somlu - 23. Aug, 08:37

"Roth: Alle Beweggründe, die aus unseren Genen, aus unserer Hirnentwicklung, aus unseren frühkindlichen Prägungen, aus unserer späteren Sozialisierung und aus der Erfahrung resultieren und in vielfältigster Form auftreten."

würde ich soweit unterscheiben, mit zwei ergänzungen: erstens sind die genetischen grundlagen des menschen in einem großen aumaß, wie heute langsam sichtbar wird, viel flexibler und sozusagen interaktiver (und zwar mit den jeweiligen sozialen bedingungen), als früher vermutet wurde - eine starre genetische determinierung gerade sozialen verhaltens lässt sich als behauptung imo nicht mehr aufrechterhalten.


Lieber Momo, ich bin beim Lesen über diese Passage gestolpert. Von wann schreibst Du? In den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ging man von keinerlei genetischer Determiniertheit aus, sondern von einer Entwicklung des Verhaltens, der massive Einfluss der Eindrücke von Geburt an, wurde als prägend gesehen. Vor allem in der Frauenbewegung, wobei dies sehr wohl ein wissenschaftliches Paradigma war. Buchtitel, wie "Wir werden nicht als Mädchen geboren, sondern dazu gemacht" stehen exemplarisch für diese Haltung. Seit Mitte der 90er Jahre wird heftig an dem neuen Biologismus gestrickt. Überall taucht die Rede von der Bestimmtheit durch die Gene auf. Inzwischen ist dieser Versuch eines Paradigmenwechsels soweit fortgetrieben worden, dass Menschen, die es mal anders erzählten, heute überzeugt die genetische Determiniertheit vertreten, wie sie "früher" die soziale Bestimmtheit vertraten. Ich persönlich stehe der Argumentation genetischer Bestimmung höchst misstrauisch gegenüber, da sie zu häufig kulturelle Defintionen von Menschsein als biologisch vorgeschrieben behauptet und, um mit Foucault zu sprechen, die strukturelle Macht über die Menschen überdeutlich zu Tage tritt. Für Menschen, die sich einigermaßen(!) reibungslos mit den bestehenden Angeboten für Identität klarkommen, merken es meist nicht, dass diese ideologisch überfrachtet sind. Vom Rand dieser Möglichkeiten, wird der Zwang und die Versuche diesen Zwang zu naturalisieren schnell deutlich. Auffällig ist, dass der kulturelle Blick (Thomas Laqueur: Auf den Leib geschrieben) auf die Körper nie angesprochen wird. Was für mich ein Indiz dafür ist, dass "jemand" etwas zu verbergen hat.
Lange Rede kurzer Sinn, dieses Einflechten der genetischen Bedingtheit, wie es Herr Roth da oben macht, ist aktuell typisch und für mich nichts als Propaganda. Welche gesellschaftlichen Gruppieren ein Interesse an dieser Sicht der Dinge haben, wäre noch zu diskutieren.

sansculotte (Gast) - 23. Aug, 11:47

weder - noch

Liebe somlu,
"In den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ging man von keinerlei genetischer Determiniertheit aus, sondern von einer Entwicklung des Verhaltens, der massive Einfluss der Eindrücke von Geburt an, wurde als prägend gesehen."
Hm, das ist nicht haltbar: "keinerlei genetische Determiniertheit" gibt es schlichtweg nicht. Bei der ungeschlechtlichen Vermehrung beträgt die "genetische Determiniertheit" sogar annähernd 100%, wenn man das Genom als Bezugsgröße nimmt. Sinn der geschlechtlichen Vermehrung ist es, diese strengste genetische Determiniertheit etwas "aufzuweichen". Und vom Genom zum Verhalten is noch ein bissi ein Sprung. Dazu näher unten.
Auch das In-Rechnung-Stellen der "massiven Eindrücke von Geburt an" ist ein wenig zu kurz gegriffen. Entweder man betrachtet den Organismus als grundsätzlich interaktionsfähig, dann muss man auch die Eindrücke vor der Geburt miteinbeziehen. Dann beginnt die Gesellschaft nicht erst mit der Geburt auf den kleinen Menschen einzuwirken. Schon der Umgang mit Schwangeren, die Rahmenbedingungen, die auf die Schwangere und ihren Fetus einwirken, Stress, Belastung, Unsicherheit, Angst - all das hat - wie wir nicht nur aus Regressionstherapie sondern mittlerweile auch aus bildgebenden Verfahren wissen - massive Einflüsse auf die Entwicklung des Kindes. Auch schwingt im Dogma "wir werden nicht als [...] geboren, sondern dazu gemacht" immer ein wenig die Vorstellung von einer ideologischen Schulung mit und das ist angesichts des psychophysischen Gesamtgeschehens, den die Ontogenese darstellt, doch ziemlich weit gefehlt.

Ich möchte zudem darauf hinweisen, dass dieses Dogma eines mE falsch verstandenen Umwelteinflusses auf den Menschen nicht nur zu emanzipatorischen Zwecken eingesetzt werden kann: auch die mE sehr repressive und leidbringende "Verführungstheorie", die Homosexualität ausschließlich mit Einflussnahme in der Entwicklung erklärt, bezieht ihre Argumentation aus der "Umwelttheorie".

