assoziation: fortsetzungsgeschichte(n)
erinnern Sie sich noch an den hier erwähnten jungen mann, der seine identitäten wechselt(e) wie andere ihre wäsche (und damit vor allem in der sog. "high society" auf viel anklang stieß)? nun endete die geschichte vorläufig vor gericht, und einen aktuellen pressebericht über den prozeß möchte ich Ihnen nicht vorenthalten.
damals hatte ich mich aufgrund der vorliegenden informationen schon ziemlich festgelegt:
(...)"hier spricht vieles dafür, einen psychopathischen hintergrund anzunehmen: das "sichere auftreten" in unzähligen fakes bzw. "als-ob"-simulationen ist ein wesentliches indiz dafür. gleichzeitig aber macht das zielsichere bewegen des mannes in lauter kreisen, die als "gesellschaftliche eliten" angesehen werden, auch etwas anderes deutlich: nämlich erstens die anfälligkeit innerhalb dieser kreise für simulationen und fakes, was zweitens auch ein hinweis darauf sein dürfte, dass es mit authentischen menschlichen beziehungen dort nicht mehr so weit her sein dürfte bzw. beziehungssimulationen weit verbreitet sind - was das agieren von psychopathen enorm erleichtert bzw. sie am wirkungsvollsten vor der "enttarnung" schützt. der bereich der (überzeugenden) hochstapler, trickdiebe und betrüger jedenfalls darf als ein bevorzugter tummelplatz von menschen mit einer störung dieses kalibers angesehen werden."(...)
nun lässt sich diese einschätzung mit derjenigen eines psychiatrischen gutachters vergleichen:
(...)"Dabei hat sein selbstbewusstes Auftreten einst viele Menschen so überzeugt, dass sie ihm den Titel "Fürst zu Sayn-Wittgenstein zu Berleburg" ohne Fragen glaubten. Von August bis Oktober 2005 lebte er unter diesem Namen in Düsseldorf auf Pump, prellte Banken und Firmen um 100 000 Euro.
Psychiater Martin Platzek erklärte gestern diesen Widerspruch mit einer so genannten "Borderline-Persönlichkeitsstörung". Dem Angeklagten fehle eine stabile eigene Identität, er brauche Bestätigung von außen. Mit Scheinidentitäten habe er sich Anerkennung geholt. Ursachen lägen in der Kindheit, dazu komme der Missbrauch durch einen Pfarrer mit zehn Jahren.
In sein Leben als Fürst habe ihn "eine Verkettung von Ereignissen" geführt, die es ihm leicht machten: "Das konnte er nicht auslassen." Denn eigentlich quälten ihn Minderwertigkeitsgefühle. Sie hätten ihn sogar an Selbstmord denken lassen. Fazit: "Seine Steuerungsfähigkeit war eingeschränkt."(...)
und wenn Sie sich einerseits nochmals die beiträge hier zu den themen "borderline" und "als-ob-persönlichkeiten" vor augen führen und andererseits auch die tatsache berücksichtigen, dass männer mit der borderline-ps häufig auch mit dem modell der "dissozialen persönlichkeitsstörung" (deren vorläufer die klassische psychopathie war) diagnostiziert werden, dann können Sie vielleicht meinen eindruck nachvollziehen, dass ich trotz unterschiedlicher diagnostischer begriffe inhaltlich nicht so falsch gelegen habe. nein, das soll hier kein schulterklopfen meinerseits werden - ich denke, der junge mann wäre vielleicht vor zwanzig bis dreißig jahren tatsächlich auch offiziell-diagnostisch als psychopath klassifiziert worden (warum ich finde, das dieser begriff - auch aufgrund seiner historischen belastung - nur noch auf eine sehr eingeschränkte gruppe von schwer gestörten menschen angewendet werden sollte, steht grob skizziert ebenfalls im verlinkten damaligen blog-beitrag).
