notiz: sehr unvollständige liste bekanntgewordener todesfälle im zusammenhang mit antisozialer politik: es gibt viele arten, um einen menschen zu töten...(update)

in diesen tagen ist in denjenigen medien (incl. blogs), die sich überhaupt mit dem hungertod eines jungen, erwerbslosen und wahrscheinlich depressiven mannes in speyer beschäftigen, immer wieder davon zu lesen, dass das der "erste tote" durch die sog. "hartz-IV-reformen" oder treffender: die offen antisoziale politik eines kapitalistischen regimes - gewesen sei.

das ist natürlich völlig unzutreffend, alleine schon deswegen, weil auch vor "hartz-IV" in diesem land durch und an den folgen kapitalistisch-antisozialer "politik" bereits gelitten und gestorben wurde.

nach einer kleinen recherche bin ich einerseits sprachlos, was schon alles so ohne größere mediale aufmerksamkeit - damit ist gemeint: nachfragender journalismus, der sich nicht alleine auf eine mehr oder weniger ausführliche zitierung der örtlichen polizeiberichte beschränkt, was bei den nachfolgenden artikeln oft genug der fall ist - geschehen ist; und andererseits koche ich vor wut - wir sind auf dem besten wege, in diesem land die verdammte gleichgültigkeit und feigheit unserer vorfahren im klassischen sinne zu re-inszenieren.

die folgende zusammenstellung ist mit sicherheit unvollständig - weite verbreitung und inhaltliche ergänzungen sind ausdrücklich erwünscht! ich selber werde momentan nicht zu einer weiteren und nötigen - kommentierung kommen, andererseits spricht die liste auch schon für sich selbst.

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november 2004:

"Ein Mann hat sich im baden-württembergischen Bietigheim-Bissingen vor der regionalen Arbeitsagentur selbst getötet. Er fuhr nach Angaben der Polizei am späten Dienstagabend mit seinem Auto gegen den Haupteingang des Gebäudes. Das Fahrzeug explodierte. Die Arbeitsagentur selbst blieb unbeschädigt, weil sich deren Räume im oberen Stockwerk des Hauses befinden.

Nach ersten Erkenntnissen hatte der Mann eine Gasflasche auf dem Beifahrersitz deponiert und den Gashahn geöffnet. Er verbrannte bis zur Unkenntlichkeit. Die Polizeidirektion Ludwigsburg geht davon aus, dass es sich bei dem Selbstmörder um einen 51 Jahre alten gelernten Fernmeldehandwerker aus Sachsenheim handelte.

Finanzielle Probleme
Er war seit einiger Zeit arbeitslos. Seit Ende Oktober habe ihm die Arbeitsagentur kein Geld mehr ausgezahlt, weil es Unklarheiten darüber gegeben habe, ob dem Mann überhaupt Arbeitslosengeld zustehe, hieß es.
Der geschiedene 51-Jährige wäre jedoch laut ersten Ermittlungen noch nicht unter die Hartz-IV-Regelungen gefallen. Als weiteres Motiv kommen laut der Polizei finanzielle Schwierigkeiten des Mannes in Frage."


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januar 2005:

"Offenbar weil er von der Arbeitsmarktreform Hartz IV betroffen war, hat ein arbeitsloser Mann im nordrhein-westfälischen Höxter Selbstmord begangen. Die Polizei bestätigte am Freitag, daß sich der 54jährige im Keller eines Hauses erhängt hatte. Bei ihm habe ein Papier mit der Aufschrift "Harz IV" gelegen. Die Zeitung "Junge Welt", die mit Angehörigen des Opfers sprach, berichtet, daß der langzeitarbeitslose Familienvater in eine verzweifelte Lage gekommen war."

(mehr dazu auch hier).

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januar 2005:

(...)"Timo Müller erfährt erst Wochen später vom Selbstmord seiner Nachbarn, aus einem Zeitungsartikel, der im Hausflur hängt. »Lieber tot als arm«, steht dort in dicken Buchstaben, die Zeitung zitiert aus einem Abschiedsbrief. »Wir krebsen durchs Leben und spulen monoton einen Tag nach dem anderen ab«, haben beide geschrieben. Und dann noch die Sozialreformen. Monika und Michael Stahl, die ersten Opfer von Hartz IV? Das Gesetz ist da gerade einen Monat alt.(...)

