notiz: jahresendlesestoff

tja, da bin ich dann doch schneller wieder hier, als ich dachte - aber aus guten gründen, wie ich finde. es gibt ein paar mediale produktionen, die durchaus erwähnenswert sind - weil sie zum nachdenken anregen.

*

passend zum jahresende gibt es unter dem titel Ein Jahr voller Schandtaten einen taz-kommentar, der alleine deshalb auffällig ist, weil er der allgegenwärtigen tendenz zur zynischen schönfärberei und gleichgültigen verdrängung deutlich entgegenläuft - deshalb hier (fast) in voller länge, mit einigen anmerkungen:

(...) 1. Im Dezember publizierten die Vereinten Nationen einen Bericht, laut dem 2 Prozent der Menschen vermögender sind als die Hälfte der Menschheit!

Das Missverhältnis ist zwar keineswegs neu, aber die Tendenz geht rasant in Richtung größerer Ungleichheit. Im globalen Maßstab wie auch in Deutschland. Man muss kein Ökonom sein, um zu erkennen, dass etwas Gravierendes nicht stimmt, wenn "Gürtel enger schnallen" bewirkt, dass punktuell das Fett überquillt."


was bedeutet die aussage im ersten satz konkret?

zunächst einmal haben die ominösen "zwei prozent" durchaus gesichter, namen und adresse: die absolute spitze dieser absoluten minderheit dürfte sich zu einem großen teil im sog. forbes-ranking wiederfinden, jener alljährlichen liste der vierhundert reichsten us-amerikaner:

"Auf der Forbes-Liste der 400 reichsten US-Bürger haben sich in diesem Jahr erstmals nur Dollar-Milliardäre platziert – zusammen besitzen sie 1,25 Billionen." (...)

(und das ausgerechnet ein asperger-autist dieses ranking anführt, darf und sollte vielleicht als mehr denn eine ironische fußnote betrachtet werden.)

für deutschland ist ein derartiges ranking aufgrund der notorischen öffentlichkeitsscheu der hiesigen geldelite schwerer zu erstellen - nichtsdestotrotz ist auch hier einiges bekannt.

diese klüngel und clans haben also zusammen und teils auch einzeln jeweils ein vermögen zur verfügung, dessen dimensionen die verfügbaren haushaltsmittel sehr vieler staaten (die sich übrigens in fast allen fällen bereitwillig für die durchsetzung der interessen der elitären minderheit selbst mittels offener gewalt zur verfügung stellen) locker in den schatten stellt - und ein vermögen, welches sich quasi minütlich in noch in unbekannten größen vermehrt - zu welchen und auf wessen kosten?

"So lebt fast die Hälfte der sechs Milliarden Menschen auf der Erde von weniger als 2 $ pro Tag und 1, 2 Milliarden von weniger als 1 $ pro Tag.

Dazu hat sich der Abstand zwischen den reichsten 20 % der Weltbevölkerung und den ärmsten 20 % in den vergangenen 40 Jahren verdoppelt. Das Vermögen der drei reichsten Milliardäre der Welt übertrifft das Bruttonationalprodukt der 48 ärmsten Entwicklungsländer und deren 600 Millionen Einwohner."


um es ganz konkret zu machen: von dieser extremen schere buchstäblich enthauptet werden erstens kinder, hier bevorzugt mädchen; zweitens frauen. für die - jeweils meist auf schätzungen beruhenden und vermutlich die gesamte jämmerliche realität nicht insgesamt abbildenden - statistischen zahlen recherchieren Sie zb. bei unicef. für deutschland schauen Sie auf den link zur kinderarmut in der liste rechts

die als "indirekte" bezeichneten folgen müssen nach "entwickelten" und unentwickelten regionen aufgeteilt werden und sind kaum zu in ihrer gesamtheit und verwobenheit zu beschreiben - armut lässt sich plausibel in zusammenhang bringen mit:

psychosozialer verelendung, innerfamiliärer gewalt, drogenabusus, armutsinduzierter kriminalität (und folgender drehung der staatlichen repressionsschraube, was dann auch ein ausuferndes knastsystem nach sich zieht, über dessen zustände in diesem land hier in den letzten tagen einiges zu lesen war ), umweltzerstörung, bildung von banden- und mafiastrukturen (die, so wie es ausschaut, von den "eliten" funktionalisiert und genutzt werden - antisoziale mitglieder der unterklassen werden als "rekruten" instrumentalisiert), gesteigertes risiko von (bürger-)kriegen (incl. florierender rüstungsindustrie), fluchtbewegungen planetaren ausmaßes (die tausenden toten zb. an den eu-außengrenzen im süden gehören ebenfalls zu den armutsfolgen), verstärkte und grausamer werdende konkurrenzverhältnisse bei armutsbedrohung (in unseren breiten ist zb. mobbing ein symptom dieser entwicklung) usw. usw.

und nein, man muß wirklich kein ökonom sein (das scheint sogar bei der realitätswahrnehmung eher ein hindernis darzustellen), um solche zustände nicht nur zum schreien, sondern als krieg zu empfinden.

2. Am 30. Oktober veröffentlichte der ehemalige Weltbank-Chefökonom Nicholas Stern einen Bericht über die globale Erwärmung, der nicht nur, wie alle Untersuchungen und Projektionen zu diesem Thema davor, geradezu apokalyptisch klingt, sondern auch einer breiteren Öffentlichkeit auseinandersetzt, dass Umweltschutz langfristig erheblich wirtschaftlicher ist als Umweltverschmutzung.

Wenn wir national und international handeln, können wir die Konzentration der Treibhausgaskonzentration auf unter 550 ppm (parts per million) halten, womit die schlimmsten Folgen vermieden wären. Zum ersten Mal hat ein Ökonom aus dem Establishment die Kosten für unser Überleben beziffert: 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Da die Militärausgaben diese Summe bei weitem übersteigen, gibt die Menschheit weit mehr für Zerstörung als für Erhaltung aus. Und das nennt sich Realpolitik!


eine ganz gute zusammenfassung der zunehmenden wetteranomalien ist aktuell hier zu lesen. (und das sich die sog. "realpolitik" - ein inzwischen krampfauslösendes unwort - seltsamerweise meistens auf zerstörerische wirkungen aller art konzentriert, ist etwas, was sich u.a. mit etwas wissen um die dynamiken und folgen traumatischer sozialer prozesse begreifen lässt. denn fakt ist dabei auch: wir alle - mit ein paar ganz wenigen ausnahmen - dulden dieses treiben mindestens. und die motivationen dafür sind dringend zu verstehen).

3. 2006 hat gezeigt, wie fragil und beschädigbar unsere westliche Demokratie ist. Früher hätten wir das, was wir gegenwärtig erfahren, "Gegenrevolution" genannt. Auf allen Ebenen werden Errungenschaften eingeschränkt oder abgeschafft, auf die wir stolz sein konnten.

In Großbritannien, dem Mutterland der modernen Demokratie, sollte das juristische Rückgrat der Menschenrechte, das Habeas-Corpus-Recht, abgeschafft werden, und es blieb ironischerweise dem einst konservativen Oberhaus überlassen, den schändlichen Gesetzesentwurf abzuschwächen. In den Vereinigten Staaten unterschrieb Präsident Bush am 17. Oktober ein Gesetz, das Folter und Entführung legalisiert, und widerrief somit einen zentralen Teil der "Bill of Rights" und natürlich auch das Habeas-Corpus-Recht.

Das Gesetz gewährt der Exekutive das außergewöhnlich weitreichende Recht, jeden Menschen auf der Welt als "ungesetzlichen feindlichen Kämpfer" zu bezeichnen und ihn somit zu entrechten. Die CIA darf jeden von uns entführen, in "geheime Gefängnisse" überstellen und foltern. Die derart geernteten "Beweise" sind vor "militärischen Gerichtskommissionen" zugelassen.