nun also borderline - nicht zum erstenmal taucht diese diagnose im zusammenhang mit scheinidentitäten auf. eine damals noch nicht vorliegende information stellt der (vermutlich sexualisierte) erwähnte "missbrauch durch einen pfarrer" dar. und das führt direkt in den bereich von verwirrenden fragen rund um die komplexe "borderline - als-ob/simulative identitäten - trauma/dissoziation - täter-opfer-dialektik - antisoziale persönlichkeiten". es bleiben aber selbst bei berücksichtigung der neuen informationen verschiedenste möglichkeiten offen, was hier eigentlich wirklich vorliegt - die möchte ich kurz beschreiben. auch, wenn ich selbst meine eigene meinung bereits skizziert habe:
1. traumatische erfahrungen verschiedenster art liegen vor, die - und das lässt sich heute durchaus vielfältig belegen - gerade bei erlebnissen sexualisierter gewalt von männern anders als von frauen verarbeitet werden. das hat u.a. etwas mit den geschlechterstereotypen zu tun, die bis heute noch sehr wirkungsvoll sind. "männer sind / dürfen / können keine opfer sein" z.b. (das gegenstück zu "frauen sind von natur aus opfer bzw. bereit, sich zu opfern"). dieser - ja, quatsch kann zu extremen reaktionen besonders dann führen, wenn die realität der eigenen erlebnisse mit den im eigenen inneren verankerten stereotypen völlig kollidiert. so tun sich männer i.d.r. bis heute mit der vorstellung sehr schwer, zum opfer gemacht / geworden zu sein. wozu eben auch die allgemeine soziale / gesellschaftliche reaktion beiträgt, nach der es irgendwie ungehörig - oder einfacher: "unmännlich" - ist, wenn (sich) ein mann derart empfindet. mit diesem problem schlagen sich v.a. therapeutInnen herum, die mit männlichen überlebenden sexualisierter gewalt arbeiten - denn gerade im sexuellen bereich widersprechen so ziemlich alle klischees der vorstellung, dass männer ausgerechnet hier zum opfer werden könnten. dazu kommt noch ein nicht zu unterschätzender anteil homophobie - "bin ich deshalb opfer geworden, weil ich vielleicht schwul bin?" oder "werde ich jetzt dadurch schwul?" das mag irrational klingen, ist aber - wenn Sie sich die gesellschaftlichen realitäten vor augen halten - eigentlich durchaus nachvollziehbar, gerade wenn die betroffenen männer / jungen in "klassischer" art sozialisiert worden sind.
an reaktionen können von betroffenen männern / jungen darauf folgen: erstens eine sehr demonstrative und rigide orientierung am klassisch-patriarchalen macho-ideal - hart, härter, am härtesten. das lässt sich als eine sehr weitgehende und starke form von verdrängung / abspaltung einerseits mit einhergehender kompensation andererseits verstehen. das die "macho-identität" bis heute in grundlegenden teilen immer noch gesellschaftlich akzeptiert, gefördert und auch bewundert wird, lässt sie für männer mit einer traumatischen biographie zu einem (zu) einfachen (schein-)ausweg werden. bei solchen männern ist dann sehr oft das zu beobachten, was ich hier als täter-opfer-dialektik begreife: sie werden, gerade beim versuch, der realen opfererfahrung zu entkommen, selbst zu tätern - und zwar auch häufig zu gewalttätern.
eine andere art der reaktion erinnert mehr an das, was die meisten menschen - wenn sie sich überhaupt mit derlei beschäftigen - spontan mit den begriffen "trauma" und "opfer" assoziieren: rückzug, isolation, sprachlosigkeit und vielfach anscheinend "rein" körperliche - und "unerklärliche" - symptome. auch das ist etwas, was gerade betroffenen männern - die sich vielfach und mehrheitlich immer noch als anscheinend "ohne psyche" begreifen - durch mächtige und stark verankerte gesellschaftliche zuschreibungen bzw. zumutungen eher als "ausweg" akzeptabel - und akzeptiert - scheint als die offensive auseinandersetzung mit dem eigenen leid und schmerz. das es diesbezgl seit ca. zwanzig jahren auch andere tendenzen - imo positivere - zu beobachten gibt, ändert leider nichts an der bis auf weiteres vorhandenen realität der skizzierten reaktionen (es gibt natürlich noch etliche andere, v.a. auch "mischformen" - aber die obigen zwei scheinen mir die vorherrschenden zu sein).
beurteilen Sie selbst, ob das gerade beschriebene - in welcher variation auch immer - im fraglichen fall hier vorliegt.
