Ubue (Gast) - 24. Mär, 04:28

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Hallo Monoma,

zum "Verfertigen der Gedanken" ist so ein Thread doch auch immer wieder aufschlußreich. Ich habe mir vorhin noch einmal den ganzen Austausch hier durchgelesen.

Interessant, wie sich einerseits eine soziologische Perspektive zeigt, und andererseits eine möglichst präzise psychologische Betrachtung.

Hier hatte ich gestern noch einen neuen Gedanken: was ist, wenn man den Begriff der Simulation bei Mertz einmal ganz nüchtern dem Begriff des Lernens gegenüberstellt?

Lernvorgänge scheinen ja vorgangsintern fast immer zunächst sehr simulativ abzulaufen. Das Kind plappert nach, ahmt Bewegungen nach, und auch bei Erwachsenen finden täglich viele Nachahmungshandlungen statt, um Neues zu lernen. Ob beim Autofahren-Lernen, bei einem Fußballtraining, oder wenn einem jemand etwas am Computer zeigt: man beobachtet es, versucht es dann selber, korrigiert hier noch etwas nach und übt es dann, bis man es selber kann.

In der Psychologie laufen diese Lernvorgänge unter dem Begriff "Modell-Lernen". An und für sich ist solches Nachahmen und Nachmachen also nichts schlechtes. Ich glaube sogar, daß fast alles, was Menschen können, in seinen Komponenten zunächst nachgeahmt und nachgemacht wird. Auch Schule und Uni funktionieren in vielerlei Hinsicht so, ebenso die meisten Berufsausbildungen. Man bekommt etwas gezeigt, übt es ein, verfestigt die Abläufe und "kann" es irgendwann.

Würde man deshalb von Simulation reden? Sicherlich nicht. Im Gegenteil, man könnte auch von Vorbild-Charakter und Begabung dabei sprechen. Verfeinert werden muß höchstens noch die Fähigkeit, zwischen nachahmenswerten und schädlichen Handlungsweisen zu unterscheiden. Kinder können dies noch nicht so gut, daher an vielen Ameln die Aufkleber: "Sei Vorbild für Kinder, geh nur bei grün!"

Der "Normalbürger" scheint dann Nachahmungsprogramme recht schnell zu übernehmen und stabil beizubehalten. Dagegen scheint der Borderliner an bestimmten Punkten wieder radikal aus Nachahmungsprogrammen, die schon gleichsam fest installiert waren, wieder auszusteigen, um etwas anderes anzufangen.

Gedanken über Authentizität, Echtheit, wahre Gefühle usw. scheinen Borderliner viel mehr zu beschäftigen als den "Durchschnittsbürger, der nicht so viel darüber nachdenkt, sondern einfach handelt, sich gewöhnt und dann verharrt oder langsam, fast unmerklich weiter moduliert.

Der Borderliner scheint stärker in solchen Programmen stecken zu bleiben und muß sich dann befreien, indem er ganz aus dem Status Quo wieder heraustritt. Sogesehen simuliert er eigentlich weniger als der Normalbürger, der das Nachgemachte einfach per Dauer und Habituation übernimmt, in die Kategorie "so bin ich" (Authentizität) überführt und dann verinnerlicht.

Dies könnte einfach eine Folge vorherrschender negativer Verstärker beim Borderliner sein. Interessante Gedanken hat Mertz dazu ja mit dem Begriff des "Verfolgungsintrojektes" herausgearbeitet. Der Borderliner hat Kognitionen wie "ich werde gezwungen", "ich werde festgenagelt", "ich werde überrumpelt", "ich werde unterworfen" und produziert dann ständig die bekannte Gegenbewegungen des Ausbruchsversuches, des Sichwehrens, des Dagegenangehens, auch des Wütens, des Sichweigerns usw.

