archenoe - 27. Nov, 23:12

Mörderische virtuelle Welten

Vorab:
Eine produktive Auseinandersetzung, die den Leser in seinen eigenen Gedanken voranbringen kann. Danke! (Ich stimme fast allem zu.)

Kritik im eigentlichen Sinne möchte ich nicht formulieren, weil ich keine habe. Ich möchte aber doch zwei Ergänzungen wagen, die möglicherweise die Perspektive ein wenig verschieben könnten.

1. Das Normale ist das Kranke - und zwar nicht im alten fast scherzhaften Sinne, "die Verrückten" seien "die Normalen" und "die Normalen" die eigentlich Verrückten, sondern in dem Sinne, dass psychische oder psycho-physische Krankheit eine "Radikalisierung" der Normalität im Sinne von Normiertem darstellt und damit unter gegebenen Fetisch- und Verdinglichungsbedingungen den massenhaft existenten "objektivistischen Wahrnehmungsmodus" bis zur Selbstzerstörung und/oder Zerstörung anderer Menschenobjekte zuspitzt. Der Abstand zwischen den "Kranken" und den "Gesunden" ist minimal bzgl. des Lebensprozesses, die Folgen freilich können fundamental sein. Die "Gesunden" können sich mit dem "kranken Täter" in solchen Zusammenhängen leichter beschäftigen, weil sie ihn als Projektionsfläche zur Angstabwehr hinsichtlich eigener selbstzerstörerischer oder mörderischer Phantasien nutzen oder als Objekt funktionalisieren können, an dem sie den angeblich riesigen Unterschied zwischen sich und den anderen "normal Gesunden" und "dem anormal Kranken" verdeutlichen wollen - in Wahrheit selbstverständlich halluzinieren müssen. Diese Überlegung bringt mich immer wieder dazu, die brutalen Schläger, die Folterer, die "Amokläufer" usw. als "funktionstüchtige Elite", also letztlich als diejenigen zu betrachten, welche die herrschenden BewusstSeinsstrukturen bis zur letzten Konsequenz bringen.

2. Zitat: "vielleicht mögen sich nun gerade diejenigen unter Ihnen, die mit solchen spielen nichts im sinn haben, in ihrer ablehnung bestätigt fühlen - aber ich möchte abschließend nochmal die zwei für mich entscheidenden punkte hervorheben: genauso wenig, wie bspw. ein naziparteitagsfilm von leni riefenstahl niemanden zum nazi machen kann, der/die nicht schon entsprechende dispositionen besitzt, kann eine virtuelle spielwelt jemanden zum amok bringen. der zusammenbruch der wahrnehmungsfähigkeiten, welche die grenzen zwischen virtuell und real unsicher werden lassen, hat mit solchen spielen imo nichts zu tun. sie können einen fortschreitenden prozess der de-realisierung (als dissoziatives phänomen) möglicherweise verstärken - aber nicht auslösen.und vor diesem hintergrund sollte der aktionismus "verbietet die killerspiele!", der uns gegenwärtig mal wieder als hauptmaßnahme gegen taten wie in emsdetten präsentiert wird, als das verstanden werden, was er imo tatsächlich ist: schein- und ablenkungsdebatten innerhalb gesellschaftlicher kreise, die ihre köpfe gegenüber der selbst produzierten realität größtenteils weiter tief im sand stecken haben."

Ich möchte die Aufmerksamkeit in diesem Zusammenhang erst einmal auf andere Fragen richten: Warum gab es einen Riefenstahl-Film dieser Art? Warum erzeugt er bei vielen heute noch ästhetisches Wohlbefinden? Warum konnte Rammstein im Videoclip "Stripped" eine lange Passage dieses Films mit Erfolg zeigen? Warum ist ein erheblicher Teil der "virtuellen" Spielewelt gewaltdurchtränkt? Warum besteht ein hoher Prozentsatz der Filmproduktionen (nicht nur Splatterfilme) aus Gewaltdarstellungen? Warum kommt ein offensichtlich intelligenter und sensibler Blogbetreiber wie unser verehrter monoma bei diesem Thema nicht ganz aus fragwürdigen Rechtfertigungsversuchen heraus? Warum behauptet er, dass Prozesse der "De-Realisierung" durch Killerspiele nicht ausgelöst werden können, obwohl er diesen Spielen gerade noch Verstärkungscharakter zugesprochen hat (wenn auch nur möglicherweise, also ganz schwach)? Wahrscheinlich wäre "verursachen" das passende Wort gewesen, denn Killerspiele können auf jeden Fall Killertaten auslösen, nicht allerdings verursachen.

Eine Antwort auf diese Fragen kann ich nur fragmentarisch versuchen.
Von nicht entscheidender, aber doch begleitender Bedeutung scheint die Tatsache zu sein, dass es in der Geschichte der Menschheit noch nie solche Menschenmassen gegeben hat, die in ihrem konkreten Alltag so wenig unmittelbar physische Gewalt erlebt haben (vor allem in den "entwickelten kapitalistischen Staaten"). Insofern können vom Märchen bis zu CS Gewaltdarstellungen als Angstverarbeitung und vielleicht auch als Aggressionsabbau fungieren. Allerdings ist die aktive Handlung in der virtuellen Gewaltwelt doch ein anderer Vorgang als das Zuhören oder Zuschauen.