Wie das funktioniert (damals allerdings noch "illegal"), haben mehrere deutsche Staatsbürger schmerzhaft erfahren müssen, ohne - auch das gehört zu den Schandtaten dieses Jahres - ausreichend von der eigenen Regierung geschützt worden zu sein. Die Macht der Gesetzlosigkeit, bekannt aus Absolutismus und Faschismus, macht sich breit. Freiheit und Gerechtigkeit sind in ein Koma gefallen, aus dem sie nur eine weitreichende Therapie wieder zum Leben erwecken kann.


suchen Sie einfach mal mit den keywords "folter" und "knast" hier im blog - und Sie werden das obige illustrieren können.

4. Irak ist offensichtlich eine Katastrophe - obwohl wir uns kein profundes Bild davon machen können, denn westliche Journalisten können kaum mehr aus der Grünen Zone in der Hauptstadt Bagdad heraus. Vielleicht schafft in dieser Hinsicht der englischsprachige Nachrichtensender von al-Jazeera ein wenig Abhilfe. Doch für wen?
Mehr als eine halbe Million Iraker sind an den Folgen der Invasion gestorben, lauter unglückliche Opfer im Kampf für die Demokratie. Für manch andere aber ist Irak eine Bonanza sondergleichen. Für Firmen wie Halliburton und Bechtel, die gewaltige Aufträge abgesahnt haben, die höchst virtuell abgerechnet wurden.

Und auch für all jene, denen es gelungen ist, sich an der systematischen Ausplünderung des Iraks zu beteiligen. Laut Schätzungen sind etwa 20 Milliarden Dollar "verschwunden". Egal, wann die Amerikaner und ihre Verbündeten das Land wieder freigeben: Ein substanzieller Teil des irakischen Reichtums hat seine "exit strategy" schon gefunden.


zwei weitere aspekte (nicht nur) zum "kampf gegen den islamistischen terror:" eins und zwei.

5. Die angesehene britische Journalistin Isabel Hilton, Redakteurin von opendemocracy.com , eines der weltweit besten politischen Infosites, antwortete neulich auf die Frage nach dem typischen Charakteristikum unserer Epoche mit der "Lüge".

Tatsächlich ist auffällig, wie unverhohlen die führenden Staatsmänner der Welt (Wladimir Putin, George W. Bush und Tony Blair mögen als Hauptakteure ausreichen) samt ihrer gesamten Equipage lügen und Lügen gestraft werden, und trotzdem keine Konsequenzen ziehen und nicht gezwungen werden, Konsequenzen zu ziehen. Paraphrasiert gesagt: Es gab schlimmere Zeiten, selten aber heuchlerische.


simulationen im sozialen leben - zu denen die lüge "an sich" deutlich gehört - sind ja ein thematischer evergreen in diesem blog. zur untermalung des obigen empfehle ich nochmals dieses hier. übrigens bezweifle ich, dass die oben genannten ihre lügen auch als lügen empfinden.

selten genug, dass ich etwas in unseren zeitungen bedingungslos unterschreiben würde - jetzt folgt ein solch rarer moment:

(...) Wenn wir also in diesen Tagen zum Nachdenken finden und zum Erhoffen ins Neue Jahr hinein, dann wäre es schön, wenn wir nicht aufhörten, uns eine bessere Welt vorzustellen, gerade in Zeiten, in denen ein zynisches Achselzucken als profundes Weltverständnis verkleidet wird. Eine Welt ohne Ausgrenzung von Anderen, ohne Waffenproduktion, ohne imperiales Gangstertum, ohne die Diktatur des Internationalen Währungsfonds und ohne eine Wirtschaftsweise, die die Mehrheit der Menschen zu einer unwürdigen Existenz verdammt, während sie unser aller Zukunft raubt.