Dies scheint jedoch nirgendwo simulativ motiviert zu sein, sondern immer im Dienste einer Korrektur weg vom Zwang und hin zur Wiedereroberung von Handlungsspielraum. Nach Simulation sieht es nur oberflächlich aus an dem Punkt, wo dann etwas abreißt. Der Tiefenimpuls ist aber: "ich lasse mich nicht länger unterwerfen, nachdem mir dies schon viel zu lange wieder passiert ist. Ich will frei davon sein, das Vergangene paßte nicht gut genug zu mir, wurde mir nicht gerecht".

Erklären kann man das über eigene Ichschwäche und sehr viel Rechtmachen wohl am besten. Demzufolge wäre der Borderliner dann immer auf der Suche nach einem Zustand, in dem er nicht zu eingeengt und fremdbestimmt ist, erreicht diesen aber aufgrund seiner Abhängigkeit von äußeren Verstärkern nur unter großen Anstrengungen und Auseinandersetzungen mit der symbiotisch gefährlichen Umwelt.

Es entsteht ein Kampfprozeß, den Mertz ja gut beschreibt, wenngleich er die Motive eigentlich seltsam entwertet oder umdreht. Daß die Motive des Borderliners von der hartnäckigen Suche nach dem Authentischen bestimmt werden, erkennt er nicht an, weil er (zutreffend) beschreibt, wie Borderliner diesen Zustand immer und immer wieder verfehlen. Das sieht etwas nach Fehlschluß aufgrund des Erscheinungsbildes aus.

Ebenso die These, der Borderliner könnte gar nicht wirklich trauern: phänomenologisch einerseits hervorragend beobachtet, andererseits vestärkertechnisch von Mertz nicht präzise beschrieben: wenn das Einschießen von (realer!) Trauer vom Borderliner phobisch beantwortet wird, also mit schneller Meidung und Hemmung, sieht es nach außen natürlich so aus, als habe er auch real nichts zu trauern und kenne diesen Zustand gar nicht wirklich.

Vom Verstärker-Zusammenhang her könnte aber einfach nur eine simple phobische Reaktion vorliegen, die brutal eingelernt worden ist durch negative Reaktion der Umwelt auf Trauerreize des Kindes (genau das kann man m.E. tagtäglich in Borderline-Umwelten sehen, das Kind wird dann dafür bestraft).

Dan wäre das äußerliche Erscheinungsbild nämlich genauso: Einschießen von Trauer nur in einem Moment, danach Abblocken und Hemmung, in diesem geblockten Dauerzustand dann leben müssen. Aufgrund dieser Meidung auch noch eine Selbstverstärkung dieser Prozesse.

Sicher eine technische Beschreibung, die mir allerdings präziser und sauberer vorkommt als das äußerliche Diktum von Mertz, Borderliner HÄTTEN gar nichts zu trauern. Die Wirklichkeit dürfte ganz umgekehrt aussehen, nämlich dergestalt, daß in Borderline-Biographien eine Überlast an Traurigem vorhanden ist.

Du schriebst oben, daß in der DBT ein Primat auf die Gegenwart gelegt wird und Traumata gar nicht mehr besprochen werden sollen. Ich habe das ähnlich verstanden, jedoch motiviert dadurch, daß die Emotionsregulierung bei Borderlinern diesem Ansturm erst gewachsen ist, wenn ein Pool von Skills aufgebaut worden ist, mit starken Emotionen zurechtzukommen.

Dies scheint mir ganz außerordentlich plausibel. Man muß dann allerdings wissen, wieso nach dieser Maxime erst einmal neue soft skills aufgebaut werden sollen.

Ich glaube sogar, auf dieser "technischen" Ebene leiten sich dann die meisten Erfolge ab. Es macht keinen Sinn, daß man nicht mit einer "heißen Emotion" umgehen kann, aber gleich an die Traumata rangeht. Ich meine es aber auch so verstanden zu haben, daß hier ein bißchen dialektisch vorgegangen werden soll, so wie wenn man balanciert. Letztlich sollen ja die phobischen und dissoziativen Verhaltensweisen gelockert werden, und das geht ohne Beschäftigung mit dem Trauma nicht.