Das Paar hat die Wohnung am Ende nicht mehr oft verlassen. Monika nur, um zu ihrer Arbeit in einer Speditionsfirma zu fahren. Und Michael, um Billie, den Bullterrier, spazieren zu führen. Stahl war seit Jahren arbeitslos. Ausgegangen sind er und seine Frau selten. Zu teuer. Meist verbrachten sie ihre Abende vor dem Fernseher, zu zweit, allein. Die Stahls hielten Distanz. Ihr Heim wurde zum Rückzugsort, in das immer bedrohlichere Nachrichten von außen drangen. Seit Anfang des Jahres sorgten sie sich um ihre Wohnung. Die neuen Regeln von Hartz IV: 84 Quadratmeter – zu groß für ein Paar ohne Kinder, 60 seien »angemessen«. »Angemessen« bedeutete Unsicherheit. Der Abschiedsbrief, den sie an die Cousinen und Kollegen geschickt haben, zeigt: Sie haben sich vieles ausgemalt. Wie es wäre, Wohnung, Auto und Arbeit zu verlieren. Es muss ein Leben im Konjunktiv gewesen sein, ständig das Schlimmste erwartend. Die Cousine erinnert sich, wie leer die Wohnung bei ihrem letzten Besuch wirkte, eine Woche vor dem Tod der beiden. Monika Stahl hatte gesagt, sie miste aus. Hätte sie nachfragen sollen?(...)

Timo Müller hatte Michael Stahl noch ein paar Mal mit dem Hund auf der Straße gesehen. Er wirkte nicht besonders glücklich, hielt den Kopf eingezogen, bewegte sich langsam. Seine Frau war immer auf Arbeit. Das Paar schien allmählich unsichtbar zu werden, vor den Augen von Familie, Kollegen, Nachbarn zu verschwinden. »Unauffällig« ist das Wort, was am häufigsten im Zusammenhang mit ihnen fällt."(...)


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aus der berliner zeitung vom 18.06.2006 stammt via ostblog die folgende meldung:

"Selbstmord vor den Augen des Gerichtsvollziehers

FRANKFURT (ODER). Die Fassade des fünfgeschossigen Hauses in der Valentina-Tereschkowa-Straße in Frankfurt (Oder) ziert ein tristes Grau. Es wird nicht mehr viel gemacht an dem Gebäude, das in naher Zukunft abgerissen werden soll. Vor etwa acht Wochen wurden die Mieter des Blocks von dem Abriss in Kenntnis gesetzt, Ausweichwohnungen angeboten. Doch einer erhielt keine Offerte: Tim S. Denn dem 34-Jährigen drohte wegen Mietschulden die Zwangsräumung.

Als der Gerichtsvollzieher am Mittwoch vor seiner Tür stand, stürzte sich der arbeitslose Mann aus dem Fenster seiner im fünften Stock gelegenen Wohnung. Tim S. starb auf den Gehwegplatten. Im Juni vorigen Jahres soll er es versäumt haben, einen neuen Arbeitslosengeld-Antrag zu stellen. Danach konnte er einige Monate seine Miete nicht mehr bezahlen. Sein Selbstmord wirft viele Fragen auf.

Es war kurz nach 8.30 Uhr, als der Gerichtsvollzieher, eine Angestellte des Hauseigentümers, der Wohnungswirtschaft Frankfurt (Oder), und ein Mann vom Schlüsseldienst an der Hauseingangstür bei Tim S. klingelten. Der junge Mann war zu Hause. Er öffnete aber nicht, sondern soll der Gruppe den Schlüssel aus dem Fenster vor die Füße geworfen haben. Als der Gerichtsvollzieher kurz darauf die Wohnungstür öffnete, saß Tim S. auf der Fensterbank und drohte, sich in die Tiefe zu stürzen. Daraufhin verließ der Gerichtsvollzieher die Wohnung und telefonierte im Treppenhaus mit der Polizei. Der Mann vom Schlüsseldienst wechselte bereits das Schloss aus, als er bemerkte, dass Tim S. nicht mehr auf dem Fensterbrett saß. Er hatte in seiner Verzweiflung seine Drohung wahr gemacht."(...)


