Ubue - 14. Mär, 05:51

Weitergedacht

Hallo Monoma, hier noch ein weiterer Nachkommentar. Ich sehe aus dem laufenden Blog, daß derweil auch andere, interessante Themen vorangehen.

Der Mertz-Gedankenfaden ist vermutlich außer uns gar nicht vielen so vertraut. Das macht es verständlich, wenn die Diskussion zu diesem Punkt nicht so füllig ist.

Habe mir nun u.a. auch mal den Pollmann-Aufsatz durch den Kopf gehen lassen, den Du oben verlinkt hast und den ich auch schon ergoogelt hatte. Es ist interessant, wenn mal ein Soziologe die Mertz-Thesen zum Ausgang eigener Überlegungen nimmt.

Mir widerfährt aber im Moment was ganz anderes: Im Reflex auf die zwischengefilterten Mertz-Gedanken wächst mein eigener Abstand zu dessen gr0ßflächigen Thesen. Ich frage mich, ob Mertz nicht doch Lichtjahre von einem wirklichen Zugang zu Borderline-Personen entfernt geblieben ist.

Wenn ihm das persönlich so gegangen ist, kann er natürlich behaupten, aus seiner subjektiven Sicht dann auch völlig zutreffend, dieser Zugang sei nicht wirklich gegeben, und Borderliner seien per se total kontaktgestört. Ich bezweifele auch gar nicht, daß Mertz häufig diese Erfahrung gemacht haben dürfte!

Ein Minuspunkt für ihn ist dabei sozusagen seine eigene Rolle als Psychotherapeut. Verfolgt man die Situation näher, gibt es zahlreiche Anzeichen dafür, daß Borderliner auf Therapeuten sehr mißtrauisch und argwöhnisch reagieren. Mertz beschreibt es ja auch selber, sie wittern ständig die Gefahr, daß der Therapeut das Regime übernhemen will und die Deutungshoheit sichern will.

In der 1:1-Form der Psychotherapie, in von außen nicht durchschaubarer Privataudienz im Einzelzimmer, ist das alles noch viel verständlicher. Diese Situation transportiert ja sogar etwas dem Mißbrauch sehr ähnliches, "Dunkles in die Kommunikationsweise.

Schon durch seine Rollenposition wird Mertz also auch manches versperrt geblieben sein. Das Thema beginnt wahrscheinlich da wirklich spannend zu werden, wo es zu einem Aufsuchen der authentischen und erfahrungsbasierten Inhalte in einem Borderline-Leben geht - also genau da, wo Mertz die Grenze setzt und mit strikter Thesenform kapituliert hat.

Ich habe es letztens schon angedeutet, die authentischen Potentiale gehen meiner Meinung nach stark auf die einschießenden Spannungen der Borderline-Person und überhaupt auf ihr immer im Alarmmodus befindliches, mißtrauisches Lebenssystem. Das ist aber nicht eingebildet, nicht gespielt, nicht nachgemacht, sondern eigen und vollauthentisch.

Dann findet sich, wie Mertz ja auch sagt, oft, erstaunlich oft, Mißbrauch in den Biographien von Borderlinern. Ist dieser nun erdacht? Oder ist er "nur" eine Funktion des ohnehin schon irgendwie verkorksten Borderline-Milieus? Nein, das würde ich so nicht sagen, der Mißbrauch ist doch offenbar knallharte Realität in zahllosen Borderline-Biographien. Also hat man noch ein weiteres vollauthentisches Faktum - es ist gar nicht einzusehen, warum man diese Erfahrungen als simuliert oder objektivitätsgesteuert ansehen sollte?!

Und was könnte noch authentisch sein? Hier finde ich die biosoziale Theorie hilfreich, die eine doppelte Verwundbarkeit bei Borderlinern annimmt: einmal ein besonders empfindliches und hochschießendes emotionales System schon als natürliche Anlage des Menschen, zum anderen dann äußere Einflüsse, die der Ausbildung eines stabilen und gut ausgebauten Ichkernes entgegen stehen.

Auch diese doppelte Ungünstigkeit wäre wiederum vollauthentisch, es ist nicht einzusehen, warum hier etwas gekünstelt oder gespielt sein sollte.

