Ubue (Gast) - 25. Mär, 00:33

Zitat

Hallo Monoma, weil ich den Austausch sehr interessant finde, möchte ich noch mal auf den Absatz in Deiner Antwort eingehen, der mir besonders zentral vorkommt:

Monoma schrieb: "in der - mir bekannten - dbt-logik würde die besondere beschäftigung mit eigentlich traumatischen erinnerungsspuren keinen besonderen sinn machen, weil das zugrunde gelegte bl-modell überhaupt nicht in besonderer weise darauf beruht, sondern vielmehr auf eine innere strukturierung primär mittels kognitiver gerüste wert legt - und das ist nichts anderes als eine objektivistische art und weise von simulativem training."

Das ist interessant formuliert, finde ich. Mit dem Satz "legt Wert auf eine innere Strukturierung primär kognitiver Gerüste" hätte ich keine Probleme. Hinzufügen könnte man noch: "auf eine Umstrukturierung ungünstiger kognitiver Gerüste", dann wäre es noch etwas stärker auf die Intention bezogen.

Dann schreibst Du: "das ist nichts anderes als eine objektivistische art und weise von simulativem training."

Hier mußte ich erst mal eine Weile überlegen. "Eine Art von Training" sehe ich auch so. "Eine objektivistische Art von Training" - hier stutze ich schon stärker.

Ich sehe Kognitionen sehr stark mit Emotionen verflochten. Ich würde eher formulieren: "Das ist ein Training, das unter anderem auf die Auswirkungen bestehender Kognitionen ausgerichtet ist". Warum ist so ein Ansatz objektivistisch? Vergleichen kann man es etwa mit den Ansätzen von Beck zur Depression. Da hat er einfach Kognitionen gesammelt, die depressonsverstärkend sind (z.B.: "da kann man nichts machen").

Objektivistisch intendiert ist der Ansatz eigentlich doch gar nicht, sondern eigentlich will man ja die Depression wegbekommen. Sogesehen sind die Depressionen eine Art Folge der ungünstigen Kognitionen. Es ist dann einfach logisch, sich das klar zu machen, denn wozu hat man Vernunft und Selbstverantwortung? Die Zusammenhänge sind auch recht leicht erklärbar.

Du schreibst oben sogar noch deutlicher: "das ist nichts anderes als eine objektivistische art und weise von simulativem training."

Bei dem "simulativen Training" stimme ich Dir sogar teils zu, was die ersten Schrittversuche angeht. Natürlich mag eine Achtsamkeitsübung für einen Borderliner am Anfang eher ungewöhnlich sein, weil er sonst z.B. gewohnt war, nicht so fein auf seinen Körper zu achten.

Die Frage wäre nun, ob durch ein längeres Training die ganze Wahrnehmung sich verändert. Mertz würde das wahrscheinlich bestreiten. Real habe ich aber bisher ganz anderes erlebt. Zumindest manche Borderliner kommen sehr gut mit Übungen zu Mindfulness klar. Es ist ein Gegensatz-Programm zu dem, was sie vorher oft gemacht haben:
- vorher wurde die ganze Zeit invalidiert, von außen, aber auch über Selbstinvalidierung (Nicht-Ernstnehmen von Bedürfnissen, Selbstabwertung, Zusammenreißen, phobische Reaktionen auf hochkommende Gefühle, Erfahrung von persönlichen Gefühlsausbrüchen und nachfolgend noch stärkere Unterdrückungsversuche, damit Entstehung eines noch ungünstigeren Musters...)

- nun übt jemand (vielleicht zum esten Mal im Leben) mit jemandem ein, achtsam auf die eigenen Körpersignale zu sein, seine Wünsche, Interessen und Bedürfnisse ernst zu nehmen, zu spüren, dann zu signalisieren usw.

Mertz würde wahrscheinlich wieder sagen: hoffnungslos, beim Borderliner ist da nichts mehr zu holen, die Authentizitätspotentiale sind erloschen und verpfuscht. Real kann ich das aber auch nicht bestätigen. Es kommt mir eher so vor, als ob bei wirklich erloschenen Authentizitätspotentialen auch das Leiden zu Ende wäre.

Das hochdramtische Leiden vielder Borderliner scheint aber eher durch den lebenslang vergeblichen Ansturm innerer authentischer Gefühle, Wünsche und Gedanken zu entstehen, die immer wieder weggeblockt, in Linehans Theorieprache "invalidiert" werden.

Das Faszinierende ist, daß man m.E. genau das tatsächlich im Alltag auch ununterbrochen erleben kann. Borderliner verhalten sich ja nicht neutral auf Invalidierung, sondern sind nirgendwo so hochverletzbar wie darauf, nicht ernst genommen zu werden, nicht gesehen zu werden, bevormundet zu werden, nicht verstanden zu werden, ignoriert zu werden, zurückgewiesen zu werden usw. usf, weil sie genau das schon Zeitlebens so oft erleiden mußten.

Bei erloschenen authentischen Potentialen wäre hier auch wenig an akutem Leiden mehr denkbar, man hätte sich dann eher damit arrangiert, halt nur auf der manipulativen und objektivierten Ebene zu agieren.

Insofern interessant, daß Du die kognitiven Ansätze einer objektivistischen, simulativen Ebene zuordnest. Wenn man sich klar macht, daß vermutlich alle Menschen auf der Welt eine Menge jeweiliger Kognitionen in ihrem Kopf gebildet haben (nenne es Motto, Maxime, Skript, Vorurteil oder wie auch immer), müßten die ja auch alle objektivistisch funktionieren.

