sind Autisten einem breiten Kino-Publikum bekannt. Noch vor 20 Jahren galten die Betroffenen als geistig behindert.
Jeder zehnte Autist hat außergewöhnliche Begabungen, so genannte Insel-Begabungen. Eine hervorragende dreiteilige öffentlich-rechtliche TV-Dokumentation aus Deutschland porträtiert solche Autisten, auch Savants genannt. Sie beherrschen 25 Sprachen, sind Zahlengenies, können Klavier spielen, ohne es gelernt zu haben oder riesige Stadtpläne aus jeder erdenklichen Perspektive zeichnen.
Autisten können besonders gut logisch Denken – auf Kosten der sozialen Fähigkeiten wie Sprechen und Mimiken lesen. Das hat die Betroffenen in früheren Zeiten meist ins soziale Abseits gestellt. Im zaristischen Russland etwas glaubte man, dass autistische Kinder als besonders religiöse Menschen zur Welt gekommen sind und dass die "heiligen Narren" sich freiwillig für ein Leben jenseits aller Konventionen entschieden haben. Heute werden sie untersucht, gefördert und ans Leben herangeführt. Sie können wie die berühmte US-Amerikanerin Temple Grandin Professorin für Verhaltensforschung sein oder als Ehepaar zusammen in einer Wohnung leben.
Autismus hat genetische Ursachen, sagen die meisten Wissenschaftler. Damit lassen sich aber nicht alle Fälle erklären. Andere Forscher behaupten, zu viel Männlichkeitshormone im Mutterbauch oder neurologische Unfälle seien Schuld. Es gibt den berühmten Fall eines ehemaligen Schlägertypen, der nach einem Schlaganfall zu einem zahmen und hoch begabten Bildhauer wurde. Sein Gehirn wurde neu verdrahtet, erklärten seine Ärzte.(...)"
tja, nochmal der hinweis auf den möglichen charakter einer gesellschaftlich produzierten neurophysiologischen und bio-psychosozialen mutation - eine bestimmte gesellschaftsformation züchtet sich quasi mittels (neurologischer) selektion die ihr gemäßen mitglieder. geht nur voll in die hose, wenn die gesellschaft grundsätzlich durch traumatische struktruren geprägt ist - und davon um den preis des eigenen untergangs nichts wissen will.
ansonsten kann gute(!) science fiction imo durchaus zur weiter oben erwähnten nötigen wahrnehmungsveränderung / erweiterung beitragen - so meine eigene erfahrung. und noch etwas zu den benannten "ursachen": "genetisch", "hormonell", "neurologische unfälle": auch hier wieder die fragmentierende wahrnehmung, da es bis auf einzelfälle (und selbst da gilt die suggerierte kausalität nur bedingt) durchaus unzulässig ist, ein multidimensionales geschehen - in dem sinne, das neurologische, genetische und vielfältigste soziale einflüsse zusammen betrachtet werden müssen - so auf einzelne teile zu reduzieren. anders: ein wörtchen wie "genetisch" erklärt ohne den zugehörigenden kontext ersteinmal überhaupt nichts. stattdessen suggeriert es ein real nicht vorhandenes verständnis - aber damit lassen sich viele menschen auch gerne abspeisen. beruhigt ja auch ungemein.
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bleiben wir beim thema autismus: immer neue (und auch alte) erklärungsansätze sorgen für ständigen nachschub an news, siehe z.b. hier
"Wer sich ausruht und seinen Gedanken freien Lauf lässt, blickt oft nach innen und beurteilt dabei die vertraute Umgebung im Zusammenspiel mit der eigenen Person. Bei Autisten sind diese Tagträume nicht möglich. Die Gelegenheit zur Selbstreflexion wird offenbar durch die starke Konzentration auf äußere Einflüsse blockiert.
Wissenschaftler der Universität von Kalifornien vermuten in der fehlenden "Innenansicht" des Gehirns die Ursache für den sozialen und emotionalen Rückzug bei autistischen Personen. Autismus ist durch starke Selbstbezogenheit und Störungen im zwischenmenschlichen Verhalten gekennzeichnet. Oft fällt schon im Kleinkindalter die mangelnde Kontaktaufnahme zu engen Bezugspersonen auf.
In einer Studie verglichen Forscher die Gehirnaktivitäten autistischer Personen mit denen gesunder Probanden. Die während einiger Konzentrationsübungen und in den Ruhephasen gemessenen Daten zeigten, dass die typischen Hirnregionen der Selbstreflexion bei den autistischen Teilnehmern kaum beansprucht wurden. So genannte Netzwerke, die normalerweise in Entspannungsphasen für die Verarbeitung von Erlebnissen sorgen, bleiben bei Autisten inaktiv.
