kontext 25: mißverständnis, übertragungsfehler oder eine kleine sensation? (über eine neue autismus-studie)

so meine gedanken bei ansicht eines gleich folgenden zitates - aber der reihe nach.

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die möglichen gründe für die belegbare zunahme von diagnosen (!) aus dem autistischen spektrum besonders im letzten jahrzehnt - siehe zb. hier - sind in den sich zuständig fühlenden wissenschaftlichen bereichen bis heute gegenstand von vielfältigsten auseinandersetzungen. nun sorgt eine neue studie aktuell für diskussionen:

(...)"Mehr als ein Prozent aller Kinder leiden unter Autismus oder einer verwandten Störung aus dem Formenkreis der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen. Zu diesem überraschenden Ergebnis kommt eine Kohortenstudie im Lancet (2006; 368:210-215). Die Zahlen liegen deutlich über den bisherigen Schätzungen, sind aber nach Ansicht von Experten kein Beweis für eine tatsächliche Zunahme der Störung.

Bis Ende der 80er-Jahre galt der infantile Autismus, heute als frühkindlicher Autismus bezeichnet, als eine sehr seltene Störung mit einer Prävalenz von 4-5/10.000. Dann kamen drei epidemiologische Studien in Japan zu einer Prävalenz von 13 -15,5/10.000. Seither übertreffen sich die Epidemiologen in Europa und den USA mit ihren Schätzungen. Doch Ergebnisse von Gillian Baird vom Guy's and St Thomas' Hospital in London und Mitarbeiter stellen alle bisherigen Annahmen in den Schatten: Danach liegt bei 38,9/10.000 Kindern ein Autismus vor. Bei weiteren 77,2/10.000 wurden andere Tiefgreifende Entwicklungsstörungen gefunden, zu denen das Rett-Syndrom, das Asperger-Syndrom und sonstige desintegrative Störungen des Kindesalters gehören. Damit ergibt sich eine Rate von 116,1/10.000 oder mehr als ein Prozent."(...)


(zum begriff der prävalenz eine imo verständliche definition von wikipedia: "Die Prävalenz oder auch Grundanteil ist eine Kennzahl der Epidemiologie und sagt aus, wieviele Individuen einer bestimmten Population an einer bestimmten Krankheit erkrankt sind. Sie gibt eine absolute Häufigkeit an. Die Prävalenzrate ist dagegen eine relative Größe; sie wird bestimmt durch die Zahl der Erkrankten im Verhältnis zur Zahl der Untersuchten.")

also, ich entnehme den zusammengefassten ergebnissen folgendes: erstens geht es hier zusammengefasst um die sog. "Tiefgreifenden Entwicklungsstörungen" bei kindern, zu denen u.a. die diagnosen des "klassisch" autistischen spektrums gezählt werden - frühkindlicher autismus (kanner), asperger-syndrom, atypischer autismus - ; zweitens werden dadurch die ergebnisse bzw. auch spekulationen früherer forschungen untermauert, die imo ebenso mehrheitlich von einer höheren autismus"rate" in der bevölkerung von verschiedenen regionen auf dem planeten berichtet haben; drittens taucht sofort - und das finde ich mittlerweile recht auffällig - die relativierung hinsichtlich der "tatsächlichen Zunahme der Störung" auf. soweit also erstmal alles bekannt.

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in einer für die presse aufbereiteten agenturmitteilung findet sich dann aber ein statement, das es in sich hat:

(...)"Man sollte die epidemiologischen Studien differenziert betrachten", so Stephan Partl, Assistenzarzt an der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikum Würzburg, im Gespräch mit pressetext. Der Anstieg der autistischen Fälle sei schon länger bekannt. Ein Grund hierfür ist die Anzahl der Untergruppen von Autismus wie die Schizoide Persönlichkeitsstörung, Borderline oder ADHS, die sich in den letzten Jahren herausgebildet haben, erläutert Partl."(...)