Hier kann man glaube ich mit Mertz sagen: Differenzierung ist wichtig. Welche Kognitionen sind objektivitätsfördernd? Welche führen zu einem achtsameren Umgang mit sich selber oder zu einem verbesserten Informationsprozeß?

Oder: Welche Kognitionen verhindern das wellenartige Ein- und Ausschwingen von Gefühlen, ohne daß es einen langen Stau oder einen Ausbruch gibt?

Oder: Welche Kognitionen sind denn eigentlich bei Borderlinern überhaupt vorherrschend? Was konnte - ab Mutterleib und später in der Erziehungsumgebung - implantiert werden? Was ist typisch für Borderliner?

Solche Aufklärungen fände ich nicht objektivistisch. Da würde ich eher sagen, man kommt sozusagen an die Wurzel vielen Übels.

Naja, ich werde darüer auch noch mal weiter nachdenken. Gruß! Ubu(e)

pete (Gast) - 25. Mär, 13:35

...

nebelschwaden oder intellektuelles-pseudo-borderline?

langsam, aber sicher,
kommt man zu dem gefühl, dass
entweder jemand die nebelmaschine angemacht hat
oder jemand sich im existentialismuswald verlaufen hat...
monoma - 26. Mär, 12:59

@ubu

für den moment nur kurz ein paar anmerkungen:

meiner meinung nach bist du am punkt der "pränatalen umprogrammierung" zu optimistisch, was die mögliche reversibilität angeht.

gerade die entsprechenden ausführungen von mertz dazu gehörten für mich bei der lektüre zu den verstörendsten.

und nochmal, es geht dabei nicht um wie auch immer gelerntes, sondern einen massiven einfluß während der entwicklungsphase bestimmter materieller strukturen, die für bestimmte soziale fähigkeiten unverzichtbar sind. wie gesagt, das halte ich qualitativ für einen ziemlichen unterschied.

um nochmals auf das beispiel der frau mit der gestörten propriozeptiven wahrnehmung aus dem artikel zur pränatalen phase zu kommen: diese frau hatte vergleichsmöglichkeiten zu ihrem vorherigen zustand, da die störung erst postnatal aufgetreten ist. aber auch da lässt sich schlecht davon reden, dass sie den eigentlichen defekt irgendwie "verlernen" könnte. sie konnte offensichtlich lernen, die folgen mittels simulationen der verlorengegangenen fähigkeiten zu kompensieren, aber so, dass der als-ob-charakter augenscheinlich für außenstehende wahrnehmbar wurde.

verlegen wir dieses beispiel mal hypothetisch in den mutterleib: eine entsprechende schädigung würde sich auf die gesamte entwicklung des embryos auswirken, mit vielfältigen konsequenzen. der prozeß wurde vom zitierten autor nachvollziehbar und vielleicht nicht ganz zufällig auch in einer ähnlichen logik wie der von mertz beschrieben, ich zitiere den abschnitt nochmal:

Die Grenzen des Selbstmodells sind die Grenzen des phänomenalen Selbst. An dem Beispiel der „körperlosen Frau“ wird zudem deutlich, was es bedeutet, daß das Selbstmodell ein multimodales Modell ist: Es kann um einzelne Modalitäten depriviert werden, aber in manchen Situationen den Verlust von Informationsquellen über eine Verstärkung anderer Kanäle funktional kompensieren. Fällt durch einen Defekt auf der „Hardware-Ebene“ ein bestimmtes sensorisches Modul aus, bleibt der entsprechende phänomenale Verlust jedoch für die Dauer der Störung bestehen. Das Selbstmodell wird um einen bestimmten qualitativen Aspekt ärmer, obwohl die Steuerfunktion in manchen Situationen dadurch rehabilitiert werden kann, daß auf den Informationsfluß aus den verbliebenen Sinnesmodulen verstärkt zugegriffen wird. Die Psychologie des Systems kann sich dabei jedoch tiefgreifend verändern (!!! mo). In dem tragischen Fall, den ich hier als Beispiel anführe, wurde das phänomenale Loch im subjektiven Erlebnisraum zu einem bleibenden Verlust.

wenn das "phänomenale loch im subjektiven erlebnisraum" nun schon pränatal entsteht, kommt ein mensch zur welt, der nicht nur nichts anderes kennen kann, sondern mangels eigener erfahrung auch keinerlei konzepte des verlorenen bzw. niemals entwickelten entwerfen kann, außer objektivistischen konstruktionen. und wie gesagt, das halte ich für etwas sehr anderes als einen gewöhnlichen lernvorgang. auch die möglichen simulativen kompensationen fallen für mich nicht darunter.

der begriff des "phänomenalen loches" passt übrigens wie angegossen für das, was mertz in seinem modell herausgearbeitet hat - es fehlen einfach existenzielle fähigkeiten, primär solche der (selbst-)wahrnehmung.

dann ein anderer punkt: für mich stellst du die opferseite von borderline zu stark heraus - du weißt sicherlich, was auch die von dir beschriebenen bl-menschen für beziehungshöllen entfachen können - jeder blick in ein angehörigen-forum spricht da bände.

und zur dbt: meine informationen stammen zum großteil aus persönlichen erlebnisberichten.

werde versuchen, in den nächsten tagen nochmals genauer zu antworten.

gruß
mo

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