Man lernt also die skills nicht als Selbstzweck, sondern um Gegengewichte zu den bisherigen ungünstigen Verstärkern zu gewinnen: also ein Mehr an Achtsamkeit, an Impulsverzögerung, mehr Übung, eine Gefühlsreaktion unzensiert in Form einer Welle ausschingen zu lassen, zunehmende Erfahrung, daß man dies aushalten kann, ohne selbst- oder fremddestruktiv zu reagieren.

So kommt man dann wirklich weiter. Ein Fokus liegt dann ganz eindeutig auf den ganzen Emotionsregulierungsprozessen, und das Manko bei Mertz ist halt, daß der die Literatur dazu gar nicht so eifrig rezipiert hat.

Die Diskrepanz zwischen der äußeren Gestalt und den inneren Vorgängen ist ja gerade bei Borderline oft ganz extrem. Dazu könnte man sicher seitenweise Beispiele schreiben.

Eine Ahnung davon muß er aber doch gehabt haben, es gibt Stellen, wo er genau diesen Ansatz als zukunftsweisend betrachet.

LG für heute! Ubue

monoma - 24. Mär, 15:34

hallo ubu,

ich möchte wieder kurz einige punkte herausgreifen, die mir aufgefallen sind:

- zunächst schält sich für mich eine definition von borderline bei dir heraus, die mir eine mögliche variante zu sein scheint - nämlich auf der basis einer grundsätzlich gestörten emotionalen selbstregulation, zu der dann noch chronische bzw. "klassisch-akute" posttraumatische symptome kommen, die wg. der "besonderen" grundaussattung bzgl. emotionaler regulierung dann auch besonders (schlecht) verarbeitet werden können.

das würde dann eher für die these sprechen, borderline als eine besondere form von chronifizierter ptbs anzusehen. das sehe ich, wie schon gesagt, in vielen fällen ähnlich - aber eben nicht in allen.

- dann: ich würde mich nicht auf eine "soziologische" perspektive festlegen lassen - das ich die teils willkürlichen und dem verständnis abträglichen grenzziehungen zwischen einzelnen wissenschaftlichen bereichen als ein teil des problems empfinde, habe ich hier auch schon öfter umrissen. jede soziologie, die nicht vom menschen und seiner psychophysischen struktur bzw. den darin angelegten (un-)möglichkeiten und gesetzen ausgeht, sondern stattdessen mit beliebigen konstruktionen arbeitet, muss zwangsläufig in die irre führen. das gleiche gilt für jede "psychologie", die unausgesprochen von einer art immaterialität der menschlichen psyche ausgeht. das ist heute schlicht und einfach unhaltbar, deswegen auch der mit besser treffende begriff psychophysiologie.

- mit deinen gedanken über das lernen oben liegst du imo richtig, mittels simulationen wird tatsächlich eine ganze menge gelernt. allerdings habe ich hier zum wiederholten male das gefühl, dass du die entsprechenden gedanken zum simulativen bereich bei mertz doch ziemlich mißverstanden hast.

wenn du den beitrag zur pränatalen phase gelesen hast, dann sicher auch die abschnitte zur propriozeptiven wahrnehmung. und das dortige fallbeispiel verdeutlicht meiner meinung sehr gut, was mertz nach meinem verständnis eigentlich beschrieben hat:

den gebrauch der simulativen fähigkeiten zur kompensation grundsätzlicher ausfälle/störungen elementarer wahrnehmungsfähigkeiten.

und das ist etwas ganz anderes als das, was du oben skizziert hast. das modell von mertz geht ja zusammenfassend von folgendem szenario aus:

1. eine bereits pränatal stattfindende - aufgrund fehlender empathischer und in folge dessen kompensatorisch verdinglichender wahrnehmungsfähigkeiten der mutter - massive störung/schädigung der notwendigen körperlich-materiellen grundlagen der beziehungsfähigkeiten (u.a. propriozeption, vielleicht auch die spiegelneuronen u.a.) des embryos.

2. der embryo wird in seiner entwicklung in eine strukturell autistische wahrnehmung gezwungen.