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mai 2006:

"Kurz vor der Zwangsräumung seiner Wohnung hat sich ein 62-jähriger Architekt das Leben genommen.

Die Polizei war gestern mit dem Sondereinsatzkommando im Gärtnerplatzviertel angerückt, weil bekannt war, dass der Mann als Jäger Waffen im Haus hatte. Als die Beamten in die Wohnung eindrangen, war der Mann bereits tot.(...)

Vor zwei Jahren musste er das Haus in der Corneliusstraße verkaufen. Der 62-Jährige sowie seine Frau waren noch in der 200-Quadratmeter-Wohnung unter dem Dach gemeldet.

„Er konnte seine Miete nicht mehr bezahlen“, sagt Polizeisprecher Markus Dengler. Deshalb habe der neue Eigentümer, eine Münchner Spenglerei, die Zwangsräumung durchgesetzt.(...)

Was die Einsätze bei Wohnungsräumungen anbelangt, „ist die Polizei sensibler geworden, nach den letzten Erfahrungen“, sagt Markus Dengler. Erst im Januar hatte eine 41-jährige Mieterin vor einer Zwangsräumung im Olympiadorf sich eine Waffe an den Kopf gesetzt und gedroht abzudrücken.

Ende März hatte in Obergiesing ein 59-Jähriger mit einem Messer auf einen Obergerichtsvollzieher eingestochen, weil dieser zuvor Wertgegenstände gepfändet hatte.

In München müssen immer mehr Mieter ihre Wohnung verlassen, weil sie nicht mehr zahlen können. Allein im vergangenen Jahr seien rund 10 000 Mieter wegen Zahlungsverzugs fristlos gekündigt worden, berichtet Rudolf Stürzer, Vorsitzender des Haus- und Grundbesitzervereins.

„Die Zahl ist dramatisch angestiegen.“ Dasselbe gelte für die Zahl der Räumungsklagen, die 2005 bei rund 3500 lag – nach Schätzungen des Amtsgerichts eine Steigerung von rund 25 Prozent gegenüber dem Vorjahr.

Täglich bis zu fünf Zwangsräumungen
Und viele Zwangsgeräumte fürchten den Absturz in die Wohnungslosigkeit. In etwa jedem dritten Fall komme es zur Zwangsräumung – vier bis fünf pro Werktag, oft mit dramatischen Begleiterscheinungen, so Stürzer: „Es kommt immer öfter vor, dass der Mieter mit Suizid droht.“


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november 2005:

"Selbstmord wegen Zwangsräumung
Schwerfen - Immer wieder stand der Gerichtsvollzieher in den vergangenen Monaten bei einer Frau (48) in Schwerfen (Eifel) vor der Tür, drohte mit Zwangsräumung. Jetzt war es soweit: Mit mehreren Umzugshelfern rückte er an. Die Frau nickte apathisch, sagte: "Warten Sie bitte einen Moment, ich will nur noch kurz ein paar persönliche Sachen holen." Während die Männer warteten, erschoss sich die Frau."


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juni 2006:

"Kurz vor der Zwangsräumung ihrer Wohnung hat sich eine Frau aus Taufkirchen bei München umgebracht und zuvor vermutlich auch ihr Kind getötet. Die Frau sei am Montagmorgen aus dem achten Stock eines Hochhauses gesprungen, nachdem eine Gerichtsvollzieherin bei ihr klingelte, sagte eine Sprecherin der Münchner Polizei.
Polizisten fanden später in der Wohnung die Leiche des dreijährigen Sohnes. Wie der Junge ums Leben kam, soll eine Obduktion zeigen."(...)


dazu auch ergänzend:

"Die 39-jährige Silvia W., die sich am Montagmorgen in Taufkirchen vor der Zwangsräumung ihrer Wohnung aus dem achten Stock gestürzt hat, hatte offenbar in den letzten Wochen alle Hilfsangebote ausgeschlagen. Sozialamt sowie Gemeinde hatten der Frau Unterstützung angeboten, zumal die alleinerziehende Mutter ihre Arbeit verloren hatte und die Miete für die Zwei-Zimmer-Wohnung nicht mehr bezahlen konnte.