Bei gesunden Menschen wird das Netzwerk erst dann abgeschaltet, wenn anspruchsvolle geistige Aufgaben die volle Konzentration erfordern. Ob die Dysfunktion von gesammelten Eindrücken und deren Aufarbeitung bei autistischen Personen für deren emotionale Störungen verantwortlich ist, sollen weitere Untersuchungen klären."
passt erstens zur u.a. von temple grandin beschriebenen ständigen erregung des nervensystems (was bekanntlich auch ein symptom posttraumatischer zustände darstellt), ist aber zweitens reduktionistisch in dem sinne, dass mir hier zu sehr auf die rein kognitiven fähigkeiten primär des gehirns focussiert wird - ich bezweifle, dass phasen entspannter selbstreflexion auch mittels tagträumen alleine durch die betrachtung der dabei auftretenden neurologischen aktivitäten zu verstehen sind - hier wird vermutlich mal wieder ein ganzkörperliches geschehen (und entspannung spielt sich nun mal im ganzen körper ab) aufgespalten. dazu: tagträume sind nicht gleich tagträume - wenn in einem (relativ) gesunden menschen der objektivistische modus "korrekt" in einer voll entwickelten subjektivität arbeitet, dann ergänzen sich körperliche entspanung und tagträume (als "mentale" und womöglich kreative art, wie sich das gehirn entspannt), zu einem ganzen. wenn der objektivistische modus aber dominiert, dann können tagträume auch einen regelrecht dissoziativen (im pathologischen sinne) charakter bekommen - und stellen dann eher den ausdruck einer tiefgreifenden wahrnehmungsreduktion dar, die womöglich mit regelrechter trance einhergehen kann.
interessant auch der hinweis am ende darauf, dass die uns allen mehr oder weniger bekannten zustände von sog. geistiger konzentration sich tatsächlich als eine art quasiautistischer zustände begreifen lassen - sie basieren auf wahrnehmungsreduktion, die aber im gesunden fall nicht wirklich von der gesamten (körperlich basierten) wahrnehmung trennt - virtuelle räume, in denen bestimmte menschliche optionen verwirklicht werden können. und genau diese ausgangslage scheint mir bei den beziehungskrankheiten in verschiedener art und weise ver-rückt zu sein.
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beim stichwort "virtuelle räume" fällt mir noch eine buchbesprechung ein (ich werde das buch nochmal näher in der passenden rubrik vorstellen):
"Werner Bätzing ist Professor für Kulturgeographie und hat bereits mehrere Bücher zu ökologischen Problemen der Alpenregion geschrieben; Evelyn Hanzig-Bätzing ist Philosophin mit besonderem Interesse an Soziologie und Psychoanalyse. In ihrem ersten gemeinsamen Buch untersuchen die beiden aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen. Sie kommen zu dem Schluß, daß die entfesselte spätkapitalistische Gesellschaft alle bisher für die menschliche Spezies geltenden Grenzen einem allumfassenden Machbarkeitswahn opfert. Permanent geforderte Flexibilität und Leistungsbereitschaft rufen eine massenhafte Entindividualisierung hervor, verwandeln Menschen von handelnden Subjekten in ökonomisch kalkulierbare Objekte. In der Folge käme es zu einem massenhaften Verschwinden des Geschichtsbewußtseins und zu massiven Störungen bei der Wahrnehmung der realen Welt. An deren Stelle trete eine virtuelle Welt der unterschiedslosen Gleichzeitigkeit, in der alles berechenbar, beherrschbar und käuflich ist."(...)
"Evelyn Hanzig-Bätzing konzentriert sich auf die Folgen der sich in der Totalität des Marktes zunehmend wandelnden Lebenswelt für die in diese Welt eingepaßten Menschen. Postmoderne Beliebigkeit ersetzt die gesellschaftskritische Auseinandersetzung; Pille und Bildschirm treten an die Stelle geistigen Lebens. Beziehungsunfähigkeit, Verlorenheit, sexuelle Frustration – die auf Perfektionismus fixierte Gesellschaft bringt reihenweise psychische Krankheiten hervor.