"...Untergruppen von Autismus wie die Schizoide Persönlichkeitsstörung, Borderline oder ADHS, die sich in den letzten Jahren herausgebildet haben..." - nun, die letztere behauptung lässt sich bei großzügiger interpretation höchstens auf das "aufmerksamkeitsdefizit(hyperaktivitäts)sydrom" beziehen, wohingegen sowohl die schizoide ps als auch borderline nicht erst seit gestern in den diagnostischen katalogen vorhanden sind. und das "ad(h)s" taucht tatsächlich oft als komorbidität bspw. des aspergersyndroms auf (und auch bei borderline). das ist die eine sache.

die andere - und damit wäre hier tatsächlich in einer dem eindruck nach sogar eher beiläufigen bemerkung eine kleine sensation versteckt - ist die aussage, dass die borderline-ps eine "untergruppe" von autismus darstellen würde. ich staune immer noch - diese bemerkung stammt immerhin von einem angehörigen einer institution der orthodoxen psychiatrie, die sich - und genau das ist bekanntlich ein hauptthema dieses blogs - womöglich bei einigen ganz zentralen diagnostischen modellen gerade im bereich der persönlichkeitsstörungen (und im autismus- und traumakontext) sowohl in der konstruktion der diagnosen als auch im verständnis der ätiologie gehörig verzettelt hat. der einzige mir bekannte "professionelle" autor, der sich in den letzten jahren genau damit beschäftigt hat, ist der hier oft zitierte j.e.mertz, über dessen faktische ignorierung seitens der etablierten psychiatrie und psychologie ich im letzten jahr geschrieben hatte:

(...)"aber das ist doch laut titel ein buch zum thema borderline?, ließe sich fragen. ja - aber dieser zusammenhang lässt sich erst dann überhaupt diskutieren, wenn es einen begriff davon gibt, was autismus eigentlich bedeutet. es lässt sich einiges zu mertz und seinem modell anmerken, auch in mehreren punkten entschiedene kritik - trotzdem halte ich seine herausarbeitung der inneren struktur des autismus für plausibel und einleuchtend, und werde mich darauf im folgenden auch beziehen. zum buch insgesamt sei an dieser stelle noch gesagt, dass mir bisher - es ist vor gut fünf jahren erschienen und mittlerweile offensichtlich vergriffen - keinerlei fachspezifische rezension untergekommen ist. eine anfrage beim zuständigen verlag vor gut einem halben jahr ergab lediglich, dass es möglicherweise überhaupt nur drei rezensionen nach veröffentlichung gegeben hat. trotz professioneller recherchekenntnisse gelang es mir nicht, auch nur eine rezension zu gesicht zu bekommen, auch nicht nach recherchen in einer unibibliothek.(...)

dieses auffällige schweigen der fachwelt ist für mich - gerade im borderlinebereich, wo an sich jede veröffentlichung sehr bald von anderen professionellen kommentiert und rezensiert wird - inzwischen zwar einerseits verständlicher, stellt andererseits jedoch auch ein recht jämmerliches ausweichen dar - die thesen von mertz haben es wirklich in sich, dazu bringt er eine sehr scharfe kritik an der orthodoxen psychoanalyse sowie inspirierende beobachtungen zum westlich geprägten bewußtsein vor, ebenso einiges ketzerische zum geschlechterverhältnis - von der möglichen rolle der mütter bei psychischen störungen und der bedeutung der pränatalen phase nicht zu reden. viel explosives material also, um sich daran abzuarbeiten - aber stattdessen das erwähnte tiefe schweigen. und es geht dabei nicht um etwas beliebiges, was eigentlich egal ist - das buch kann für betroffene z.b. mit einer borderline-diagnose eine verheerende wirkung haben, und alleine schon deswegen wäre es eine sozusagen berufliche pflicht der überwiegend - in relation - hochbezahlten sog. professionellen, sich dazu zu äußern. aber die methode des aussitzens ist anscheinend nicht nur in einem gesellschaftlichen bereich als problemlösung beliebt."(...)


das buch ist mittlerweile tatsächlich schon länger vergriffen, und ich habe auch nichts von einer neuauflage mitbekommen. aber das erwähnte tiefe schweigen ist imo keinesfalls ein verzerrter eindruck - es finden sich an verschiedenen stellen bruchstückchen, die das deutlich machen. so schreibt eine userin in einem thread im forum des "borderline-netzwerks" vom januar 2005:

(...)"Einige Patienten hörten, dass es eine Studie geben soll, die eine besondere Form des Autismus bei BPS untersucht haben soll. Angeblich würden über 80% der " schweren Borderlinern" unter den gleichen, dem Autismus ähnelnden Symtomen leiden, es bestünde sogar der Verdacht, dass dies der Entwicklung von BPS Vorschub leistet."(...)