Des weiteren sind sicher eine Fülle von realen Borderline-Mechanismen vorhanden, die man durch genauso reale Verstärkererfahrungen erklären kann. Ein Verstärker heißt ja so, weil eine Handlung durch Verstärker später häufiger auftritt und stabil wird. Nur daß die herrschenden Verstärker bei Borderline vielfach total ungünstig sind.

Ich glaube, daß eine solche, authentisch suchende Sichtweise der Wahrheit viel näher kommt. Man merkt doch auch bei Pollmanns Aufsatz, daß das Borderline-Bild einfach zu breit wird, daß man bald nicht mehr weiß, wo man mit der Diagnose anfangen und wo man damit aufhören soll.

Dann wäre das Buch von Mertz nur die eine Seite der Medaille, sozusagen die trostlose und unbehandelte Seite der Medaille. Was aber, wenn ein Borderliner sich selber wirklich für Therapie interessiert und aus eigenem Antrieb langfristig dabei aktiv wird? Von solchen Borderlinern spricht Mertz eigentlich gar nicht, bei ihm dominiert ja der ewig gleiche, ewig unbelehrbare und kontaktlose Typus.

Ich bin aber überzeugt, daß es sogar sehr viele Borderliner gibt, die um ihre eigene Entwicklung enorm kämpfen, und die dabei auch auf viele gute Entwicklungen stoßen. Leider hat Mertz solche Beispiele praktisch nirgendwo im Buch dabei.

Ich bedauere es ehrlich gesagt sehr, daß jemand mit diesem energischen Textzugriff wie Du nicht auch mal die Ansätze aus dem Linehan-Feld durchgearbeitet hat. Du schriebst eingangs mal, diese Richtung würde Dir nicht so zusagen. Ich glaube, Gründe hattest Du keine genannt, und ich wäre neugierig, wie es bei Dir zu dieser Einstellung kam. Bloß weil die DBT-Module so verschult in Gruppen gelehrt werden, kann es ja wohl nicht sein, man kann sich die Inhalte ja auch mit dem Theoriebuch selber reinziehen.

Im Internet ist vielfach zu lesen gewesen, daß Linehan selber von Borderline betroffen sei, darüber auch offen sprechen würde, vernarbte Arme habe usw. Dann wäre auch Linehan selber schon eine Art Beleg dafür, was für ein Tiefenverständnis sich Betroffene selber zulegen können. Man muß sie ja deshalb nicht abwerten. Es ist ohnehin zu erwarten, daß viele Therapeuten Borderline-Züge aufweisen, Mertz postuliert das sehr zurecht meines Erachtens, und Du hattest oben, so weit ich weiß, auch schon diese Erfahrung bestätigt!

Die Helferwelten wimmeln sogar nur so von Borderline-Persönlichkeiten, es gibt auch einige gute Texte dazu, den einen kann ich Dir sogar verlinken (Dulz/Knauerhase heißen die glaube ich, sind Therapeuten einer Hamburger Borderline-Station und haben genau über dieses Thema eine Erkundung geschrieben). Habe den link gerade nicht parat, wenn Du bei google eingibst: Dulz Knauerhase Borderline, müßtest Du es schon finden, vielleicht noch mit dem Begriff Therapeuten dazu. Letztes Jahr war der Aufsatz noch frei anklickbar. Evtl. kennst Du ihn ja auch schon.

Rohde-Dachser hat solche Thesen ja auch schon geäußert, das ist einfach recht logisch schon aus dem eher außen- und fremdgesteuerten Lebensmodus des Borderliners heraus. Aber es ging mir ja in diesem Beitrag primär auch um die Möglichkeiten, diese Zustände positiv und anders zu beeinflussen.

Ich zweifele wirklich nicht daran, daß dies ungeheuer schwer ist, aber ich glaube, es ist mehrerlei möglich: man kann von einem autistischen Niveau auf ein Borderline-Niveau vorstoßen (das schaffen viele Erwachsene, die betroffen sind, Mertz scheint es auch anzunehmen).

Man kann dann auch von einem Borderline-Niveau langsam und mit vielen Mißlichkeiten und sozialen Malheruen auf ein schizoides Niveau vorstoßen.

Von da aus kommt man dann, wie schon Riemann sagte, durchaus oft zu einem wahrhaft menschlichen Niveau. Das scheint mir eine treffende Beobachtung zu sein.