"Wir haben ihr Hilfe angeboten, haben die Frau angeschrieben. Wir versuchten vergebens, sie zuhause anzutreffen, haben ihr sogar einen Zettel in den Briefkasten geworfen. Sie hat auf nichts reagiert", heißt es bei der Gemeinde Taufkirchen.

Finanzielle Hilfe hat Silvia W. nur für ihr Kind in Anspruch genommen, für die Tagesbetreuung ihres Sohnes sowie dessen Unterhalt, den der leibliche Vater nicht leistete. Am Abend vor ihrem Suizid hatte Silvia W. noch ihren dreijährigen Sohn umgebracht. Von der dramatischen Zuspitzung der Situation habe das Jugendamt jedoch keine Kenntnis gehabt, so ein Sprecher des Landratsamtes.

Der Leichnam des Buben wurde am Montag im Institut für Rechtsmedizin obduziert. Nach Angaben der Polizei hatte die Mutter ihren Sohn bereits am Sonntagabend erdrosselt. Auslöser für die Verzweiflungstat dürften nicht nur die finanzielle Misere, sondern auch massive Beziehungsprobleme gewesen sein, so die Polizei.

Job verloren, monatelang die Miete nicht bezahlt
"Die 39-Jährige hat phasenweise mit dem Vater des Kindes, einem 25-Jährigen, zusammengelebt", sagt Polizeisprecherin Eva Völkl. Offenbar sei es aber immer wieder zu gewalttätigen Übergriffen seinerseits gekommen. "Die Frau hat ein Kontaktverbot gegen ihren Freund erwirkt", erzählt Völkl. Dieses sei im Januar erlassen worden und noch bis 6. Juli wirksam gewesen.

Zu dem Schwierigkeiten mit dem Mann seien finanzielle Probleme gekommen: Silvia W. hatte ihren Bürojob verloren und konnte laut Polizei seit Monaten die Miete nicht mehr bezahlen."(...)


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august 2004:

"In Burghausen erhängte sich ein arbeitsloser Mann. Als Motiv für den Selbstmord kommen finanzielle Sorgen in Betracht. Der Mann hatte sich vor einigen Tagen ausrechnen lassen, was er nach Einführung des AG 2 noch bekommen würde.
Bisher erhielt er 600 Euro vom Staat, ab Januar würden es nur noch 331 Euro sein. In seiner Hosentasche fand die Polizei einen Abschiedsbrief, aus dem zu erkennen war, wie verzweifelt er war.
Seine Lebensgefährtin ist sich sicher. Ihr Mann hat sich wegen Hartz IV umgebracht."


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aus der taz hamburg vom 19.04.2004 stammt der folgende artikel, der sich speziell mit dem hungertod einer psychisch erkrankten frau beschäftigt - auszüge:

"Tod durch Sozialhilfeentzug?
Kranke, die später verhungerte, wurde Stütze eingefroren. Amt wollte Frau zwingen, sich bei Betreuerin zu melden. SPD wirft Sozialbehörde jetzt Mitverantwortung vor

Als kurz nach dem Hungertod der siebenjährigen Jessica aus Jenfeld bekannt wurde, dass am 1. Dezember 2004 bereits eine psychisch kranke Frau in einem Farmsener Hochhaus verhungert aufgefunden worden war, warf SPD-Fraktionschef Michael Neumann CDU-Sozialsenatorin Birgit Schnieber-Jastram vor, sie habe "ihre Behörde nicht im Griff". Die Senatorin wiederum ließ erklären, ihre Behörde habe mit dem Fall "nichts zu tun", denn psychisch Kranke würden durch das Amtsgericht betreut.