nun, das ist eine frage in einem unterforum dort, welches speziell dazu dient, mit psychiatrisch / psychotherapeutisch ausgebildeten und auf borderline spezialisierten professionellen ins gespräch zu kommen. diese frage ist seit über einem jahr ohne antwort. das kann ganz verschiedene gründe haben, ich weiß - und trotzdem entsteht so ein ziemlich merkwürdiger eindruck. ich habe zwischenzeitlich mal begonnen, in nicht kostenpflichtigen medizinischen datenbanken online nach dieser erwähnten studie zu recherchieren und werde Ihnen das ergebnis natürlich nicht vorenthalten. und falls die hier mitlesenden therapeutisch oder sonstwie einschlägig in betroffenen bereichen tätigen dazu mehr wissen bzw. hinweise geben könnten, wäre ich für entsprechende informationen sehr dankbar.

(vielleicht sollten sich die professionell tätigen auch mal diesen thread in einem forum von asperger-betroffenen anschauen - gerade der letzte beitrag wirft bei mir so einige fragen nach den methoden und inhalten der orthodoxen psychiatrischen diagnostik auf - insbesondere bin ich über die "kombination" asperger und posttraumatische belastungsstörung doch ziemlich erstaunt.)

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jedenfalls steckt in der oben zitierten unscheinbaren äußerung des arztes einiges an sprengstoff. und ich frage mich, ob, wo und vom wem das wahrgenommen wird?

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edit: ich kann mir vorstellen, dass es einige leserInnen hier gibt, die das obige thema vielleicht für eine art von pseudoauseinanderstzung um pure begriffe halten - aber darum geht es zumindest mir keinesfalls. ich sehe eher bzw. ahne eine ganze reihe von unabsehbaren konsequenzen nicht nur für direkt betroffene, nicht nur in und für die beteiligten wissenschaftlichen disziplinen, sondern weit darüber hinaus sogar für das selbst- und menschenbild primär der westlichen kultur.

ein wechsel in der wahrnehmungsweise von als krankhaft betrachteten menschlichen existenzweisen - und als solche lassen sich die als persönlichkeitsstörungen definierten zustände ebenso wie die verschiedenen formen von "anerkanntem" autismus durchaus begreifen - , ein solcher wechsel also würde bspw. recht schnell fragen danach aufwerfen, wie es denn zu den - imo oberflächlichen - unterschieden im verhalten von vielen borderline-diagnostizierten im vergleich mit bspw. asperger-betroffenen kommt, was zb. den umgang mit sozialen beziehungen anbelangt. und hier landen wir dann sehr schnell bei fragen zur bedeutung von simulativen zuständen innerhalb und für die menschliche existenz.

desweiteren stünden dann verschärft fragen nach der strukturellen bedeutung des vermehrten auftretens von autistischen zuständen in der menschlichen gesellschaft zur debatte; ebenfalls müsste das bisherige bild des autismus radikal korrigiert werden - und dazu dann auch wesentliche bereiche der heutigen psychiatrischen diagnostik, die sich zusätzlich um eine neue definition von "gesunder normalität" bemühen müsste - und damit dann wiederum die bisherige "normalität" ganz anders zu betrachten gezwungen sein würde...
monoma - 12. Aug, 14:26

fast ein monat ist vergangen...

...und mir ist bisher keinerlei öffentliche reaktion (im sinne einer kommentierung), oder gar ein klares dementi auf die aussage des assistenzarztes vor augen gekommen. was ich nach wie vor sehr erstaunlich finde, zumal sich meldung und zitat in dieser zeit online weiter verbreitet haben, auch in verschiedenen publikationen.

bemerkenswert ist auch, dass es in der erwähnten studie ja nur um die "anerkannten" formen des autistischen spektrums ging, und um deren epidemiologie. während sich das ungewöhnliche zitat ganz ausdrücklich darauf nicht bezieht, sondern eine, mir nach wie vor im zusammenhang mit der etablierten psychiatrie noch nicht bekannt gewordene, qualitative erweiterung des autismus-begriffes impliziert.

nicht, das ich letzteres völlig falsch finden würde, im gegenteil - aber ich wundere mich halt.

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