Und Mertz beschreibt ja bezeichenderweise immer wieder vorrangig den Borderliner mit antisozialer Zusatz-Ausprägung. Das scheint mir sehr wichtig, es gibt nach meiner Erfahrung auch zahlreiche Borderliner, die NICHT antisozial strukturiert sind! Sowohl bei Männern als auch bei Frauen.

Alles andere wäre auch verwunderlich, wenn im Zentrum von Borderline zunächst nur ein sehr labiles und hochfahrendes Emotionssystem steht, und zusätzlich von außen ungünstige, traumatisch wirkende Einflüsse auf die Entwicklung ausgehen.

Wieso sollte dann die Kombination mit antisozialen Mustern im Zentrum stehen? Das ist nur die gefährlichste Variante, in der Form Borderline-Dissozial-Paranoid hat man dann die gefährlichsten Menschen. Die machen aber vielleicht nur fünf oder zehn Prozent aller Borderliner aus (was natürlich schlimm genug ist).

Kurz und gut, Mertz zeigt nur eine Teilwahrheit. Siehst Du das auch so, oder kannst Du wenigstens Argumente erkennen, die in diese Richtung weisen?

Besten Gruß sendet Dir und allen anderen Mitlesern
Ubu

monoma - 16. Mär, 15:21

re:

hallo ubu,

erstmal danke für deine wieder sehr ausführlichen gedanken. das, was mich davon spontan am meisten beschäftigt hat, werde ich im folgenden zu beantworten versuchen.

*

"Mir widerfährt aber im Moment was ganz anderes: Im Reflex auf die zwischengefilterten Mertz-Gedanken wächst mein eigener Abstand zu dessen gr0ßflächigen Thesen. Ich frage mich, ob Mertz nicht doch Lichtjahre von einem wirklichen Zugang zu Borderline-Personen entfernt geblieben ist.

Wenn ihm das persönlich so gegangen ist, kann er natürlich behaupten, aus seiner subjektiven Sicht dann auch völlig zutreffend, dieser Zugang sei nicht wirklich gegeben, und Borderliner seien per se total kontaktgestört. Ich bezweifele auch gar nicht, daß Mertz häufig diese Erfahrung gemacht haben dürfte!

Ein Minuspunkt für ihn ist dabei sozusagen seine eigene Rolle als Psychotherapeut. Verfolgt man die Situation näher, gibt es zahlreiche Anzeichen dafür, daß Borderliner auf Therapeuten sehr mißtrauisch und argwöhnisch reagieren. Mertz beschreibt es ja auch selber, sie wittern ständig die Gefahr, daß der Therapeut das Regime übernhemen will und die Deutungshoheit sichern will.

In der 1:1-Form der Psychotherapie, in von außen nicht durchschaubarer Privataudienz im Einzelzimmer, ist das alles noch viel verständlicher. Diese Situation transportiert ja sogar etwas dem Mißbrauch sehr ähnliches, "Dunkles in die Kommunikationsweise.

Schon durch seine Rollenposition wird Mertz also auch manches versperrt geblieben sein. Das Thema beginnt wahrscheinlich da wirklich spannend zu werden, wo es zu einem Aufsuchen der authentischen und erfahrungsbasierten Inhalte in einem Borderline-Leben geht - also genau da, wo Mertz die Grenze setzt und mit strikter Thesenform kapituliert hat."


dem stimme ich zum teil zu, besonders hinsichtlich seiner eigenen rolle als therapeut. über die funktionen und wirkungen von psychiatrie und psychotherapie bezgl. ihrer systemstabilisierenden und potenziell alles fremd- und andersartige pathologisierenden theorien und praxis ist an anderen stellen hier im blog ja schon einiges zu lesen. und trotzdem gibt es bei dieser kritik auch ausnahmen, und trotz unkenntnis der tatsächlichen praxis von mertz würde ich ihn aufgrund einiger seiner hypothesen zu diesen ausnahmen zählen.

"Ich habe es letztens schon angedeutet, die authentischen Potentiale gehen meiner Meinung nach stark auf die einschießenden Spannungen der Borderline-Person und überhaupt auf ihr immer im Alarmmodus befindliches, mißtrauisches Lebenssystem. Das ist aber nicht eingebildet, nicht gespielt, nicht nachgemacht, sondern eigen und vollauthentisch.