Aus dem gleichen Umstand heraus aber (weitgehende Abwesenheit von physischer Gewalt - trotz Vergewaltigungen, Kindesmissbrauch usw. sollte man das erst einmal gesamtgesellschaftlich für die kapitalistischen Metropolenstaaten konstatieren) kann möglicherweise ein gewichtigeres Argument vorgebracht werden. Die Gewaltdiskussion ist bei jedem Vorfall bisher noch deshalb so heftig, weil die gewaltförmige Organisation des sozialdarwinistischen Kapitalismus wesentlich dadurch funktioniert, dass die unmittelbar physische Gewalt in einem Grad monopolisiert ist (beim Staat bzw. letztlich beim Kapital), wie sie es bis ins späte 19. Jahrhundert nicht war. D.h. Unterdrückung, Ausbeutung, Einteilung in Bestimmer/Befehlsgeber und Bestimmte/Gehorsame, in Arm und Reich usw. wird kapitalistisch mit einem "systemischen Gebrauchswertversprechen" durchgesetzt. Neben der Beteiligung aller am Reichtum der Gesellschaft und der sogenannten zivilisierten Lebensweise ist es v.a. die physische Sicherheit und Unversehrtheit, die als ideelle Rechte die soziale Ungleichheit erträglich machen sollen. Nun stellt sich aber nach einer "gemütlichen Zwischenphase" zunehmend heraus, dass im Kapitalismus zwar ungeheurer Reichtum produziert werden kann, dieser aber mitnichten auf Dauer einigermaßen erträglich verteilt werden kann. D.h. die Abwesenheit unmittelbar physischer Gewalt wird durch die Existenz sozial-struktureller Gewalt "erkauft" - und diese Gewalt wird immer spürbarer, für immer mehr Menschen. Die eine Seite des "systemischen Gebrauchswertsversprechens" (= angeblicher Gebrauchswert des demokratischen Kapitalismus für alle) bricht also sukzessive in sich zusammen und entlarvt sich als das, was sie schon immer war: ideell und nicht materiell. Da nun aber alle im "objektivistischen Wahrnehmungsmodus" mehr oder weniger geübt sind, liegt es nahe, dass diejenigen, die besonders auf diese Gebrauchswertversprechen angewiesen sind, also materielle Perspektiven sowie Zuwendung (Zivilisation) benötigen, all dies aber kaum noch erhalten, exakt das am weitgehendsten und immer noch (prinzipiell) gesicherte Gebrauchswertversprechen, nämlich die physische Unversehrtheit außer Kraft setzen, indem sie sich selbst oder andere (und sich selbst) final physisch vernichten. Sie greifen "das System" und die dieses repräsentierende Menschen dort an, wo sie es können. Und sie können es nur dort. Deshalb kommen ja die Täter auch aus allen abhängigen sozialen Schichten - im Jugendalter selbstverständlich auch aus unabhängigen "Herrscherschichten" (Auflehnung gegen den Herrschervater). Deshalb sind für jugendliche "Amokläufer" ja auch Schulen bevorzugte Tatorte (ihr Erfahrungsraum), hingegen für Erwachsene Autostraßen, große Plätze, Kaufhäuser usw.
Anders formuliert: Die "kranken Täter" können sich nur auf der Ebene der physischen Gewalt "objektivieren", um sich im Akt der Mordtat subjektiv (scheinhaft) zu spüren. Diejenigen "kranken Täter", denen andere Mittel zu Verfügung stehen, weil sie in der Ungleichheitsskala oben stehen, wenden selten persönlich physische Gewalt an. Sie können ihre Verzweiflung, ihren Hass, ihren "objektivistischen Wahrnehmungsmodus" in raffinierteren Gewaltformen ausleben.

Unter diesen Voraussetzungen sind "Killerspiele" Ausdruck des sich zunehmend selbstentlarvenden Sozialdarwinismus (er oder ich) und eine durchaus nicht zu verniedlichende Einübungsmaschinerie. Interessant ist ja auch in diesem Zusammenhang, dass die Gewaltdarstellungen (übrigens auch die Pornographie, aber das ist ein anderes Thema, wenn auch nicht nur) ziemlich zeitgleich mit dem allmählichen Niedergang der "gemütlichen Phase" des Kapitalismus (70er Jahre ff) schrittweise drastischer wurden.

Ich betrachte diese fragmentarischen Überlegungen bewusst als Ergänzung zu dem hervorragenden Beitrag "Amok neuen Typs".

LGA

monoma - 28. Nov, 19:57

gerade in kürze:

zum ersten punkt hätte ich aktuell eigentlich nur anzumerken, dass du bei der "funktionstüchtigen elite" eine wichtige spezies vergessen hast, die aber nichtsdestotrotz für allergrößtes unheil verantwortlich ist: die bürokraten/technokraten, die sich als schreibtischtäter meist nicht die hände selbst schmutzig machen, aber ohne deren verbrechensmanagement die geschichte sehr, sehr anders aussehen würde. ich halte diesen typus in diverser hinsicht für den gefährlichsten - vielleicht kann es ein vergleich zwischen der sa und der ss deutlich machen: kriminell-terroristisch und gemeingefährlich alle beide - aber die sa ist nicht zuletzt auch deswegen 1934 faktisch entmachtet worden, weil sie funktional auf ein bestimmtes und sehr - hm, handfestes ausagieren des terrors festgelegt war. wortwörtliche totschläger, die aber nicht die fähigkeiten der - auch intellektuellen und planenden - in ganz anderen dimensionen denkenden nazielite der ss besaß. ein schlichter vergleich zwischen den kz unter sa-regie und den massenmordfabriken der ss macht das deutlich (und klar: ich will hier die ersteren keinesfalls verharmlosen und relativieren - für die opfer war beides genauso tödlich).

der zweite punkt hingegen - hui, da werde ich mehr zeit brauchen, als ich heute und die nächsten tage habe. wenn ich mich bis zum wochenende nicht geäussert habe, nöl ruhig rum ;-)

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