Der SPD-Sozialexperte Dirk Kienscherf stellte daraufhin eine kleine Anfrage an den CDU-Senat, um der Sache auf den Grund zu gehen. In der Antwort kommt nun zu Tage, dass die 40-Jährige seit dem 1. September, also drei Monate bevor ihre mumifizierte Leiche gefunden wurde, vom Sozialamt Wandsbek keine Sozialhilfe mehr ausgezahlt bekam. Denn die ihr vom Amtsgericht zugeteilte Betreuerin habe extra darum gebeten, mit der Auszahlung zu warten, bis der Kontakt wieder hergestellt sei. Laut Senatsantwort bemühte sich die Sozialarbeiterin seit Juli, ihre Klientin zu erreichen, da eine Gerichtsgutachterin klären sollte, ob die seit 1999 verfügte Betreuung noch nötig war. Als die an Schizophrenie erkrankte Frau dann am 13. August im Sozialamt erschien, habe man sie "eindringlich gebeten", sich bei ihrer Betreuerin zu melden, um die "Fortzahlung der Sozialhilfe über den 31. August hinaus sicherzustellen".

Was aber nicht geschah. Das Sozialamt nahm am 11. November wieder Kontakt zur Betreuerin auf, um zu fragen, ob das Geld gezahlt werden solle. Ob die Frau da noch lebte, ist nicht klar, da der Senat keinen Todeszeitpunkt nennen kann. Eine Woche später erstattete die Betreuerin Vermisstenanzeige, was zum Leichenfund führte. "Es gab hier also ein Zusammenspiel zwischen Betreuerin und Sozialdienststelle", schlussfolgert Kienscherf, der nun in einer neuen Anfrage klären will, ob häufiger psychisch Kranken Sozialhilfe gesperrt wird. Ferner wundert ihn, dass der Todeszeitpunkt unbekannt sein soll, was kriminaltechnisch ermittelbar wäre."(...)


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etwas heraus fällt in dieser liste ein selbstmord in haft nach verweigerung des sog. offenbarungseides:

"Eine 61-jährige Untersuchungsgefangene hat sich in der Nacht zum gestrigen Freitag in ihrer Einzelzelle erhängt. Wie von einem Sprecher der Justizbehörde mitgeteilt wurde, war Heidemarie B. gegen 6.45 Uhr beim morgendlichen Aufschluss von einer Justizvollzugsbeamtin gefunden worden. Der Anstaltsarzt sei unverzüglich herbeigerufen worden, habe aber nur noch den Tod der Frau feststellen können. Hinweise auf eine Fremdeinwirkung liegen nicht vor, ein Motiv für den Selbstmord ist nicht bekannt. Dem Behördensprecher zufolge befand B. sich zur Vollstreckung einer Erzwingungshaft seit vergangenem Montag in der Untersuchungshaftanstalt. Dort hinein gebracht hatte sie laut NDR 90,3 die Weigerung, ihre Vermögensverhältnisse offenzulegen."

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juli 2005:

"Mann wollte im Feuer sterben
Seine jahrelange Arbeitslosigkeit hatte ihn völlig zermürbt

POCKAU - Grausamer Selbstmordversuch im Erzgebirge: Thomas W. (38) setzte sich in sein Auto, übergoss sich mit Benzin und zündete sich an. Doch er überlebte schwer verletzt, torkelte stundenlang durch den Ort. Erst dann fand ihn die Polizei - vier Kilometer vom Brandort entfernt.

Mitten in der Nacht klingelten die Beamten an der Haustür von W.s Familie. „Ihr Mann wollte sich das Leben nehmen“, teilten sie der Ehefrau (38) mit. Die hatte zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht bemerkt, dass ihr Thomas das Haus verlassen hatte. 40 Polizisten waren mit Fährtenhunden im Einsatz, suchten Wälder und Wiesen nach dem Flüchtenden ab. Jugendliche hatten ihn laufen sehen und den Notruf gewählt. Polizeisprecherin Heidi Hennig: „Vermutlich stand der Mann unter Schock.“

Der Pockauer war schon seit Jahren ohne Arbeit, litt sehr darunter. Seine Frau, selbst arbeitslose Kindergärtnerin, gestern zur Morgenpost: „Dass er so verzweifelt war, hätte ich nicht gedacht.“ Thomas W. liegt jetzt in einer Spezialklinik in Halle. Mehr als 70 Prozent seiner Haut sind verbrannt."