2. eine andere möglichkeit: geht es hier vielleicht, gerade weil die fake-identitäten als so überzeugend empfunden worden sind, um eine unerkannte dissoziative ("multiple") persönlichkeit? traumata, besonders in ihren drastischen formen, können diese reaktion nach sich ziehen - die aufspaltung / fragmentierung in "teilpersönlichkeiten", die durchaus ein teils deutlich ausgeprägtes eigenleben führen können und auch den körper gewissermaßen zeitweise "übernehmen". dagegen spricht eigentlich alles, was bisher über die geschichte des mannes bekannt ist: bei dissoziierten menschen sind fast immer verschiedene "kinder" aktiv (durchaus neben "erwachsenen"), die sich auch meistens ausdruck verschaffen. dazu fehlt das element bewusster kontrolle über die verschiedenen teile. und alleine aus diesen beiden punkten halte ich die variante für sehr unwahrscheinlich (mal ganz abgesehen davon, dass ein psychiatrischer gutachter eine derartige persönlichkeit eigentlich erkennen sollte - aber Sie wissen ja, wie das mit dem wörtchen "eigentlich" so ist...)
trotzdem: selbst bei der annahme, dass dissoziative zustände im weitesten sinne hier vermutlich auch beteiligt waren, bleibe ich bei meiner meinung: dissoziative ps = unwahrscheinlich.
3. eine "als-ob-persönlichkeit" also? mal abgesehen davon, dass es eine "offizielle" diagnose mit diesem namen nicht gibt (auch, wenn der begriff tatsächlich schon in forensischen gutachten aufgetaucht ist), hat vermutlich nicht nur mich etliches an das modell von helene deutsch erinnert. ganz abgesehen von j. erik mertz, der ja in seinem modell die borderline-ps in ihrer blanden form als quasi der als-ob-persönlichkeit gleich beschreibt.
dagegen würden hier, zumindest auf den ersten blick, die konstatierten minderwertigkeitsgefühle sprechen. aber tun sie das eigentlich wirklich? wenn Sie sich an die in den entsprechenden beiträgen beschriebenen, geradezu chamäleonartigen fähigkeiten von als-ob-personen erinnern, sich so ziemlich jeder situation anpassen zu können und dabei auch völlig überzeugend zu wirken - was spräche dann gegen die möglichkeit, dass sich der mann beim prozeß nicht ebenfalls perfekt der identität eines reuigen opfers bedient hätte? ich weiß, dass das nur eine spekulation ist (und eine gar nicht nette dazu) - aber ausschließen kann ich diese variante keinesfalls. das würde im übrigen auch bedeuten, dass der gutachter überzeugend getäuscht wurde - aber wäre auch das so abwegig, wenn Sie sich nochmals durchlesen, in welchen identitäten der mann agiert hat? als falscher adliger, falscher arzt, falscher polizist...und er muss dabei durchaus überzeugend gewirkt haben.
4. mit der borderline-diagnose bewegt sich imo besonders der gutachter auf einigermaßem sicherem terrain, einfach deshalb, weil diese diagnose sehr interpretationsfähig ist. ich wüßte einmal gerne, auf welche der nötigen punkte aus den offiziellen klassifikation icd und dsm er diese diagnose stützt - denn neben der - zugegebenermaßen sehr auffälligen - identitätsstörung kann ich zumindest keinerlei weitere der "klassischen" bl-symptome erkennen. kennt bzw. akzeptiert der gutachter das modell der "blanden" borderline-ps (welches nicht nur von mertz, sondern bspw. auch von christa rohde-dachser als möglichkeit skizziert wurde)? was für eine vorstellung hat er von borderline? solche fragen müssen hier offen bleiben, und darum auch die tendenz, die seine diagnose möglicherweise besitzt - oder auch nicht, wenn er sich strikt an das "offizielle" modell gehalten hat.
5. und aus dem gleichen problem des fehlenden wissens über die weltsicht des gutachters kann ich auch nichts über seine stellung zu den diagnosen der dissozialen ps und dem ganzen begriff der psychopathie generell sagen, die hier ebenfalls als bezugspunkte hätten dienen können - warum ich das finde, sollte eigentlich soweit nachvollziehbar sein. traumatische kindheitserfahrungen sprechen übrigens nicht grundsätzlich gegen diese möglichkeit.
meine persönliches fazit ist das, dass eigentlich nur weitere informationen über den background des gutachters - wie begreift er diagnosen, was hält er von den aktuellen modellen etc. - weiterhelfen würden. besonders aber wäre hier vielleicht eine gründliche neurophysiologische untersuchung angebracht gewesen, die imo zumindest die frage: "soziopathische persönlichkeit oder nicht?" hätte beantworten können. vielleicht.dazu wäre eine präzisierung der kindheitserfahrungen nötig, eigentlich auch eine gründliche analyse der pränatalen phase bei diesem mann - was dann unausweichlich auch die mutter miteinbezogen hätte.
