Adi (Gast) - 22. Aug, 01:19

Der falsch vermessene Mensch

Hi mo,

die Behauptung von Roth "Schwerverbrecher und Mörder haben alle schwerste Hirnschäden im Stirnbereich, das belegen Untersuchungen." steht für mich seltsam luftleer im Raum. In diesem Bezug mußte ich an alles denken, was Stephen Jay Gould in seinem Buch "Der falsch vermessene Mensch" anführt.

Das Problem liegt m.E. weniger in der Tatsache, daß möglicherweise Schädigungen vorhanden sind (die gleichwohl auch Folge einer gewalttätigen Familie und Umgebung geschuldet sein können und sich möglicherweise in nichts von den Schädigungen unterscheiden, die Berufsboxer erleiden, ohne kriminell zu werden), sondern in dem Versuch, diese Schädigungen als Kategorisierungsmerkmal zu verwenden.

Das führt, ob gewollt oder nicht zur Vorverurteilung und Einordnung von Menschen in das gesellschaftliche Wertesystem - sprich ab wann ist das Leben für die Gesellschaft nichts mehr wert und wieviel Rechte werden jedem gemäß seiner wissenschaftlich gemessenen Kategorie zugestanden.

Man danke nur an Binet und den Mißbrauch seines Test als Intelligenztest - wo Binet ausdrücklich davon sprach, daß damit eben nicht die Intelligenz gemessen wird und Regeln aufstellte, die mit dem Intelligenztest nach Yerkes völlig beiseite gewischt wurden. Sowie die dann erfolgte soziale Kategorisierung von Menschen nach dem "gemessenen" IQ.

Hier sehe ich ein weites Feld von Mißbrauchspotential und jedem der sich damit näher auseinandersetzt sei die intensive Lektüre von Goulds Buch ans Herzen gelegt ...

Liebe Grüße

Adi

monoma - 22. Aug, 11:26

hi adi,

"...steht für mich seltsam luftleer im Raum."

hm. finde ich nicht so deutlich. etwas anderes ist die frage, ob die aussage in der form überhaupt so haltbar ist, und nicht zu verkürzt. dazu werd ich noch mal recherchieren.

"Das führt, ob gewollt oder nicht zur Vorverurteilung und Einordnung von Menschen in das gesellschaftliche Wertesystem - sprich ab wann ist das Leben für die Gesellschaft nichts mehr wert und wieviel Rechte werden jedem gemäß seiner wissenschaftlich gemessenen Kategorie zugestanden."

ja. genau deshalb habe ich aber auch hinsichtlich seiner entsprechenden bemerkungen deutliche einschränkungen gemacht, sowohl was früherkennung und prophylaxe angeht, als auch eventuell nötige eingriffe in familien.

das problem, wenn real antisoziale (und das sind meistens die in "amt & würden") anfangen, mittels verkürzter definitionen und modelle nach der von ihnen so bezeichneten antisozialität zu fahnden, wird uns zukünftig noch schwer beschäftigen, fürchte ich. aber da führt kein weg drumherum. ich möchte einfach nochmal drauf hinweisen, dass sowohl frankreich als auch england entsprechende weitreichende pläne zum scanning nach antisozialen tendenzen bei kindern entweder schon sehr weit vorangetrieben haben oder aber imo schon umsetzen - siehe auch hier.

grüße
mo
Adi (Gast) - 22. Aug, 15:19

Seltsam luftleere Tendenzen

Hi mo,

das seltsam bezog sich auf die Ähnlichkeit der Argumentation zu der eines Lombroso ("Es ist bewiesen, daß die Schädelkapazität bei den Verbrechern überhaupt geringer ist, besonders bei den Dieben, weniger bei den Mördern ...") oder eines Lewis Terman ("Solche Tests haben absolut zweifelsfrei nachgewiesen, daß das wichtigste Merkmal von mindestens 25 % unserer Verbrecher Geistesschwäche ist") oder eines Yerkes ("Die Ergebnisse der Armeeüberprüfungen von Prostituierten bestätigen die bei zivilen Überprüfungen Prostituierter bereits getroffene Feststellung, daß zwischen 30 und 60% der Prostituierten geistesschwach und zum größten Teil hochgradig debil sind ...") oder oder oder ...

