archenoe (Gast) - 17. Mär, 23:46

Das Kapital benötigt nichts außer sich selbst.

Das Kapital benötigt keinen gescheiterten Kommunismus. Es genügt sich selbst in endloser Vermehrung. Es war nützlich, dass sich ein politisch-ökonomischer Gegenversuch zum Kapitalismus, der sich selbst kommunistisch nannte und noch häufiger von den Kapitalbesitzern so genannt wurde, scheiterte, weil dieses Scheitern des Kommunismus, der keiner war, als Erziehungsprogramm für die Menschen, die durch Anwendung ihrer produktiven Potenz das Kapital vermehren, geeignet war. Fortan konnte auf jedes Argument gegen das Kapital und seine menschenvernutzende Vermehrungsart mit dem Hinweis gekontert werden, die Geschichte habe gezeigt, das Kommunismus nicht funktioniere, ja, schlimmer noch, grundsätzlich und immer in diktatorischem Terror ende. Kommunismus sei gegen die Natur des Menschen, Kapitalismus sei gelebte Menschennatur. Unverzichtbar ist dieses Argument für die Selbstverewigung des Kapitals aber nicht - eigentlich ist es sogar ein wenig gefährlich für den Kapitalismus, weil es Diskussionsmöglichkeiten eröffnet. Inzwischen ist es dem Kapital ja auch fast gelungen, zur Rechtfertigung gar nicht mehr argumentieren zu müssen, sondern sich selbst als immerwährende und alternativlose Heiligkeit zu installieren.
Einige Zeit habe ich auch angenommen, die sozialstaatlichen Leistungen der 1960er/70er Jahre im Kapitalismus seien in nicht unerheblichem Maße nur durch die "Systemkonkurrenz" erklärbar. Sehe ich heute überhaupt nicht mehr so.

monoma - 19. Mär, 16:04

@archenoe

Einige Zeit habe ich auch angenommen, die sozialstaatlichen Leistungen der 1960er/70er Jahre im Kapitalismus seien in nicht unerheblichem Maße nur durch die "Systemkonkurrenz" erklärbar. Sehe ich heute überhaupt nicht mehr so.

warum nicht? das sie vielleicht nicht ausschließlich dadurch erklärt werden, kann ich nachvollziehen. aber warum dieser aspekt für dich nun gar keine rolle mehr spielt?
archenoe - 19. Mär, 20:57

@monoma

Weil ich inzwischen davon ausgehe, dass es "die Macher" aus der politischen Klasse wie aus der Klasse der Kapitalbesitzer und Kapitalmanager einen feuchten Dreck gekümmert hat, wie der Vergleich mit dem "Gegenmodell" im Detail ausfiel, denn 1. hatten sie spätestens Anfang der 1950er Jahre gemeinsam mit den entpolitisierten Massen (Nie wieder Krieg! Nie wieder (schade!) Faschismus! Nie wieder Politik! Die Russen sind die Schlimmsten! Kommunismus = Nationalsozialismus! Das Wichtigste ist eine intakte Familie und eine schöne Wohnung!usw.) einen Bewusstseinskonsens aufgebaut, der alles "Linke" zum Unprogramm und zur Unnatur erklärte und 2. war der Aufbau des Sozialstaats in den 1950er und 1960er Jahren Teil des wie geschmiert laufenden Kapitalverwertungsmodells der Wiederaufbauphase in einer wohnraumzerstörten, aber durch Kriegskapitalismus auf hohem technologischen Niveau ablaufenden ökonomisch-sozialen Realität. Die Anwerbung von "Gastarbeitern" bereits Ende der 1950er Jahre zeigt diesen ungeheuren Boom. Häufig werden ja die sozialen Errungenschaften als hart erkämpfte gewerkschaftliche Siege dargestellt. Das aber scheint mir romantisierende Gewerkschaftsrhetorik zu sein. Tatsächlich funktionierten die Lohnabhängigen in dieser Phase deshalb besonders gut, weil sie fast über 20 Jahre (viele sogar noch länger) alles nur aufwärts gehen sahen: Löhne, Urlaub, Krankenversorgung, Rente etc. (Arbeitslosengeld spielte ja ab Mitte der 1950er Jahre überhaupt keine Rolle). Von der Montanunion bis zum Mitbestimmungsgesetz 1976 verläuft ja sogar die Politik parallel, indem den Gewerkschaften relativ große Mitbestimmungsmöglichkeiten eingeräumt wurden. Heute kann man wissen, dass dies der Einbindung in die letzte goldene Phase der fordistischen Kapitalverwertung völlig entsprach.
Erst als in den 1970er Jahren der normale Kapitalismus wieder Einkehr hielt, also eine zunehmende Menge an Arbeitskräften nicht mehr in Wert gesetzt werden konnten (fordistische Krise) und verschärft seit den 1980er Jahren, als deutlich wurde, dass mehr Arbeitslose entstehen, als sie für eine Reservearmee notwendig waren, wurde schrittweise auch deutlich, dass diese "goldene fordistische Phase" der Ausnahmefall war und insofern auch der Sozialstaat in der Form der 1950/60er Jahre. Dass die erneute Verschäfung von Sozialstaatsabbau in den 1990er Jahren mit dem Zusammenbruch des "realsozialistischen Gegenmodells" zusammenfiel, ist anders zu deuten, als es häufig geeschieht. Nicht der Sozialstaatsabbau war erst möglich, weil das Gegenmodell verschwunden war, sondern Gegenmodell und Sozialstaat "verschwanden" gleichzeitig, weil der sozusagen überfordistische realsozialistische Versuch zusammenbrach und gleichzeitig sich die längst postfordistische Wertverwertungsform immer radikaler durchsetzte.
(Sind nur Andeutungen, aber vielleicht verständlich!)

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