*
Sie sehen schon, das ich leicht unzufrieden bin. ich finde, das diese geschichte wieder einmal mehrere probleme aufzeigt: einmal die fließenden grenzen zwischen diversen zentralen psychiatrischen diagnosenmodellen, die darauf hindeuten, dass die sich dahinter verbergenden phänomene immer noch in wesentlichen bereichen nicht ausreichend verstanden worden sind (was übrigens nicht bedeuten soll, dass ich behaupte, ich hätte sie verstanden - ich arbeite hier mit verschiedenen alternativmodellen, um auch für mich selbst ein größeres verständnis - im besten fall - zu erreichen). dazu finde ich, dass die diagnosenstellung ganz dringend um neurophysiologische und pränatale aspekte erweitert gehört, in diesem rahmen auch um eine analyse der familiären strukturen. es würde sehr wahrscheinlich einfach das bild um ganz entscheidende aspekte erweitern, was wiederum eine größere sicherheit bei der diagnostik zur folge haben müsste.
vielleicht, oder sogar wahrscheinlich, hat der psychiatrische gutachter auch eine "konventionelle" neurologische untersuchung durchgeführt, um bestimmte, als primär organisch begriffene störungen auszuschließen. das er sich auch um eine analyse der pränatalen entwicklung bemüht hat, wage ich allerdings zu bezweifeln.
klingt alles anmaßend oder gar arrogant meinerseits? mag sein - aber das sind nun mal die fragen, die mir dazu in den kopf kommen.
*
und eine frage auch als letztes: ich wundere mich sehr, dass die kontakte des jungen mannes zur sog. politischen klasse zumindest für die zeitung überhaupt kein thema waren. und ich frage mich, ob sich das auch beim prozeß so verhalten hat. die gründe dafür würden mich dann doch ebenfalls sehr interessieren.
damals hatte ich mich aufgrund der vorliegenden informationen schon ziemlich festgelegt:
(...)"hier spricht vieles dafür, einen psychopathischen hintergrund anzunehmen: das "sichere auftreten" in unzähligen fakes bzw. "als-ob"-simulationen ist ein wesentliches indiz dafür. gleichzeitig aber macht das zielsichere bewegen des mannes in lauter kreisen, die als "gesellschaftliche eliten" angesehen werden, auch etwas anderes deutlich: nämlich erstens die anfälligkeit innerhalb dieser kreise für simulationen und fakes, was zweitens auch ein hinweis darauf sein dürfte, dass es mit authentischen menschlichen beziehungen dort nicht mehr so weit her sein dürfte bzw. beziehungssimulationen weit verbreitet sind - was das agieren von psychopathen enorm erleichtert bzw. sie am wirkungsvollsten vor der "enttarnung" schützt. der bereich der (überzeugenden) hochstapler, trickdiebe und betrüger jedenfalls darf als ein bevorzugter tummelplatz von menschen mit einer störung dieses kalibers angesehen werden."(...)
nun lässt sich diese einschätzung mit derjenigen eines psychiatrischen gutachters vergleichen:
(...)"Dabei hat sein selbstbewusstes Auftreten einst viele Menschen so überzeugt, dass sie ihm den Titel "Fürst zu Sayn-Wittgenstein zu Berleburg" ohne Fragen glaubten. Von August bis Oktober 2005 lebte er unter diesem Namen in Düsseldorf auf Pump, prellte Banken und Firmen um 100 000 Euro.
Psychiater Martin Platzek erklärte gestern diesen Widerspruch mit einer so genannten "Borderline-Persönlichkeitsstörung". Dem Angeklagten fehle eine stabile eigene Identität, er brauche Bestätigung von außen. Mit Scheinidentitäten habe er sich Anerkennung geholt. Ursachen lägen in der Kindheit, dazu komme der Missbrauch durch einen Pfarrer mit zehn Jahren.