Dann findet sich, wie Mertz ja auch sagt, oft, erstaunlich oft, Mißbrauch in den Biographien von Borderlinern. Ist dieser nun erdacht? Oder ist er "nur" eine Funktion des ohnehin schon irgendwie verkorksten Borderline-Milieus? Nein, das würde ich so nicht sagen, der Mißbrauch ist doch offenbar knallharte Realität in zahllosen Borderline-Biographien. Also hat man noch ein weiteres vollauthentisches Faktum - es ist gar nicht einzusehen, warum man diese Erfahrungen als simuliert oder objektivitätsgesteuert ansehen sollte?!"


zunächst zur frage der authentizität: das ist bei diesem speziellen thema in meinen augen eine definitionsfrage, weil selbstverständlich auch konsequent im objektivistischen modus befindliche als-ob-persönlichkeiten und/oder soziopathen tatsächlich an diesem punkt als authentisch bezeichnet werden könnten - rein von einer beschreibenden ebene her wird das wort hier als attribut benutzt.

aber nach meinem verständnis ist das keinesfalls der eigentliche inhalt von authentizität, wenn sie als gegensatz zur simulation gesehen wird - die letztere stellt ja im modell eine funktion dar, welche kompensatorisch den quasiverlust des eigenen körpers bzw. der eigenen körperlichkeit zum zwecke des bloßen überlebens "auffängt", eine aufgabe jedoch, mit der die simulativen fähigkeiten überfordert sein müssen, weil sie für eine solche aufgabe weder vorgesehen noch grundsätzlich geeignet sind.

authentizität als seinszustand begriffen, in dem die vollen wahrnehmungsmöglichkeiten und -potenziale der eigenen körperlichkeit vorhanden sind und als normale realität begriffen werden, ist meiner meinung nach dann doch qualitativ etwas ziemlich anderes als das rein - und oberflächlich - beschreibende attribut "authentisch".

und die von dir erwähnten spannungszustände bei borderline sind sicher eigentlich von ihrem "wesen" her als authentisch zu bezeichnen; die frage jedoch stellt sich, wie diese zustände verarbeitet werden bzw. was der betroffene mensch daraus macht. und da sehe ich dann keine authentischen reaktionen im sinne meiner eigenen definition, sondern eben die erwähnten kompensationsversuche. die dabei den betroffenen durchaus ja als normal und authentisch erscheinen können, vielleicht sogar müssen, weil es ihre mehr oder weniger gewohnte realität darstellt. diese kompensationen sind dabei tatsächlich "nicht eingebildet, nicht gespielt" - beim nachmachen bin ich etwas gespalten, hängt imo ebenfalls von der definition ab - aber eben simulativ. und das ist keinesfalls gleichzusetzen mit bewußter irreführung, auch wenn gerade antisoziale bl oder auch strukturelle soziopathen zu diesem mittel - als geplante aktion - greifen könnten.

dann zum thema trauma/mißbrauch: auch aus meiner sicht ist da ein manko in der argumentation von mertz zu sehen; aber letztlich hängt auch hier vermutlich alles von der entsprechenden definition ab - trauma nach den heutigen mainstreamkriterien v.a. der posttraumatischen belastungsstörung definiert, schließt bekanntlich die möglichkeit "kleiner" oder kumulativer traumata (was du als chronische invalidierung benannt hast) ziemlich aus, die aber vielleicht gerade bei bl ohne "spektakuläre" traumatisierungen in der biographie eine große rolle spielen könnten. im "handbuch der borderline-störungen" ist dem streit zwischen bl-forschung und psychotraumatologie (von denen ein größerer teil ihrer vertreterInnen borderline bekanntlich als chronifizierte ptbs ansieht) einiges an raum gewidmet - und es wird dort aus speziellen studien zitiert, die ein (nach heutigen kriterien "relevantes") trauma in vielen bl-fällen eben auch nicht finden konnten. ich bin an diesem punkt aufgrund der komplizierten faktenlage schlicht hin- und hergerissen. und wie an anderer stelle hier auch schon geschrieben, sind mir schon viele borderline-diagnostizierte menschen begegnet, bei denen ich diese diagnose aufgrund einer teil überwältigend eindeutig traumatischen biographie schlicht verfehlt finde, zumal als hauptdiagnose.

