Endlich komme ich dazu, ein paar Zeilen zu den allgemein, aber auch für mich speziell sehr interessanten Ausführungen von Dir zu schreiben.
Erst einmal möchte ich einige Fragen/Überlegungen zu den historischen Zusammenhängen der Entstehung von Traumatisierungen "der 2. Generation" anreißen und danach Vermutungen über den historischen Kontext der Diagnose "vegetative Dystonie" anstellen.
1.
- Ich sehe Probleme bei der Altersbestimmung der so genannten zweiten Generation - entwicklungspsychologisch wie auch politisch-historisch. Ich neige dazu, zur zweiten Generation auch diejenigen zu zählen, die etwa im 1. WK oder kurz danach geboren wurden. Ein 1921 geborener Mensch wäre bei Beginn des 2. Wk nach heutiger Vorstellung bereits ein wenn auch noch sehr junger Erwachsener. Ich bezweifle, dass das eine zutreffende Einschätzung ist. Die damals später einsetzende Pubertät, die deutlich geringeren Lebenserfahrungsmöglichkeiten im Vergleich zu heute, die für viele Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene noch deutlich stärker auf den engeren Familienkreis bezogene Lebenspraxis (vor allem für Mädchen und junge Frauen) u.Ä. lassen mich von einer "jugendlichen Wahrnehmungsweise" ausgehen, die sich deutlich bis in ein Alter über 20 J. hinzog. Deshalb gehe ich davon aus, dass zur zweiten Generation etwa die ab 1918 Geborenen gehören.
- Die Auflistung der Erlebnisinhalte und -wahrnehmungen müsste meines Erachtens nach folgenden Zeitabschnitten differenziert werden: 1918-1929/30 (Abschaffung der Monarchie, aber Fortleben "preußischer Tugenden", bürgerliche Demokratie, aber nicht auf dem Niveau älterer Demokratien); 1929/30-1933 (Weltwirtschaftskrise, Verschärfung der Massenarbeitslosigkeit, Auflösung der Demokratie, extrem starke Wiederbelebung des nie verschwundenen Nationalismus); 1933-1939 (die "gute Hitlerzeit"); 1939-1942 ("der Sieg"); 1942-1945 (Die Niederlage/der Zusammenbruch); 1945-1949/50 (Trümmerlandschaft, Hunger, nochmals verschärfter Rückzug auf Familie und nahestehende Menschen, radikale Entpolitisierung). Welche Auswirkungen eine solche Differenzierung auf die Betrachtung hätte, ist mir auch noch nicht ganz klar. Ich halte sie aber - wenn auch hier nur fragmentarisch angedeutet - für notwendig.
- Die Auflistung der Erlebnisinhalte, die Du lieferst, ist beeindruckend. Und doch beschleicht mich der Verdacht, dass sie zu unspezifisch ist. "Vegetative Dystonie" war die Standarddiagnose bei meiner Mutter, aber zahlreiche der aufgeführten Erlebnisebenen haben nach meiner Kenntnis überhaupt keine Rolle gespielt, andere extrem verschärft und weitere müssten hinzugefügt werden (z.B. Trost und innerer Zwang durch religiöses Bekenntnis - weit verbreitet; Fremdheit gegenseitig, weil nicht nur die ehemaligen Kriegsgefangenen stark verändert waren; eine Riesenmenge an Beziehungsdramen während des Krieges und nach dem Krieg entgegen der noch stark existierenden Moralvorstellungen bzgl. Ehe; extreme Benachteiligung der Frauen, die aber für wenige Jahre außerordentlich bedeutsam für den Wiederaufbau waren und dann ruckartig nicht mehr; Selbstzweifel der nicht zu unterschätzenden Menge an Menschen, die keine Nazis und auch keine Mitläufer waren, aber dennoch nichts gegen den Horror/Terror getan haben usw.).
2.
Meine Vermutungen bzgl. der "vegetativen Dystonie" sind folgende:
- viel mehr Frauen als Männer wurden mit dieser Diagnose "belegt"
- die zahlreichen Absichten der Diagnose waren: a) Aufrechterhaltung der ärztlichen Reputation, weil ja eigentlich nichts gefunden wurde (wie viele niedergelassene Ärztinnen mag es in den 50er/60er/70er Jahren gegeben haben? Sehr wenige!); b) Förderung des Medikamentenverbrauchs, v.a. Beruhigungsmittel (Valium, Nobrium, Librium); c) Trost für die Betroffenen - ist nicht so schlim, kein Krebs, kein Herzinfarktrisiko usw. ist "nur" vegetative Dystonie und keine Hypochondrie; d) Verschleierung gravierender psychischer Krankheiten; e) Schaffung eines unendlichen Feldes zur häufigen Anwendung von Diagnoseverfahren/Maschinen; f) Tabuisierung möglicher Ursachen auf der Grundlage kollektiver Verdrängung.
- in den 50er-70er Jahren wurden aber auch insgesamt Krankheiten in ihrer Entstehung nicht weit zurückverfolgt (außer bei rein körperlichen Schädigungen wie Steinstaublunge o.Ä.)