Erschreckend manifestiert sich der Durchmarsch der totalen Leistungsgesellschaft am »Arbeitsplatz Schule«. Kinder, die ähnlichen Streßsituationen wie Erwachsene ausgesetzt werden, verhalten sich analog: Sie werden krank. Bis zu 25 Prozent der Kinder reagieren auf die gestiegenen Anforderungen mit psychischen und psychosomatischen Überlastungs- und Überforderungssyndromen."(...)
tja. dürfte in der reinen beschreibung vermutlich sehr zutreffend sein, und scheint auch über einige tellerränder herauszuschauen. ohne es selbst bisher zu kennen, sage ich mal: tipp.
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im zusammenhang mit den thematiken von beginn dieses beitrages hatte die zeit vor ein paar wochen einen imo recht guten artikel, in dem u.a. das folgende zu lesen ist:
(...)"Gerade das Schicksal des Täters S. illustriert, wie scheinheilig in Deutschland Kriminalpolitik gemacht wird: Gestörte Jugendliche und verurteilte Sexualstraftäter bleiben sich selbst überlassen, die Behörden sind blind für das, was ihnen gegenüber nötig wäre, und taub für alle Alarmzeichen – aber dann, wenn sich die wachsende Störung der Delinquenten in schweren Straftaten entladen hat, dreschen die Volksvertreter – vom Bürgermeister bis zum Bundeskanzler – publikumswirksam auf diese besonders verachtete Tätergruppe ein und rufen nach schärferen Gesetzen, am besten gleich in die nächste Kamera."(...)
und was so ein knastaufenthalt schlimmstenfalls anrichtet, ist sehr nachdrücklich so beschrieben:
(...)"Der psychiatrische Sachverständige Stefan Orlob diagnostiziert bei S. zwar diverse Störungen im Sozialverhalten, die eine drohende Entwicklung hin zu einer dissozialen Persönlichkeitsstörung andeuten könnten, stellt aber keine schwere seelische Abartigkeit fest. Im Urteil schließen die Richter aus den Ausführungen des Sachverständigen, dass S. durch gezielte Maßnahmen noch zu retten ist. Deshalb ordnen sie an: »Im Vollzug wird der Angeklagte dringend sozialtherapeutischer Hilfe bedürfen, um so die bei ihm festgestellten Defizite aufzuarbeiten.«(...)
"Als Stefan Orlob, der Sachverständige, der Maik S. nach der Vergewaltigung schon einmal untersucht hat, ihn nach dem Mord an Carolin ein zweites Mal begutachtet, trifft er auf einen Verschlossenen. Der Proband erleichtert sein Gewissen nicht mehr durch ein Geständnis, er schweigt zu seiner Tat. Orlob findet einen gefühlskalten und rücksichtlosen Menschen vor, dessen dissoziale Persönlichkeitszüge sich im Gefängnis zur Psychopathie verfestigt haben. Für irgendein Tätertherapieprogramm sei der Angeklagte wohl nicht mehr erreichbar, stellt der Gutachter fest."(...)
zwischen den beiden obigen absätzen ist zu lesen, wie die (eh schon begrenzten) möglichkeiten zur inneren veränderung des späteren mörders in einem wust aus behördlichem desinteresse und ignoranz verschwinden - so werden tatsächlich unter staatlicher aufsicht soziopathische persönlichkeiten erzeugt. und nicht umsonst werden knäste bekanntlich auch "schulen des verbrechens" genannt.
lesenswert wird der artikel auch durch die zwar nicht neue, aber dennoch immer wieder zu wiederholende feststellung der diskrepanz zwischen der seit jahren in den meisten bereichen rückläufigen kriminalität (in der offiziellen definition) einerseits und dem parallel zunehmenden unsicherheitsempfinden bei vielen menschen andererseits. hier geht es deutlich um wahrnehmungsweisen und -inhalte, und die haben zentral etwas mit psychophysischen zuständen zu tun bzw.drücken sie aus und prägen sie. die erwähnte diskrepanz ist hier ebenfalls für die zukunft als eigenes thema vorgemerkt.
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um schwere verbrechen, die allerdings selten bis nie geahndet und oft genug nicht mal als solche definiert werden, ging es vor ein paar wochen in einem schwerpunkt der taz - im dossier "kapital ohne moral" ist u.a. zu lesen:
"Aus den Schießscharten des gepanzerten Mercedes-Transporters spucken die Mündungsfeuer von acht Maschinengewehren. Wenn die brasilianische Spezialpolizei Drogenhändler in den Slums von Rio de Janeiro jagt, spielen zivile Opfer keine Rolle. Einwohnern, die sich nicht rechtzeitig verstecken, kann es ergehen wie dem elfjährigen Carlos Henrique. Bei einer Razzia im Elendsviertel Vila do João traf ihn im vergangenen Juli eine Kugel in den Kopf. Sie wurde aus einem Polizeipanzer abgefeuert.