In sein Leben als Fürst habe ihn "eine Verkettung von Ereignissen" geführt, die es ihm leicht machten: "Das konnte er nicht auslassen." Denn eigentlich quälten ihn Minderwertigkeitsgefühle. Sie hätten ihn sogar an Selbstmord denken lassen. Fazit: "Seine Steuerungsfähigkeit war eingeschränkt."(...)
und wenn Sie sich einerseits nochmals die beiträge hier zu den themen "borderline" und "als-ob-persönlichkeiten" vor augen führen und andererseits auch die tatsache berücksichtigen, dass männer mit der borderline-ps häufig auch mit dem modell der "dissozialen persönlichkeitsstörung" (deren vorläufer die klassische psychopathie war) diagnostiziert werden, dann können Sie vielleicht meinen eindruck nachvollziehen, dass ich trotz unterschiedlicher diagnostischer begriffe inhaltlich nicht so falsch gelegen habe. nein, das soll hier kein schulterklopfen meinerseits werden - ich denke, der junge mann wäre vielleicht vor zwanzig bis dreißig jahren tatsächlich auch offiziell-diagnostisch als psychopath klassifiziert worden (warum ich finde, das dieser begriff - auch aufgrund seiner historischen belastung - nur noch auf eine sehr eingeschränkte gruppe von schwer gestörten menschen angewendet werden sollte, steht grob skizziert ebenfalls im verlinkten damaligen blog-beitrag).
nun also borderline - nicht zum erstenmal taucht diese diagnose im zusammenhang mit scheinidentitäten auf. eine damals noch nicht vorliegende information stellt der (vermutlich sexualisierte) erwähnte "missbrauch durch einen pfarrer" dar. und das führt direkt in den bereich von verwirrenden fragen rund um die komplexe "borderline - als-ob/simulative identitäten - trauma/dissoziation - täter-opfer-dialektik - antisoziale persönlichkeiten". es bleiben aber selbst bei berücksichtigung der neuen informationen verschiedenste möglichkeiten offen, was hier eigentlich wirklich vorliegt - die möchte ich kurz beschreiben. auch, wenn ich selbst meine eigene meinung bereits skizziert habe:
1. traumatische erfahrungen verschiedenster art liegen vor, die - und das lässt sich heute durchaus vielfältig belegen - gerade bei erlebnissen sexualisierter gewalt von männern anders als von frauen verarbeitet werden. das hat u.a. etwas mit den geschlechterstereotypen zu tun, die bis heute noch sehr wirkungsvoll sind. "männer sind / dürfen / können keine opfer sein" z.b. (das gegenstück zu "frauen sind von natur aus opfer bzw. bereit, sich zu opfern"). dieser - ja, quatsch kann zu extremen reaktionen besonders dann führen, wenn die realität der eigenen erlebnisse mit den im eigenen inneren verankerten stereotypen völlig kollidiert. so tun sich männer i.d.r. bis heute mit der vorstellung sehr schwer, zum opfer gemacht / geworden zu sein. wozu eben auch die allgemeine soziale / gesellschaftliche reaktion beiträgt, nach der es irgendwie ungehörig - oder einfacher: "unmännlich" - ist, wenn (sich) ein mann derart empfindet. mit diesem problem schlagen sich v.a. therapeutInnen herum, die mit männlichen überlebenden sexualisierter gewalt arbeiten - denn gerade im sexuellen bereich widersprechen so ziemlich alle klischees der vorstellung, dass männer ausgerechnet hier zum opfer werden könnten. dazu kommt noch ein nicht zu unterschätzender anteil homophobie - "bin ich deshalb opfer geworden, weil ich vielleicht schwul bin?" oder "werde ich jetzt dadurch schwul?" das mag irrational klingen, ist aber - wenn Sie sich die gesellschaftlichen realitäten vor augen halten - eigentlich durchaus nachvollziehbar, gerade wenn die betroffenen männer / jungen in "klassischer" art sozialisiert worden sind.
an reaktionen können von betroffenen männern / jungen darauf folgen: erstens eine sehr demonstrative und rigide orientierung am klassisch-patriarchalen macho-ideal - hart, härter, am härtesten. das lässt sich als eine sehr weitgehende und starke form von verdrängung / abspaltung einerseits mit einhergehender kompensation andererseits verstehen. das die "macho-identität" bis heute in grundlegenden teilen immer noch gesellschaftlich akzeptiert, gefördert und auch bewundert wird, lässt sie für männer mit einer traumatischen biographie zu einem (zu) einfachen (schein-)ausweg werden. bei solchen männern ist dann sehr oft das zu beobachten, was ich hier als täter-opfer-dialektik begreife: sie werden, gerade beim versuch, der realen opfererfahrung zu entkommen, selbst zu tätern - und zwar auch häufig zu gewalttätern.