Familienerfahrungen
Erst einmal möchte ich einige Fragen/Überlegungen zu den historischen Zusammenhängen der Entstehung von Traumatisierungen "der 2. Generation" anreißen und danach Vermutungen über den historischen Kontext der Diagnose "vegetative Dystonie" anstellen.
1.
- Ich sehe Probleme bei der Altersbestimmung der so genannten zweiten Generation - entwicklungspsychologisch wie auch politisch-historisch. Ich neige dazu, zur zweiten Generation auch diejenigen zu zählen, die etwa im 1. WK oder kurz danach geboren wurden. Ein 1921 geborener Mensch wäre bei Beginn des 2. Wk nach heutiger Vorstellung bereits ein wenn auch noch sehr junger Erwachsener. Ich bezweifle, dass das eine zutreffende Einschätzung ist. Die damals später einsetzende Pubertät, die deutlich geringeren Lebenserfahrungsmöglichkeiten im Vergleich zu heute, die für viele Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene noch deutlich stärker auf den engeren Familienkreis bezogene Lebenspraxis (vor allem für Mädchen und junge Frauen) u.Ä. lassen mich von einer "jugendlichen Wahrnehmungsweise" ausgehen, die sich deutlich bis in ein Alter über 20 J. hinzog. Deshalb gehe ich davon aus, dass zur zweiten Generation etwa die ab 1918 Geborenen gehören.
- Die Auflistung der Erlebnisinhalte und -wahrnehmungen müsste meines Erachtens nach folgenden Zeitabschnitten differenziert werden: 1918-1929/30 (Abschaffung der Monarchie, aber Fortleben "preußischer Tugenden", bürgerliche Demokratie, aber nicht auf dem Niveau älterer Demokratien); 1929/30-1933 (Weltwirtschaftskrise, Verschärfung der Massenarbeitslosigkeit, Auflösung der Demokratie, extrem starke Wiederbelebung des nie verschwundenen Nationalismus); 1933-1939 (die "gute Hitlerzeit"); 1939-1942 ("der Sieg"); 1942-1945 (Die Niederlage/der Zusammenbruch); 1945-1949/50 (Trümmerlandschaft, Hunger, nochmals verschärfter Rückzug auf Familie und nahestehende Menschen, radikale Entpolitisierung). Welche Auswirkungen eine solche Differenzierung auf die Betrachtung hätte, ist mir auch noch nicht ganz klar. Ich halte sie aber - wenn auch hier nur fragmentarisch angedeutet - für notwendig.
- Die Auflistung der Erlebnisinhalte, die Du lieferst, ist beeindruckend. Und doch beschleicht mich der Verdacht, dass sie zu unspezifisch ist. "Vegetative Dystonie" war die Standarddiagnose bei meiner Mutter, aber zahlreiche der aufgeführten Erlebnisebenen haben nach meiner Kenntnis überhaupt keine Rolle gespielt, andere extrem verschärft und weitere müssten hinzugefügt werden (z.B. Trost und innerer Zwang durch religiöses Bekenntnis - weit verbreitet; Fremdheit gegenseitig, weil nicht nur die ehemaligen Kriegsgefangenen stark verändert waren; eine Riesenmenge an Beziehungsdramen während des Krieges und nach dem Krieg entgegen der noch stark existierenden Moralvorstellungen bzgl. Ehe; extreme Benachteiligung der Frauen, die aber für wenige Jahre außerordentlich bedeutsam für den Wiederaufbau waren und dann ruckartig nicht mehr; Selbstzweifel der nicht zu unterschätzenden Menge an Menschen, die keine Nazis und auch keine Mitläufer waren, aber dennoch nichts gegen den Horror/Terror getan haben usw.).
2.
Meine Vermutungen bzgl. der "vegetativen Dystonie" sind folgende:
- viel mehr Frauen als Männer wurden mit dieser Diagnose "belegt"
- die zahlreichen Absichten der Diagnose waren: a) Aufrechterhaltung der ärztlichen Reputation, weil ja eigentlich nichts gefunden wurde (wie viele niedergelassene Ärztinnen mag es in den 50er/60er/70er Jahren gegeben haben? Sehr wenige!); b) Förderung des Medikamentenverbrauchs, v.a. Beruhigungsmittel (Valium, Nobrium, Librium); c) Trost für die Betroffenen - ist nicht so schlim, kein Krebs, kein Herzinfarktrisiko usw. ist "nur" vegetative Dystonie und keine Hypochondrie; d) Verschleierung gravierender psychischer Krankheiten; e) Schaffung eines unendlichen Feldes zur häufigen Anwendung von Diagnoseverfahren/Maschinen; f) Tabuisierung möglicher Ursachen auf der Grundlage kollektiver Verdrängung.
- in den 50er-70er Jahren wurden aber auch insgesamt Krankheiten in ihrer Entstehung nicht weit zurückverfolgt (außer bei rein körperlichen Schädigungen wie Steinstaublunge o.Ä.)
Leider keine Zeit mehr, später mehr
Gruß
archenoe