Gemeinsam haben diese Behauptungen in der Vermessungsdebatte (wie ich sie mal nennen werde), daß sie weder bewiesen werden konnte (reine Behauptungen, die lediglich immer wiederholt wurden) oder das die Beweise bei näherer Untersuchung wie ein Kartenhaus zusammengefallen sind. Das meinte ich mit luftleer.

Allein die Korrelation zwischen Verbrecher und Zustand des Hirns ist gefährlich. Denn ein Verbrecher ist immer nur gemäß der jeweiligen Definition der Gesellschaft ein Verbrecher (wenn wir ins frühe Mittelalter mit seinem Zinsverbot zurückgehen, und das auf heute übertragen, wäre die Mehrzahl der heute Mächtigen und Reichen Verbrecher, möglicherweise Schwerverbrecher ;). Zudem hat mich stutzig gemacht, daß jetzt die Gruppe der Schwerverbrecher und Mörder an der Reihe ist. Aus der Vermessungsdebatte sind jene nämlich am Ende meistens siegreich hervorgegangen (höheres Schädelvolumen, größerer IQ etc.). Also fiel die Stigmatisierung dieser Gruppe seit jeher etwas schwer ...

Ich stimme mit dir in den von dir gemachten Einschränkungen überein. Allerdings lehrt uns Binet, daß Einschränkungen, so sinnvoll und notwendig sie seien mögen, nur selten Bestand haben, wenn sie dem Zweck des Ganzen zuwiderlaufen - der Kategorisierung von Menschen nach gesellschaftlichen Kriterien bis hin zum lebensunwerten Leben - auf dem Hintergrund der Machterhaltung und -ausweitung der herrschenden Gruppe.

Bezüglich der Tendenz gebe ich dir völlig Recht. Auch hier in Spanien sieht es ähnlich aus. Vorgestern erst hörte ich, daß man an der Universität von Granada herausgefunden hat, welche Gene einen zum Alkoholiker machen (um es in der Sprache der Medien auszudrücken). Und man entsprechende Tests landesweit durchführen will, um entsprechend vorzusorgen. Das klingt bis dahin alles noch ganz harmlos und fast positiv (wenn man den Präventionsgedanken hochhebt).

Als dann aber der Zusammenhang mit dem Botellón erwähnt wurde, war klar in welche Richtung es geht. Mit Botellón bezeichnet man das Zusammentreffen mehrerer Jugendlicher auf der Straße und auf öffentlichen Plätzen, wo man dann seinen billig im Supermarkt gekauften Alkohol (Kneipen sind für die Jugendlichen zu teuer) gemeinsam vernichtet. Mithin eine Art gesellschaftliches Zusammensein für diejenigen, die sich Kneipen oder Aufenthaltsorte mit Verzehrzwang einfach nicht leisten können. Zudem wird nicht nur Alkohol konsumiert, sondern auch sehr viel Wasser. Ja, richtig gehört, einfaches Wasser ohne nix. Viele junge Spanier bezeichnen sich mittlerweile als "gente sana" - gesunde Leute, die weder rauchen noch saufen, aber trotzdem am Botellón ihren Spaß haben.

Der Botellón ist allerdings mittlerweile eine Staatsangelegenheit und den Behörden und Offiziellen ein Dorn im Auge (zumal man solche Versammlungen auch noch schwer kontrollieren kann - wie war das noch mit Versammlungsverboten in Krisenzeiten?). Und da käme es gerade gelegen, wenn man die Kids zu Hausarrest verdonnern könnte, wenn man ihnen genetisch eine "Anfälligkeit" für Alkoholismus nachweisen könnte.

Für mich ist das alles äußerst bedenklich und letztendlich die Weiterentwicklung der Rassenlehre und Eugenik. Man stellt nicht mehr auf die Rasse ab, sondern ganz allgemein auf die Merkmale, die der herrschenden Klasse ein Dorn im Auge ist. Genauso wie man nicht mehr zwischen Widerstandskämpfern, politischen Kämpfern etc. unterscheidet, sondern allgemein jeden Widerstand gegen ein bestehendes System als Terrorismus (das Synonym für alles Böse) bezeichnet.

Die totalitäre permissive Gesellschaft mit eingebauter Selbstzensur und präventiver Selbsttötung war noch nie so nahe wie heute. Das Erschreckende ist, das sie auch noch jeden Tag näher kommt ...

Liebe Grüße

Adi

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