Elf Personen kamen allein zwischen Mai und September 2005 auf diese Art ums Leben, sagt Katharina Spieß von amnesty international. Die Menschenrechtsorganisation hat Augenzeugenberichte gesammelt und eine Kampagne gegen die Polizeigewalt in Rio gestartet.
Amnesty international wirft DaimlerChrysler vor, dessen Produkte würden benutzt, um Menschenrechte zu verletzen. DaimlerChrysler verstoße gegen eigene und internationale Standards, denn der Konzern hat offiziell unterschrieben, alles zu tun, dass so etwas nicht passiert. DaimlerChrysler ist Mitglied im Globalen Pakt der Vereinten Nationen. Eins der Prinzipien des Vertrages verlangt, "dass Ihr Unternehmen sich nicht an Menschenrechtsverletzungen beteiligt". Bürgerrechtsorganisationen und Gewerkschaften fordern - so wie amnesty von DaimlerChrysler - auch von anderen Konzernen, die grundlegenden Menschen- und Arbeitsrechte nicht nur theoretisch zu akzeptieren, sondern sie auch praktisch einzuhalten.
"Totenschädel" heißen die schwarz gestrichenen Panzerfahrzeuge von Rio de Janeiro im Volksmund. Von einem Schwert durchbohrt ziert der Totenkopf das Wappen des "Bataillons für Spezialoperationen" (Bope) der Polizei von Rio de Janeiro. Bope-Kommandeur Venâncio Moura beschreibt die Tätigkeit seiner Truppe so: "Wie operieren wie in einem konventionellen Krieg: Die Panzer fahren voraus, die Infanterie umzingelt den Feind." Einwohner der Favelas berichten, dass die Lautsprecher der Panzerwagen im Einsatz verkünden: "Wir kommen, um eure Seelen zu holen."
Mit einem Foto von einem "Totenschädel"-Fahrzeug - im Brasilianischen "Caveirão" genannt - dokumentiert amnesty, dass die Spezialpolizei Produkte von DaimlerChrysler verwendet. Der Mercedes-Stern am Kühler des Panzerwagens ist deutlich zu sehen. In ihrem Brief an DaimlerChrysler-Direktor Michael Inacker schreibt die Menschenrechtsorganisation, dass "Fahrgestelle von Mercedes-Benz noch immer in Caveirãos der Polizei von Rio de Janeiro benutzt werden".
Die Recherchen von amnesty international haben ergeben, dass Mercedes-Fahrzeuge von der brasilianischen Firma TCT Blindados zu Polizeipanzern umgebaut worden seien. Auf der Internetseite von TCT, die mittlerweile nicht mehr erreichbar ist, waren bis vor wenigen Tagen Bilder von Panzerwagen mit den Emblemen von Mercedes und Ford zu sehen."(...)
passend dazu ein interviewauszug aus einer printausgabe des "ai-journals":
"Ein Krieg gegen Arme"
ai: Wer ist in Brasilien von der Gewalt besonders betroffen?
Marcelo Freixo: Die öffentliche Sicherheit in Brasilien befindet sich in einem sehr bedrohlichen Zustand. Insbesondere die Zahl der Personen, die von der Polizei getötet wurden, hat sich in den vergangenen Jahren eklatant erhöht. Durchschnittlich werden in Rio de Janeiro drei Menschen pro Tag erschossen. Nirgendwo sonst auf der Welt gibt es eine so hohe Tötungsrate durch die Polizei wie in Rio. Und das sind nur die offiziellen Zahlen - die Dunkelziffer ist noch viel höher. Insgesamt kommen in Brasilien jedes Jahr etwa 40.000 Menschen durch Schusswaffen ums Leben. Und die meisten Opfer sind arm und haben eine schwarze Hautfarbe.
Elizabete M. de Souza: Mein 13-jähriger Bruder wurde im Januar 2004 in Caju, einer Favela in Rio, von der Polizei erschossen, zusammen mit vier anderen Jugendlichen. Nach Angaben der Beamten haben die Opfer zuerst das Feuer eröffnet. Doch ein Augenzeuge berichtete, dass es eine regelrechte Exekution war. Nach seiner Aussage musste er mit seiner Familie das Viertel verlassen - aus Angst vor der Polizei. Ich habe damals gemeinsam mit anderen Angehörigen von Opfern eine Initiative gegründet, weil der Fall meines Bruders keine Ausnahme ist. Wir haben unsere Geschwister verloren, Vater und Ehemänner - und die Regierung unternimmt nichts. Wir wollen Gerechtigkeit. Die Täter müssen sich vor Gericht verantworten.
ai: Warum handelt die Regierung nicht?
