notiz: lieblose realität vs. "fest der liebe" 4:0 (spiel läuft noch)

unfestliches eins: aus den augen, aus dem sinn - oder was eine justizsenatorin unter "problemlösung" versteht:

(...) "Die neue Justizsenatorin Gisela von der Aue will die Öffentlichkeit nicht mehr über Selbsttötungen in den Gefängnissen unterrichten. Nach Informationen des Tagesspiegels hat von der Aue angewiesen, Selbstmorde nicht mehr zu melden. Die Entscheidung sei in der letzten Woche gefallen, nachdem sich in Moabit erneut ein Untersuchungshäftling das Leben genommen hat. Dass der 37 Jahre alte Siam B. sich mit seinem Bettlaken erhängte, sollte die Öffentlichkeit nicht mehr erfahren. Es war die zehnte Selbsttötung in diesem Jahr – so viele hat es seit 1987 nicht mehr in Berlin gegeben." (...)

natürlich nur aus einem hehren motiv heraus:

(...) "Die Sprecherin der Senatorin, Juliane Baer-Henney, begründete die Anweisung so: Die Persönlichkeitsrechte eines Gefangenen und seiner Familie seien höher zu bewerten als das Interesse der Öffentlichkeit. Dem widersprach Andreas Gram, der Vorsitzende des Rechtsausschusses, gestern vehement. „Das Informationsbedürfnis des Parlamentes ist höher zu bewerten“, urteilte Gram. „So soll wohl verhindert werden rauszufinden, was in den Gefängnissen los ist“, kritisierte der CDU-Politiker – also zum Beispiel Drangsalierungen durch andere Gefangene oder schlechte Haftbedingungen."

"wenn wir schon todesfälle nicht verhindern können (bzw. wollen), so schützen wir dann doch wenigstens das persönlichkeitsrecht" - ich fürchte, die vertreterInnen der sog. politischen klasse meinen ihren zynismus völlig ehrlich. und sollte uns ein hauch von wahrheit aus cdu-mund selbst dann tröstlich stimmen, wenn er erkennbar aus sog. parteipolitischen überlegungen heraus motiviert ist?

dazu auch ein lesenswerter kommentar.

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unfestliches zwei aus mexico: mörderische gewalt gegen frauen ist zwar nicht nur dort eine realität, hat aber in einigen regionen unglaubliche ausmaße erreicht:

(...) Jede Woche verschwindet in Ciudad Juárez mindestens eine Frau, und es wird nie wieder etwas von ihr gehört, es sei denn, ihre Entführer entscheiden sich dafür, ihren leblosen und offensichtlich brutal gefolterten und ermordeten, wüst vergewaltigten und manchmal verstümmelten, manchmal verbrannten Körper verschwinden zu lassen. Weder die Verzweiflung und Angst der Familien, mit der Unsicherheit leben zu müssen, ob ihre Töchter, die das Haus verlassen, auch zurückkehren werden, noch die fast 300 Morde und über 600 Vermissten lösen die Bereitwilligkeit aus, diese Taten unter Kontrolle zu bekommen. (...)

Die mexikanische Journalistin und Feministin Mariana Berlanga treibt derzeit eine Untersuchung über die Frauenemorde in Ciudad Juárez und deren Verbindung mit den Institutionen und den Produnktionsgepflogenheiten der Maquilas ( Billiglohnfabriken ) der Region voran. Sie ist Aktivistin im Bereich der Aufklärung der Morde und im Kampf gegen die Straflosigkeit in Juárez, insbesondere was die Gewaltakte die dort gegen/an Frauen verübt werden anbetrifft.(...)

Marina: In México, wie in anderen verschiedenen Ländern Lateinamerikas und der Welt, war die Gewalt gegen Frauen, einschliesslich der Morde, immer charakteristisch. Aber seit 13 Jahren überrascht uns eine neue Form dieser Gewalt, nämlich dass Frauen nicht nur einfach aus irgendeinem Grund ermordet werden, sondern dass es ein gemeinsames Muster gibt. Das heisst, es werden immer wieder an öffentlichen Orten die Körper toter Frauen aufgefunden, die Zeichen von Folter, sexueller Gewalt und Verstümmelungen aufweisen. Diese Art von Fällen überrascht uns seit 13 Jahren, obwohl die Gewalt gegen Frauen schon vorher strukturiert und systematisch gewesen ist. Vor 13 Jahren ist damit begonnen worde, die Fälle zu zählen und publik zu machen, was keine Rechtfertigung dafür ist, dass seit 13 Jahren solche Dinge geschehen.

Es werden Frauen getötet, die sehr spezifische Kennzeichen besitzen und nicht irgendwelche, jedenfalls nicht in dieser Weise. Die Ermordeten sind immer von brauner Hautfarbe, haben indigene Züge und sind zierlich. Bis vor Kurzem handelte es sich noch um jungendliche Frauen; inzwischen müssen wir sagen, dass Kinder davon betroffen sind, Mädchen im Alter von sechs, fünf bis zu drei Jahren! (...)


lesen Sie´s!