eine andere art der reaktion erinnert mehr an das, was die meisten menschen - wenn sie sich überhaupt mit derlei beschäftigen - spontan mit den begriffen "trauma" und "opfer" assoziieren: rückzug, isolation, sprachlosigkeit und vielfach anscheinend "rein" körperliche - und "unerklärliche" - symptome. auch das ist etwas, was gerade betroffenen männern - die sich vielfach und mehrheitlich immer noch als anscheinend "ohne psyche" begreifen - durch mächtige und stark verankerte gesellschaftliche zuschreibungen bzw. zumutungen eher als "ausweg" akzeptabel - und akzeptiert - scheint als die offensive auseinandersetzung mit dem eigenen leid und schmerz. das es diesbezgl seit ca. zwanzig jahren auch andere tendenzen - imo positivere - zu beobachten gibt, ändert leider nichts an der bis auf weiteres vorhandenen realität der skizzierten reaktionen (es gibt natürlich noch etliche andere, v.a. auch "mischformen" - aber die obigen zwei scheinen mir die vorherrschenden zu sein).
beurteilen Sie selbst, ob das gerade beschriebene - in welcher variation auch immer - im fraglichen fall hier vorliegt.
2. eine andere möglichkeit: geht es hier vielleicht, gerade weil die fake-identitäten als so überzeugend empfunden worden sind, um eine unerkannte dissoziative ("multiple") persönlichkeit? traumata, besonders in ihren drastischen formen, können diese reaktion nach sich ziehen - die aufspaltung / fragmentierung in "teilpersönlichkeiten", die durchaus ein teils deutlich ausgeprägtes eigenleben führen können und auch den körper gewissermaßen zeitweise "übernehmen". dagegen spricht eigentlich alles, was bisher über die geschichte des mannes bekannt ist: bei dissoziierten menschen sind fast immer verschiedene "kinder" aktiv (durchaus neben "erwachsenen"), die sich auch meistens ausdruck verschaffen. dazu fehlt das element bewusster kontrolle über die verschiedenen teile. und alleine aus diesen beiden punkten halte ich die variante für sehr unwahrscheinlich (mal ganz abgesehen davon, dass ein psychiatrischer gutachter eine derartige persönlichkeit eigentlich erkennen sollte - aber Sie wissen ja, wie das mit dem wörtchen "eigentlich" so ist...)
trotzdem: selbst bei der annahme, dass dissoziative zustände im weitesten sinne hier vermutlich auch beteiligt waren, bleibe ich bei meiner meinung: dissoziative ps = unwahrscheinlich.
3. eine "als-ob-persönlichkeit" also? mal abgesehen davon, dass es eine "offizielle" diagnose mit diesem namen nicht gibt (auch, wenn der begriff tatsächlich schon in forensischen gutachten aufgetaucht ist), hat vermutlich nicht nur mich etliches an das modell von helene deutsch erinnert. ganz abgesehen von j. erik mertz, der ja in seinem modell die borderline-ps in ihrer blanden form als quasi der als-ob-persönlichkeit gleich beschreibt.
dagegen würden hier, zumindest auf den ersten blick, die konstatierten minderwertigkeitsgefühle sprechen. aber tun sie das eigentlich wirklich? wenn Sie sich an die in den entsprechenden beiträgen beschriebenen, geradezu chamäleonartigen fähigkeiten von als-ob-personen erinnern, sich so ziemlich jeder situation anpassen zu können und dabei auch völlig überzeugend zu wirken - was spräche dann gegen die möglichkeit, dass sich der mann beim prozeß nicht ebenfalls perfekt der identität eines reuigen opfers bedient hätte? ich weiß, dass das nur eine spekulation ist (und eine gar nicht nette dazu) - aber ausschließen kann ich diese variante keinesfalls. das würde im übrigen auch bedeuten, dass der gutachter überzeugend getäuscht wurde - aber wäre auch das so abwegig, wenn Sie sich nochmals durchlesen, in welchen identitäten der mann agiert hat? als falscher adliger, falscher arzt, falscher polizist...und er muss dabei durchaus überzeugend gewirkt haben.