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februar 2005:

"Einen Tag nach der Zwangsräumung seiner Wohnung in Potsdam-Babelsberg ist ein 41-jähriger Mann erfroren. Wie die Polizei am Donnerstag mitteilte, entdeckten Spaziergänger den leblosen Mann am Mittwoch gegen 8.30 Uhr im Park Babelsberg. Andreas H. lag etwa 50 Meter vom Hauptweg entfernt hinter einer Böschung auf einem Teppich. Neben ihm wurden ein Rucksack und mehrere Bierflaschen gefunden. Ein Notarzt konnte nur noch den Tod des Mannes feststellen. Die Polizei schließt ein Fremdverschulden aus.

Erste Ermittlungen ergaben, dass Andreas H. erst einen Tag zuvor auf Beschluss des Amtsgerichts seine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung in der Tuchmacherstraße verlassen musste. Andreas H. lebte dort seit 1986. Seine Frau starb vor sechs Jahren an Krebs. Seit 2001 soll H. keine Miete und keine Betriebskosten mehr gezahlt haben. Daraufhin verklagte ihn der Wohnungseigentümer Ende April 2004. Die Mietrückstände von Andreas H. hatten sich zu diesem Zeitpunkt auf rund 9 000 Euro angehäuft. Da der Mann in dem Verfahren keinerlei Widerspruch einlegte, erging gegen ihn im November 2004 ein so genanntes Versäumnisurteil, in dem die Zwangsräumung angeordnet wurde. Auch dagegen wehrte sich Andreas H. nicht. Am Dienstag kam dann der Gerichtsvollzieher."(...)


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edit am 24.04.: bei fast allen der dokumentierten geschichten fällt etwas besonders krass auf: die haltung des rückzugs, der apathie und letztlich gegen sich selbst gerichteten aggression bei den betroffenen. um das zu verstehen, gibt es verschiedene ansätze - einen davon bietet die relativ neue strömung der relationalen psychoanalyse:

(...)"Sie geht von einem Verständnis des Menschen als Beziehungswesen aus und bemüht sich, diese Bezogenheit des Menschen in seinen psychischen, sozialen und ökonomischen Verhältnissen angemessen zu begreifen. Ausgangspunkt der Intersubjektiven Psychoanalyse ist nicht mehr ein isoliertes Triebwesen wie in der klassischen Psychoanalyse, sondern ein in seiner inneren Entwicklung durch seine Beziehungserfahrungen geprägtes Kind. Von dem bedeutenden englischen Psychoanalytiker Winnicott stammt der geniale Satz "There is no such thing as a baby" — d.h. so etwas wie ein isoliertes Baby gibt es nicht, das Baby ist nur zu verstehen als Teil seiner primären Beziehungswelt"(...)

was einen wichtigen schritt darstellt, um endlich wegzukommen vom quasi autistischen menschenbild der vereinzelten monade, welches bis heute in fast allen mainstreamdiskursen dominiert.

bei den folgenden aussagen zur erwerbslosigkeit als traumatischer erfahrung ist zu berücksichtigen, dass sie in dieser totalität vor allem bei menschen zutreffen dürften, die sich voll und alternativlos dem herrschenden normen- und wertesystem mit seiner bevorzugung der eigenen identitätskonstruktion über arbeit, leistung und erfolg (mitsamt den materiellen bequemlichkeiten, die wie zur dressur eingesetzt werden) ergeben haben - und kaum bis niemals eine eigene authentische identität entwickeln konnten, die sich aus der selbstverständlichen und liebevollen annahme ihrer selbst seitens der frühesten und wichtigsten bezugspersonen hätte ergeben können und sollen. mit dieser wichtigen voraussetzung im hinterkopf gelesen, bietet das folgende durchaus eine plausible erklärung für die auffällige und tödliche apathie an:

(...)"Die Konzepte der Relationalen Psychoanalyse geben uns damit auch einen unseres kritischen Maßstab an die Hand. Von der Notwendigkeit einer guten frühen intersubjektiven Erfahrungswelt des Kindes für dessen persönliche Entwicklung führt eine Grundlinie zur Notwendigkeit einer psychisch konstruktiven Gestaltung sozioökonomischer Großstrukturen für alle Gesellschaftsmitglieder. Die Großstrukturen müssen sich an den zentralen Lebensbedürfnissen und -rechten der Menschen orientieren — vor allem am Recht auf Verwurzelung, auf soziale Sicherheit, auf Arbeit und Bildung, auf demokratische Mitbestimmung — sie bieten damit die Grundlage für eine autonome Existenzgestaltung und Lebensplanung.