dann würde ich aber auch die these von mertz dazu nicht einfach abtun, dass die wahrgenommene gewalt u.u. auch einfach ein stück "normalität" derjenigen familiären milieus darstellt, die sich als borderline-systeme ansehen lassen. im zweiten teil des beitrags zu als-ob-persönlichkeiten hatte ich dazu von der mit plausibel erscheinenden möglichkeit geschrieben, dass menschen mit gestörtem gespür für eigene grenzen eher in gefahr sein könnten, in potenziell grenzüberschreitenden bzw. -verletzenden situationen mit der möglichkeit eines traumatischen erlebnisses zu landen. auch das wäre eine mögliche erklärung für die auffällige häufung mit der komorbidität ptbs bei borderline-menschen.

und das obige würde dann auf die möglichkeit sehr früher postnataler bzw. schon peri- und pränataler traumata hindeuten. bei den letzteren definiert mertz sie ja nicht mehr als trauma im "klassischen sinne" - und hat damit nach dem etablierten mainstream sogar recht -, sondern bezeichnet das aufgrund der pränatalen eigenheiten als "strukturelle umprogrammierung des menschlichen funktionsganzen". dazu sei gesagt, dass ich diese variante aufgrund dessen, was mir aus der pränatalforschung bisher bekannt ist, durchaus für möglich halte. der gemeinte prozeß könnte zwar auch als trauma beschrieben werden, jedoch müsste dazu die heutige definition ganz erheblich erweitert werden.

zu deinem letzten absatz noch das: es gibt offensichtlich immer wieder geschichten von simuliertem mißbrauch, und wenn diese dann verfolgt werden, bekommen die betroffenen in vielen fällen auch das attribut borderline verpasst. zum anderen: gewalt stellt eigentlich immer auch einen ausdruck von verdinglichung, also von objektivistischer wahrnehzmung, dar. ist es da so unwahrscheinlich, dass die betroffenen selbst die täterperspektive übernehmen, also selbst beginnen, sich als objekte zu begreifen/wahrzunehmen (und entsprechend handeln)? ich sehe von daher solche erfahrungen in einem gewissen sinne schon als "objektivitätgesteuert" an.

"Und was könnte noch authentisch sein? Hier finde ich die biosoziale Theorie hilfreich, die eine doppelte Verwundbarkeit bei Borderlinern annimmt: einmal ein besonders empfindliches und hochschießendes emotionales System schon als natürliche Anlage des Menschen, zum anderen dann äußere Einflüsse, die der Ausbildung eines stabilen und gut ausgebauten Ichkernes entgegen stehen.

Auch diese doppelte Ungünstigkeit wäre wiederum vollauthentisch, es ist nicht einzusehen, warum hier etwas gekünstelt oder gespielt sein sollte."


hier hast du meiner meinung nach etwas mißverstanden: sicher würde ich die körperlichen prozesse als authentisch ansehen, aber es geht ja gerade um die verarbeitung der daraus entstehenden realität, die offensichtlich so unerträglich werden kann, dass die flucht in virtualität und fiktionen aus dieser perspektive eine art "lösung" sein kann. das ich das nicht im sinne eines bewußten aktes meine, sollte dabei klar sein. anders: die objektivistischen und simulativen fähigkeiten würden als reaktion auf eine im weitesten sinne traumatische realität "explodieren", die selbst das subjekt in eine position des objekts gebracht hat. und wenn das - um beim thema im engeren sinne zu bleiben - schon im mutterleib stattgefunden haben sollte, könnte da eben am ende eine als-ob-persönlichkeit herauskommen - eine, die deshalb "authentisch" wirkt, weil sie gar nicht anders funktionieren kann.

in diesem zusammenhang fand ich persönlich bei mertz auch die these sehr einleuchtend und faszinierend, dass der objektivistische modus sozusagen ein ganz normales "funktionsmodul" in jedem menschen darstellt, und wir auch alle täglich damit arbeiten. die idee, dass diese funktion bei einem elementaren mangelzustand sozusagen kompensatorisch für verlorengegangene und/oder nie entwickelte beziehungs- und damit auch wahrnehmungsfähigkeiten einspringt, finde ich dabei nach ausführlicher beobachtung meiner eigenen objektivität keinesfalls an den haaren herbeigezogen.