4. mit der borderline-diagnose bewegt sich imo besonders der gutachter auf einigermaßem sicherem terrain, einfach deshalb, weil diese diagnose sehr interpretationsfähig ist. ich wüßte einmal gerne, auf welche der nötigen punkte aus den offiziellen klassifikation icd und dsm er diese diagnose stützt - denn neben der - zugegebenermaßen sehr auffälligen - identitätsstörung kann ich zumindest keinerlei weitere der "klassischen" bl-symptome erkennen. kennt bzw. akzeptiert der gutachter das modell der "blanden" borderline-ps (welches nicht nur von mertz, sondern bspw. auch von christa rohde-dachser als möglichkeit skizziert wurde)? was für eine vorstellung hat er von borderline? solche fragen müssen hier offen bleiben, und darum auch die tendenz, die seine diagnose möglicherweise besitzt - oder auch nicht, wenn er sich strikt an das "offizielle" modell gehalten hat.
5. und aus dem gleichen problem des fehlenden wissens über die weltsicht des gutachters kann ich auch nichts über seine stellung zu den diagnosen der dissozialen ps und dem ganzen begriff der psychopathie generell sagen, die hier ebenfalls als bezugspunkte hätten dienen können - warum ich das finde, sollte eigentlich soweit nachvollziehbar sein. traumatische kindheitserfahrungen sprechen übrigens nicht grundsätzlich gegen diese möglichkeit.
meine persönliches fazit ist das, dass eigentlich nur weitere informationen über den background des gutachters - wie begreift er diagnosen, was hält er von den aktuellen modellen etc. - weiterhelfen würden. besonders aber wäre hier vielleicht eine gründliche neurophysiologische untersuchung angebracht gewesen, die imo zumindest die frage: "soziopathische persönlichkeit oder nicht?" hätte beantworten können. vielleicht.dazu wäre eine präzisierung der kindheitserfahrungen nötig, eigentlich auch eine gründliche analyse der pränatalen phase bei diesem mann - was dann unausweichlich auch die mutter miteinbezogen hätte.
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Sie sehen schon, das ich leicht unzufrieden bin. ich finde, das diese geschichte wieder einmal mehrere probleme aufzeigt: einmal die fließenden grenzen zwischen diversen zentralen psychiatrischen diagnosenmodellen, die darauf hindeuten, dass die sich dahinter verbergenden phänomene immer noch in wesentlichen bereichen nicht ausreichend verstanden worden sind (was übrigens nicht bedeuten soll, dass ich behaupte, ich hätte sie verstanden - ich arbeite hier mit verschiedenen alternativmodellen, um auch für mich selbst ein größeres verständnis - im besten fall - zu erreichen). dazu finde ich, dass die diagnosenstellung ganz dringend um neurophysiologische und pränatale aspekte erweitert gehört, in diesem rahmen auch um eine analyse der familiären strukturen. es würde sehr wahrscheinlich einfach das bild um ganz entscheidende aspekte erweitern, was wiederum eine größere sicherheit bei der diagnostik zur folge haben müsste.
vielleicht, oder sogar wahrscheinlich, hat der psychiatrische gutachter auch eine "konventionelle" neurologische untersuchung durchgeführt, um bestimmte, als primär organisch begriffene störungen auszuschließen. das er sich auch um eine analyse der pränatalen entwicklung bemüht hat, wage ich allerdings zu bezweifeln.
klingt alles anmaßend oder gar arrogant meinerseits? mag sein - aber das sind nun mal die fragen, die mir dazu in den kopf kommen.
*
und eine frage auch als letztes: ich wundere mich sehr, dass die kontakte des jungen mannes zur sog. politischen klasse zumindest für die zeitung überhaupt kein thema waren. und ich frage mich, ob sich das auch beim prozeß so verhalten hat. die gründe dafür würden mich dann doch ebenfalls sehr interessieren.
monoma - 23. Aug, 20:19
ein weiterer bericht...
Zeitungsberichte
@w-day:
thx für den link, auch wenn er leider inzwischen "tot" zu sein scheint. was da drin stand, hat bei mir sofort assoziationen zu den sog. initiationsriten in dieversen anderen männerbünden ausgelöst - diese rituale sind es generell wert, sich näher mit ihnen zu beschäftigen - weiß bloß noch nicht wann *ächz*