Was die Beweggründe, von denen Roth sprich, angeht, präsentiert er ja das Gesamtpaket: Gene, Hirnentwicklung, frühkindliche Prägung, Sozialisierung. All das muss berücksichtigt werden und nur so kann ein angemessenes Verständnis des Verhaltens erreicht werden. Womit wir bei der Erklärung des Verhaltens "aus den Genen" wären: diese ausschließliche Position vertritt heute kaum noch jemand (außer Redakteure entsprechender Artikel in Boulevardzeitungen). "State-of-the-art" ist vielmehr die Beobachtung der Tatsache, dass Gene meist unter bestimmten Umweltbedingungen exprimiert werden, dass es für manche Gene kritische Zeitfenster der Entwicklung gibt andere wiederum ein Leben lang exprimiert werden können, wenn die Umweltparameter die Expression auslösen. Eine schöne Zusammenfassung hierzu gibt es zB bei Joachim Bauer "Das Gedächtnis des Körpers".

grüße, s
monoma - 23. Aug, 21:25

hallo in die runde,

finde ich sehr gut, das und wie sich hier die diskussion entwickelt - ein paar weitere antworten meinerseits:

@adi:

es ist keinesfalls so, dass ich deine einwände nicht nachvollziehen könnte - klar ist die definition von verbrechen strikt von der jeweiligen gesellschaftsformation abhängig. klar ist das potenzial für etliche schweinereien seitens der machthabenden gegeben (auf den aspekt bin ich hier im blog gerade am beispiel des ns besonders eingegangen). und ich bin mir auch über die unheilvolle tradition von eugenik und "rassenhygiene" (die im übrigen auch untrennbar gerade zur geschichte der psychiatrie dazugehören) durchaus im klaren.

aber ich finde nach wie vor, dass deine perspektive zu einseitig ist. kurz nochmals ein paar gründe: erstens, und hier liegt vermutlich ein versäumnis meinerseits vor, meine ich bei verbrechen hauptsächlich gewaltverbrechen, also destruktive bis tödliche aktionen gegen leben und gesundheit anderer menschen. was dagegen bspw. die sog. eigentumsdelikte, verstöße gegen das betäubungsmittelgesetz u.a. betrifft, habe ich eine fundamentalkritik an justiz und gesetzgebung. die habe ich bei den gewaltverbrechen in gewisser hinsicht auch, aber sie ist dort eine andere.

ich gehe nicht quasi automatisch davon aus, dass diese art verbrechen in einer anderen gesellschaftsordnung kein thema mehr wäre, erst recht nicht, was den bzw. notwendigen wege dorthin betrifft. ich weigere mich aber, zwischenmenschliche gewalt als eine art anthropologische konstante zu betrachten, die wir nur hinnehmen und bestenfalls repressiv eindämmen können. und gerade in dieser hinsicht werden für mich einige thesen von roth interessant, die im kern noch nicht mal neu sind, aber durch die neurowissenschaften jetzt möglicherweise eine verstärkung bekommen, die die ignoranz dem thema gegenüber schwieriger macht. wir machen unsere gewalt selbst - wenn sich das endlich, endlich mal in breiteren öffentlichen diskursen verankern würde, wäre das etwas, was imo viele neue möglichkeiten eröffnen könnte, realistische konzepte für andere gesellschaftsentwürfe nicht nur zu entwickeln und fundiert zu begründen, sondern auch umzusetzen. und in einigen bemerkungen von roth sehe ich sozusagen embryonal diese möglichkeiten aufscheinen.

das das sozusagen ein ritt auf messers schneide ist, ist mir klar. aber das muss imo riskiert werden. in diesem zusammenhang möchte ich nur auf die explizite kritik am heutigen knast- und strafsystem hinweisen, die heute so selbst von "links" nur noch vereinzelt zu vernehmen ist. dieses system ist inhuman. punkt. und das lässt sich mit den eigenarten der menschlichen struktur begründen. ich bin absolut froh, dass solche aussagen mal in den mainstream eindringen, und nicht mit "gutmenschengewäsch" und als linksradikale träumereien abgetan werden können, jedenfalls nicht so einfach.

ich finde dazu, dass sich gewaltverbrechen (dazu würde ich übrigens auch kriege rechenen) nicht ohne bezug auf hirn und nervensystem verstehen lassen. das widerspricht allem, was ich dazu weiß. und verstehen müssen wir, alleine schon aus gründen der selbsterhaltung. diese spezies kann sich gewalt im heutigen ausmaß schlicht nicht mehr erlauben, um den preis des eigenen untergangs.

nochmal: ich kann deine kritik / bedenken durchaus nachvollziehen und teile sie in vielen bereichen selbst. aber: das eine tun, ohne das andere zu lassen, fällt mir nur dazu ein.

@somlu:

du hast ein "mo" zuviel ;-) - ich hab definitv kein wuschelkopp.

und ansonsten hat sansculotte schon viel von dem geschrieben, was ich auch gesagt hätte. mir klingt ein bißchen bei dir durch, als würdest du überhaupt keine genetischen einflüsse annehmen? das würde ich stark in frage stellen wollen - und dem buchtipp von sansculotte - ist auch in der literaturliste drin - möchte ich mich anschließen. ich kenne bisher keinerlei (populärwissenschaftliche) arbeit, die rolle und funktion der gene derart sozusagen auf die füße stellt - aber darin steckt natürlich auch die forderung, sich von der vorstellung einer alleinigen prägung durch umwelt, soziale strukturen etc. zu verabschieden. es ist tatsächlich ein interaktives wechselspiel, was vielleicht am folgenden beispiel - grob skizziert - deutlicher werden könnte: eine genetische disposition für darmkrebs zb. bedeutet nicht eine unvermeidbare tumorentwicklung, sondern eine erhöhte wahrscheinlichkeit - wenn nämlich sozial bedingte trigger wie falsche ernährung, bewegungsarmut, alkohol und die ganzen mehr oder weniger bekannten risiken dazukommen. das beispiel mag banal sein, macht aber imo das "funktionsprinzip" sehr vieler menschlicher gene ganz gut deutlich.

auch grüße,
mo

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