*

unfestliches drei: gibt es eigentlich auch nur einen nachvollziehbaren grund dafür, warum dieser gesellschaft all der selbstproduzierte wahnsinn nicht auch an einem 24. dezember auf die füße fallen sollte? eben:

(...) "Die Großeltern hatten der Polizei einen Hinweis gegeben. Die Beamten fanden den Jungen tot in der Wohnung seiner Eltern. Die 29-jährige Mutter, eine arbeitlose Verkäuferin, sei wegen des Verdachts auf Totschlag festgenommen worden, sagte eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft. Eine Obduktion ergab Anzeichen für einen gewaltsamen Tod des Jungen.

Über die genauen Todesumstände teilte die Staatsanwaltschaft zunächst nichts mit. Die Ermittlungen ergaben bisher, dass sich die Eltern des Kindes an Heiligabend gestritten hatten. In seiner Wut habe der 30-jährige Vater die Wohnung verlassen und sei zu seinen Eltern gegangen. Danach sei zunächst der Vater in die Wohnung zurückgekehrt, später auch dessen Eltern. Diese hätten dann um Mitternacht die Polizei darüber informiert, dass ihr Enkelkind tot sei." (...)


ist Ihnen - neben der trostlosen wiederholung, mit der solche meldungen fast im wochentakt auftauchen - auch das attribut arbeitslos bei der bezeichnung der wahrscheinlichen täterin aufgefallen? genau so werden ressentiments produziert.

*

unfestliches vier: falls Sie wiedereinmal bei Ihren geschenken innerlich aufgestöhnt haben und die frage eines umtauschs auf dem tisch liegt - nun, hier gibt´s einen buchtipp:

(...) Brigitte Schwaiger, "Fallen lassen", Czernin Verlag 2006, ISBN 9783707600827

(...) "Schizophrenie, Depression, Borderline-Syndrom - die zyklisch wechselnden Diagnosen der Ärzte sind ein Spiegelbild der prinzipiellen Unkommunizierbarkeit ihrer Leidenszustände und gleichzeitig der gesellschaftlichen Unsicherheit im Umgang mit seelisch Erkrankten. Darüber lässt sich trefflich entspannt räsonieren, doch hier ist das Opfer eine allem Ungemach zum Trotze disziplinierte Schriftstellerin, die uns voll Zorn mit den ihr verbliebenen schriftstellerischen Mitteln - und dazu zählt die Gabe der klaren, präzisen Beobachtung - erzählt, wie man als Betroffene lebt.

Ihr bewusst schlicht gehaltener Bericht gibt uns keine Darstellung eines gigantischen Fantasmas, wie die legendären "Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken" des Senatsrates Schreber, der Freud zu seiner Theorie der Paranoia angeregt hat; er ist auch kein Versuch, den eigenen Wahn, der zur Tötung der Gattin geführt hat, intellektuell zu meistern, wie ihn der französische Philosoph Althusser unternommen hat. Brigitte Schwaiger hat ein unprätentiöses, aber unter die Haut gehendes Protokoll des Lebens in drei Höllen verfasst - ihrer inneren Hölle, der des sozialen Umfelds und schließlich der der institutionellen Verwaltung von so genannten Geisteskrankheiten in Wien.

Wie lebt man mit einer Antriebslosigkeit, die einen in die Verwahrlosung treibt, wie lebt man mit Panikattacken, die einen zu Hause festhalten? Wie meistert man den Spagat, dass man einerseits "Beziehungen aufrechterhalten" soll und sich gleichzeitig seinen Mitmenschen nicht mehr verständlich machen kann, zur Körperpflege außerstande ist und am Ende nur mehr "nervt", so dass die Besucher ausbleiben? Und schließlich: Wie lebt man in jener absoluten Hölle, in der diese Krankheiten verwaltet werden, im psychiatrischen Krankenhaus der Gemeinde Wien auf der Baumgartner Höhe? Der Name Steinhof ist verpönt, man soll jetzt Otto-Wagner-Spital sagen." (...)


ob das wirklich nur als "öffentliche schande" begriffen werden soll? schließlich ist hier, ebenso wie in den weiter oben beschriebenen beispielen, zum wiederholten mal die logik der verdinglichung zu besichtigen - und in dieser logik geht es hier auch noch um weitgehend nutzlose dinge:

(...) "Da leben Männer und Frauen, Depressive und Aggressive, Schizophrene, Paranoiker und Heroinsüchtige auf engem Raum, junge und alte, Angehörige verschiedener Nationalitäten in einer Situation, die immer wieder - so Schwaiger - "Missverständnisse und Streit, sogar Androhung von Gewalt und Gewalttätigkeit" produziert.

Die Vorstellung, dass sich eine Insassin des Steinhofs damit tröstet, dass Juden in Konzentrationslagern mehr hätten leiden müssen ist unerträglich - jener Steinhof, den Brigitte Schwaiger schildert, ist eine öffentliche Schande." (...)


- sprach die empörte bürgerlichkeit (und wandte sich dann wahrscheinlich wieder ihren ach so wichtigen geschäften zu). wie wäre es denn, mal die floskel "unerträglich" als wahrnehmung real zuzulassen? das könnte dann nämlich tatsächlich veränderungspotenziale freisetzen.

*

wir lesen uns hier vermutlich spätestens in der ersten januarwoche wieder - dann wird´s auch mit der traumareihe losgehen. und ich wünsche allen leserInnen, das Sie die tage, welche den schönen ausdruck "zwischen den jahren" tragen, wirklich einmal zur besinnung nutzen können.

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