3. und kommt - je nach den jeweiligen ausprägungen der (un-)fähigkeiten der mutter - entweder mit einer mehr oder minder entwickelten "klassisch" autistischen (selbst-)wahrnehmung oder aber mit ebenfalls mehr oder weniger entwickelten simulativen fähigkeiten zwecks kompensation zur welt. diese können aber nicht mehr als "gelernt" betrachtet werden, weil es sich hier um ganz grundlegende umstruktierungen der "formativen phase" handelt, d.h. in dem pränatalen entwicklungsfenster, in dem sich die jeweils zur beziehungsfähigkeit nötigen psychophysischen grundlagen hätten entwickeln sollen, sind die als trigger für die nötigen entwicklungsprozesse dienenden reize/reaktionen seitens der mutter entweder nur verzerrt angekommen oder zum größten teil ausgeblieben oder sogar als "gegensatz" beim embryo empfangen worden - sprich als negativ in form von grundsätzlicher ablehnung, hass und allgemeiner verdinglichung.

und ich finde, dass mertz im rahmen seines modells durchaus recht hat mit der behauptung, dass es sich bei den oben grob skizzierten prozessen um etwas handelt, für das noch keine zutreffende (fach-)sprache vorhanden ist: von "traumatischen lernprozessen" bspw. lässt sich hier nur sehr schlecht reden - diese sind in ihrer herkömmlichen definition tatsächlich reversibel, eine derartige "pränatale umprogrammierung" wie oben jedoch bildet die körperlich-materielle basis des betroffenen menschen - und das ist, zumindest nach meinem verständnis, tatsächlich qualitativ etwas ganz anderes als traumatische erfahrungen bei einer ansonsten relativ gesunden persönlichkeit.

von daher reden wir hier dann doch etwas aneinander vorbei, wie ich finde, weil sich deine bl-definition ziemlich deutlich nicht auf das bezieht, was mertz in seinem modell umrissen hat. für traumata jenseits der mainstreamauffassung der ptbs - also kumulierte (chronische invalidierung), vielleicht auch tradierte - gelten viele deiner aussagen auch aus meiner sicht. aber gerade eben nicht für die bl-variante, die mertz präsentiert hat.

- wofür auch die deinerseits vielfach erwähnte "ich-schwäche" spricht, die mertz eben genau andersherum als geradezu festbetonierte "ich-stärke" begreift - ein ich nämlich, welches sich eigentlich nur in einem starren, rigiden und extrem strukturierten rahmen zu bewegen vermag (und das vielfach zitierte "borderline-chaos" ist ja seiner logik nach eher als versuch zu begreifen, diese extrem starren ich-strukturen immer wieder aufbrechen zu wollen - mit ständigem mißerfolg).

- ein wort noch zu dbt und trauma: das ist vielleicht ein gutes beispiel für das, was ich zuletzt geschrieben habe: klar wird in jeder brauchbaren traumatherapie darauf geachtet, dass vor einer konfrontation mit den traumatischen erinnerungen genügend stabilität in jeglicher hinsicht vorhanden ist. bloß: die entsprechenden aussagen der dbt-therapeuten meinen aus meiner sicht etwas anderes, nämlich tatsächlich eine angeblich nötige grundsätzliche ignoranz gegenüber vorhandenen traumatischen erinnerungsspuren. und wenn ich die dbt - auch aufgrund ihrer verhaltenspsychologischen herkunft - z.t. in ihren methoden für eine art trainingsprogramm des "simulierten authentischen" halte, wundert mich auch mein weiter oben erwähnter "mechanischer" eindruck nicht mehr.

anders: in der - mir bekannten - dbt-logik würde die besondere beschäftigung mit eigentlich traumatischen erinnerungsspuren keinen besonderen sinn machen, weil das zugrunde gelegte bl-modell überhaupt nicht in besonderer weise darauf beruht, sondern vielmehr auf eine innere strukturierung primär mittels kognitiver gerüste wert legt - und das ist nichts anderes als eine objektivistische art und weise von simulativem training.

grüße
mo

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