Das Trauma Arbeitslosigkeit
Mit der sozialstaatlichen Bändigung des Nachkriegskapitalismus erkämpften sich die Menschen wichtige Ansätze für psychosozial stabilisierende sozioökonomische Großstrukturen: Vollbeschäftigung, steigender Lebensstandard und die Errichtung von Strukturen, die dem Solidarprinzip und dem sozialen Ausgleich verpflichtet waren, entsprachen einer sozialen Verallgemeinerung des Sich-Kümmern um andere — dies ist auch das Reifungsprinzip der intersubjektiven Psychoanalyse.

Die Wende zum Neoliberalismus bedeutet eine krasse Veränderung hin zu einem psychodestruktiven ökonomischen und politischen Regime. Die sozialstaatliche Einbindung des Kapitalismus wird immer radikaler als Hemmnis für die ungehinderte Entfaltung der Herrschaft der Aktionäre begriffen, d.h. für die Orientierung am kurzfristigen Renditeziel und am Anstieg des Börsenkurses. Durch beschleunigte Rationalisierungsprozesse kommt es zu einer Entkoppelung von ökonomischem Erfolg und Beschäftigung, zum Wachstum ohne Arbeitsplätze. Massenarbeitslosigkeit wird nicht nur in Kauf genommen, sondern im Zuge permanenter Kostensenkungsstrategien durch Arbeitsplatzvernichtung sogar gefördert. Die Massenarbeitslosigkeit stellt die zentrale Traumatisierung durch den Neoliberalismus dar.

Die Arbeitslosigkeit als individuelle Traumatisierung führt zu desaströsen psychischen Belastungen und Schädigungen, die von Auflehnung und ohnmächtiger Wut zu depressiver Verzweiflung, Erschöpfung und zum Gefühl der Wertlosigkeit führen. Die verinnerlichten negativen Erfahrungen der psychischen Frühphase, in der das werdende Selbst sich noch nicht abgrenzen und wehren kann, werden im hilflosen Erleben der Ausgrenzung aus der Gemeinschaft der Erwerbstätigen reaktiviert. Nicht umsonst ist eines der am schwersten zu ertragenden Gefühle der Arbeitslosen das, überflüssig zu sein, nicht mehr gebraucht zu werden und daran selber schuld zu sein.

Das individuelle Trauma der Arbeitslosigkeit wird durch die neoliberalen Eliten zu einem sozialen Trauma gesteigert, vor allem vermittels der Ideologie der "freiwilligen Arbeitslosigkeit"; nach der neoliberalen Lehre kann es keine Arbeitslosigkeit geben, wenn man den Markt nur seiner Selbstregulation überlässt. Für die im Überfluss vorhandene Ware Arbeitskraft stellt sich der marktgerechte Preis automatisch her — und wenn er unter dem Existenzniveau liegt, haben ihre Besitzer eben Pech gehabt. Arbeitslosigkeit ist damit definitionsgemäß immer nur Folge eines zu hohen Preises der Ware Arbeitskraft und damit immer freiwillig. Die Ideologie der freiwilligen Arbeitslosigkeit ist ein Schlag ins Gesicht aller Opfer systematischer Arbeitsplatzvernichtung. Sie stellt eine Grundfigur traumatisierender Täter-Opfer-Verkehrung und Opferbeschuldigung dar. Sie bietet damit eine Legitimation ideologischer und sozialer Gewalt gegen die Opfer, die wahnhafte Züge trägt; zugleich stellt sie einen Anschlag auf deren moralische Persönlichkeit dar, der die Opfer entmenschlicht und dehumanisiert."(...)