Es wäre schön, wenn wir träumen könnten, gegen die verächtlichenden Rufe der Pragmatiker, die Missstände allein kraft ihrer Existenz beglaubigen, während sie den Visionen jegliche Vernunft absprechen. Auch wenn 2006 ein Jahr der Rückschritte war, wir leben in interessanten Zeiten, und das heißt auch, dass wir an Kreuzungen stehen. Und dass es von uns allen abhängt, in welche Richtung es weitergehen wird.


vielleicht geben Sie der obligatorischen silvesterfeier ja auch einen ganz neuen drive, wenn Sie als einstieg einfach den obigen kommentar laut in der runde verlesen?

*

auf der gleichen seite der taz, von der der gerade vorgestellte kommentar stammt, findet sich auch eine rubrik zur pressedokumentation, deren heutiger inhalt unfreiwillig (?) weitere aufschlüsse über die desolate verfassung der westlichen gesellschaften bietet:

(...) "SPD-Chef Kurt Beck fühlte sich vom struppigen Frank provoziert und forderte ihn zum Haareschneiden heraus. Das war ein Appell an das Arbeitsethos, das zu den Grundlagen westlicher Gesellschaftsordnung gehört: spontan, humorvoll und angebracht."

das "arbeitsethos", welches hier von einem der führenden kapitalistischen propagandablättchen beschworen wird, lässt sich erstens in seiner konzentriertesten form in drei berühmt-berüchtigten worten fassen: arbeit macht frei. und wer zweitens das verächtliche und ressentimentgeladene geschwätz des k. beck als "humorvoll" bezeichnet, dürfte sich mitsamt seinem humor in dieser gesellschaft ganz wohlfühlen.

folgenden unsinn aus der "washington post" möchte ich hingegen inhaltlich nicht weiter kommentieren:

"In den meisten reichen Ländern der Welt hat die Ungleichheit im vergangenen Vierteljahrhundert zugenommen. Sicher ist es nicht möglich, sie vollständig zu beseitigen, dies wäre auch gar nicht wünschenswert: Ungleiche Entlohnung motiviert Menschen."(...)

aber schauen Sie doch noch mal in das weiter oben verlinkte "forbes-ranking" - an zweiter stelle steht dort erneut

"...Investor und Chef von Berkshire Hathaway, Warren Buffett, mit 46 Milliarden Dollar. Berkshire Hathaway hält unter anderem Anteile an Coca-Cola, Gillette und der Tageszeitung „Washington Post“.

manchmal ist die realität tatsächlich nur eins: unsäglich platt.

*

so, und da es ja hier schon ausgiebig um das treiben der sog. "eliten" ging, folgt jetzt zum abschluß ein langer und interessanter ausflug an den starnberger see, für den Sie sich ruhig die zeit nehmen sollten (das war jetzt übrigens ein musterexemplar eines durchaus ungewollten wortspiels).

nur eine kleine textprobe, die zudem auch etliches über menschliche widersprüchlichkeiten und abgründe deutlich macht:

(...) »Ich sage Ihnen was über Starnberg. Wollen Sie eine ehrliche Antwort?« Bitte. »Eine Bombe sollte man da reinwerfen, eine Bombe.« Rudolf Zirngibl ist in Starnberg aufgewachsen, im Kreisrat sitzt er für die CSU, seit 22 Jahren ist er Unternehmer, und er behauptet von sich, dass er in Abgründe gucken könne. »Es ist so widerlich.« Am Ende stünden die Reichen vor ihm und sagten: »Für meine Frau die billigste Kiste. In aller Stille, schnell weg.« (...)

ja. es ist so widerlich.
Wednesday - 27. Dez, 18:01

Daily Terror

1. zu Starnberg: ja, widerlich. Zum Wegrennen und nie wieder stehenbleiben.

2. Es gibt einen neuen X-mas-Horror-Film; seltsam, daß Menschen so gerne Horrorfilme sehen, und ihn sich dann auch noch zu Weihnachten reinziehen - als gäb es nicht genug Horror, nur halt "woanderst". Zum Beispiel um die Ecke. Oder übers Meer geschaut.

3. Das Laden des Blogs dauert immer eine halbe Ewigkeit! Waaah! ;-)

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