Freixo: Der Grund liegt nicht in der Inkompetenz der Behörden. Die Ursachen liegen vielmehr in einem Konzept der öffentlichen Sicherheit, das alle Opfer einfach als Drogenhändler oder Kriminelle darstellt, gegen die nur Gewalt hilft. Und eine schlecht informierte Öffentlichkeit akzeptiert dieses haben viele Berichte und Empfehlungen an die Regierung gerichtet. Deshalb müssen unsere Nachforschungen absolut korrekt sein. Dabei stützen wir uns vor allem auf ein Netz von Menschenrechtsorganisationen und sozialen Bewegungen. Insbesondere mit amnesty international arbeiten wir seit Jahren eng zusammen.
ai: Weshalb wird die Polizeigewalt in einem so hohen Maße akzeptiert?
Freixo: Die öffentliche Meinung in Brasilien toleriert Polizeigewalt, weil diese Gesellschaft durch die Angst geprägt ist. Die Opfer stammen aus den armen Vierteln, doch die Angst regiert in den reichen Bezirken. Diese Angst führte auch zur Niederlage bei dem Referendum über die Waffenabgabe im vergangenen Oktober. Was wir vor allem brauchen, ist daher ein anderes Konzept von Sicherheit - ein Konzept, das die Armut und nicht die Armen bekämpft.
de Souza: Wer nicht in den Armenvierteln wohnt, fühlt sich durch deren Bewohner bedroht, als wenn sie alle in das Verbrechen involviert wären. Dabei kommen die Bediensteten der Mittel- und Oberschicht, die Kindermädchen, Pförtner und Hausangestellten, in der Regel alle aus der Favela.
ai: Werden Sie selbst bedroht?
Freixo: Wie viele andere Menschenrechtsverteidiger in Brasilien muss ich mit einer gewissen Gefahr leben. Dagegen gibt es keinen Schutz. Von den Behörden können wir jedenfalls keine Hilfe erwarten.
de Souza: Nachdem ich Anzeige wegen dem Tod meines Bruders erstattet hatte, erhielt ich die ersten Drohungen. Ein Mann sagte am Telefon, dass sie auch meine Tochter töten könnten. Ich schlafe deshalb nicht mehr zu Hause, sondern bei Freunden. Mein Kind habe ich außerhalb der Stadt untergebracht. Der Anruf kam aus einer Polizeistation.
(Interview: Anton Landgraf)
die einen nennen so etwas "demokratie und freie marktwirtschaft", andere nennen es neoliberalismus, wieder andere kapitalistischen staatsterrorismus. in meinen augen sind das alles synonyme - recherchieren Sie hier im blog einmal mit der internen suche und dem keyword "mafia".
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und sonst? wm-zeit ist tittytainment-zeit - und es hat mich schon etwas in den fingern gejuckt, aus der perspektive dieses blogs heraus sowohl die einzelnen teilnehmenden länder als auch erscheinungen wie den hooliganismus näher zu beleuchten. aber bei ersten vorbereitenden recherchen habe ich schnell gemerkt, dass so ein vorhaben derzeit einfach meine persönlichen kapazitäten übersteigt. wer einigermaßen interessiert ist und mitverfolgt, wie sich die soziale realität hier entwickelt, wird wahrscheinlich sowieso dieses globale event einzuschätzen wissen. wobei ich persönlich mich gleichzeitig mit der dramatik und auch ästhetik wirklich guten fussballs durchaus vergnügen kann. aber das sollte den blick trotzdem nicht trüben - von der korrupten fifa angefangen über die sponsoren coca-cola und die hamburgerbraterei bis hin zur gnadenlosen auslese in den fußballzentren brasiliens und der instrumentalisierung eventueller wm-erfolge durch die regierungen diverser staaten zwecks kaschierung antisozialer maßnahmen gibt es mehr als genug, was mehr als übel aufstößt.
wachsam bleiben, kann da nur die devise lauten.
monoma - 12. Jun, 15:27
Ansonsten von mir mal wieder nur ein virtuelles Schulterklopfen. Und die Hoffnung dass dich die generelle Stille in deiner Kommentarecke nicht vom verfassen weiterer Artikel abhaelt.
loellie