"Ich glaube, daß eine solche, authentisch suchende Sichtweise der Wahrheit viel näher kommt. Man merkt doch auch bei Pollmanns Aufsatz, daß das Borderline-Bild einfach zu breit wird, daß man bald nicht mehr weiß, wo man mit der Diagnose anfangen und wo man damit aufhören soll.

Dann wäre das Buch von Mertz nur die eine Seite der Medaille, sozusagen die trostlose und unbehandelte Seite der Medaille. Was aber, wenn ein Borderliner sich selber wirklich für Therapie interessiert und aus eigenem Antrieb langfristig dabei aktiv wird? Von solchen Borderlinern spricht Mertz eigentlich gar nicht, bei ihm dominiert ja der ewig gleiche, ewig unbelehrbare und kontaktlose Typus."


vielleicht, weil diese gruppe schlicht nur zeit- und auszugsweise bl-symptome aufweist? oder auch falsch diagnostiziert ist? es gibt da viele möglichkeiten, und du hast mit deiner bemerkung oben wahrscheinlich schon recht: in der form wie bisher macht der begriff keinen rechten sinn mehr. vor allem die verbindungen zum trauma müssen ganz dringend soweit geklärt werden, dass endlich realitätsgerechte diagnostik betrieben werden kann.

"Ich bin aber überzeugt, daß es sogar sehr viele Borderliner gibt, die um ihre eigene Entwicklung enorm kämpfen, und die dabei auch auf viele gute Entwicklungen stoßen. Leider hat Mertz solche Beispiele praktisch nirgendwo im Buch dabei."

siehe meine letzten absatz.

"Ich bedauere es ehrlich gesagt sehr, daß jemand mit diesem energischen Textzugriff wie Du nicht auch mal die Ansätze aus dem Linehan-Feld durchgearbeitet hat. Du schriebst eingangs mal, diese Richtung würde Dir nicht so zusagen. Ich glaube, Gründe hattest Du keine genannt, und ich wäre neugierig, wie es bei Dir zu dieser Einstellung kam. Bloß weil die DBT-Module so verschult in Gruppen gelehrt werden, kann es ja wohl nicht sein, man kann sich die Inhalte ja auch mit dem Theoriebuch selber reinziehen."

nun, vor aller theoretischen - und auszugsweisen - kenntnis der dbt hatte ich schon kontakt mit dbt-therapierten menschen. sagen wir´s mal so: ich fand das, was ich an auswirkungen der dbt bei den betreffenden so wahrgenommen habe, keinesfalls besonders positiv. ich fand vieles der neuen reaktionen und umgangsweisen irgendwie - hm, mechanisch. aber das ist natürlich meine im klassischen sinne subjektive meinung.

aus virtuellen borderline-kreisen habe ich später auch mitbekommen, dass einige vertreterInnen der dbt zumindest in d-land den standpunkt vertreten, traumatische biographische hintergründe seien im interesse des "hier und jetzt" eher zu ignorieren - scheint mir ein unguter einfluß aus dem teils verhaltenstherapeutischen background der dbt zu sein, der aber durch das heutige wissen gerade über die neurophysiologischen besonderheiten von traumata nicht haltbar ist.

"Im Internet ist vielfach zu lesen gewesen, daß Linehan selber von Borderline betroffen sei, darüber auch offen sprechen würde, vernarbte Arme habe usw. Dann wäre auch Linehan selber schon eine Art Beleg dafür, was für ein Tiefenverständnis sich Betroffene selber zulegen können. Man muß sie ja deshalb nicht abwerten. Es ist ohnehin zu erwarten, daß viele Therapeuten Borderline-Züge aufweisen, Mertz postuliert das sehr zurecht meines Erachtens, und Du hattest oben, so weit ich weiß, auch schon diese Erfahrung bestätigt!

Die Helferwelten wimmeln sogar nur so von Borderline-Persönlichkeiten, es gibt auch einige gute Texte dazu, den einen kann ich Dir sogar verlinken (...)

Rohde-Dachser hat solche Thesen ja auch schon geäußert, das ist einfach recht logisch schon aus dem eher außen- und fremdgesteuerten Lebensmodus des Borderliners heraus. Aber es ging mir ja in diesem Beitrag primär auch um die Möglichkeiten, diese Zustände positiv und anders zu beeinflussen."


ja, das mit linehan habe ich auch schon öfter gelesen. wenn das stimmen sollte, wäre das für mich aber eher noch ein grund mehr zur skepsis. ich finde es generell problematisch, mit grenz- und wahrnehmungsproblemen allgemein im sozialen bereich, besonders aber psychotherapeutisch, zu arbeiten, wenn denn die eignen probleme nicht faktisch aufgelöst sind. das gilt auch für menschen mit posttraumastörungen, die besonders schnell zu helfersyndromen und burn-out tendieren. die bl im mertzschen sinne hingegen arbeiten ja nach ihm eher aus macht- und kontrollmotiven in diesen bereichen. aber egal: beide gerade genannten konstellationen finde ich sehr gefährlich, und zwar für alle beteiligten.

"Ich zweifele wirklich nicht daran, daß dies ungeheuer schwer ist, aber ich glaube, es ist mehrerlei möglich: man kann von einem autistischen Niveau auf ein Borderline-Niveau vorstoßen (das schaffen viele Erwachsene, die betroffen sind, Mertz scheint es auch anzunehmen)"

hm, wie kommst du zu dieser aussage? bei mertz steht nach meinem verständnis eigentlich genau das gegenteil bzw. die these, dass solche "sprünge" nicht von dauer seien (konkret bezg. temple grandins); und generell gilt autismus bis heute als unheilbar. dazu kommt noch, dass es bei unserer kleinen diskussion hier ja gerade auch um die frage geht, ob borderline nicht eher als ein anderes und weiteres mögliches "funktionsniveau" des autismus angesehen werden kann? von daher wäre die formulierung also angebrachter, von einem nichtsimulativfähigen autistischen niveau auf ein simulationsfähiges vorzustoßen - aber das würde am autismus grundsätzlich nichts ändern.

"Und Mertz beschreibt ja bezeichenderweise immer wieder vorrangig den Borderliner mit antisozialer Zusatz-Ausprägung. Das scheint mir sehr wichtig, es gibt nach meiner Erfahrung auch zahlreiche Borderliner, die NICHT antisozial strukturiert sind! Sowohl bei Männern als auch bei Frauen."

tja, sind das nicht womöglich eher primär traumatisierte menschen? wobei selbst da das wirksam sein kann, was ich hier immer als täter-opfer-dialektik bezeichne. konkreter: nicht alle opfer werden zwangsläufig zu tätern, aber so ziemlich alle täter waren irgendwann einmal auch opfer (was nach meinem verständnis selbst für strukturelle soziopathen mit womöglich bereits pränatal ungünstigen entwicklungsbedingungen gilt).

dazu kommt noch der aspekt, den ich u.a. im ersten basisbeitrag zu borderline angerissen hatte: einmal die macht von geschlechterstereotypen, zum anderen die jeweils herrschaftsabhängige öffentliche definition des wortes antisozial

"Alles andere wäre auch verwunderlich, wenn im Zentrum von Borderline zunächst nur ein sehr labiles und hochfahrendes Emotionssystem steht, und zusätzlich von außen ungünstige, traumatisch wirkende Einflüsse auf die Entwicklung ausgehen.

Wieso sollte dann die Kombination mit antisozialen Mustern im Zentrum stehen? Das ist nur die gefährlichste Variante, in der Form Borderline-Dissozial-Paranoid hat man dann die gefährlichsten Menschen. Die machen aber vielleicht nur fünf oder zehn Prozent aller Borderliner aus (was natürlich schlimm genug ist)."


wieder ein "hm". und nochmals der verweis auf die probleme mit dem wörtchen antisozial: wenn diese bl-menschen gesellschaftlichen "erfolg" haben, werden beziehungsunfähigkeiten und antisozialität gerne völlig ausgeblendet. und genau diesen punkt kritisiert mertz völlig zu recht.

"Kurz und gut, Mertz zeigt nur eine Teilwahrheit. Siehst Du das auch so, oder kannst Du wenigstens Argumente erkennen, die in diese Richtung weisen?"

letzteres, wobei meine kritik sich teils auf andere punke bezieht - dazu hatte ich in einer anderen antwort weiter oben schon was geschrieben. ich will hier keine "glaubensgemeinschaft" aufmachen, aber bei manchen deiner anmerkungen oben hatte ich den eindruck, dass du einige thesen von mertz etwas anders verstanden hast als ich? und folglich auch andere konsequenzen ziehst.

nichtsdestotrotz: anregender austausch.

gruß
mo

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