entmenschlicht und dehumanisiert - die parasitenvergleiche seitens der herrschenden kriminellen zeigen ganz offensichtlich wirkung.

liebe leserin, lieber leser: ich fürchte, wir werden uns alle mit dem gedanken vertraut machen müssen, dass uns ein weiteres kapitel in der geschichte des kampfes gegen das bevorsteht, was letztlich auch die selektionsrampe von auschwitz hervorgebracht hat. nicht, dass es eine eins-zu-eins-wiederholung geben würde - die heutigen antisozialen haben viel raffiniertere techniken und methoden zur verfügung. das ergebnis bleibt jedoch immer gleich.
monoma - 23. Apr, 16:25

korrekturen

dante hatte auf diesen thread im elo-forum aufmerksam gemacht, bei dem es um den tod eines ein-euro-jobbers durch einen arbeitsunfall geht.

leider hast du dich beim emoticon offensichtlich vertippt, und weil ich das ergebnis dieses tippfehlers zunehmend unangemessen fand, habe ich deinen hinweis deswegen gelöscht - nicht wg. des inhalts. ich hoffe, du kannst das nachvollziehen.

mein eigener kommentar dazu ist leider bei der gelegenheit durch eigenes mißgeschick gleich auch noch im nirvana gelandet, deshalb in kürze nochmal:

ich finde nach ansicht des threads die meinung derjenigen plausibel, die mit verweis auf noch fehlende hintergrundinfos eher in die richtung argumentieren, dass es sich hier mindestens um einen tragischen arbeitsunfall, womöglich aber begünstigt durch fehlende(n) ausbildung bzw. arbeitsschutz, handelt. gerade letzteres ist nicht selten in solchen quasi zwangsarbeitsverhältnissen anzutreffen, in denen die betroffenen teils von den "arbeitgebern" noch rücksichtsloser behandelt werden als reguläre angestellte.

von daher würde ich diese geschichte - bei verifizierung des obigen verdachtes - eher als symptom der allgemein mieser werdenden arbeitsbedingungen in vielen bereichen ansehen.

dante (Gast) - 23. Apr, 23:47

Hatte ich etwa einen lachenden Emoticon getippt. Au sch...

Zum Inhalt: Mein Fehler war, den Thread im elo-Forum, den ich nur von seinen Anfängen her kannte und noch gebookmarkt war, kommentarlos zu posten. Insofern ist die Löschung völlig in Ordnung und ich hole den Kommentar hier einfach nach.

Meiner Meinung nach hat diese Tragödie mehrere Aspekte:

1. Die Ein-Euro-Jobs werden werden von vielen Menschen gegen ihren Willen und unter Androhung von Leistungskürzungen erzwungen. Diese haben dann nur die Wahl zwischen Pest und Cholera: Entweder zu wenig Geld zum (Über-)leben oder Zwangsarbeit leisten. Dieser menschenverachtende und menschenwürdeverachtende _Praxis_ im Umgang mit arbeitslosen Menschen scheint leider schon gesellschaftlich akzeptiert zu sein. Gedacht wurde so schon immer. Aber dass ein Mensch bei einer erzwungenen Arbeit stirbt, und sei es auch durch einen Arbeitsunfall, ist einfach nur noch pervers. (Sorry, mir fällt kein anderes Wort ein)

2. Die wenigsten dieser Ein-Euro-Jobs dienen der Eingliederung in den sog. ersten Arbeitsmakrt, was daran liegt, dass die Arbeit gemeinnützig sein muss und sonst nicht gemacht werden würde. Auf wieviele Berufe, die man am ersten Arbeitsmarkt findet, trifft das zu? Ich habe mal ne Liste mit Angeboten gesehen. Das geht von Möbelschleppen über Hilfe in der Jugendbetreuung bis zur Hilfsarbeit in der Küche bei den beiden großen religiösen Hilfswerken.

Letztere haben zusammen fast doppelt soviele Mitarbeiter als DaimlerChrysler und Siemens weltweit zusammen und agieren nicht nur gemeinnützig, sondern konkurrieren am Markt mit anderen freiberuflichen Gruppen. Durch ihre Größe und die Möglichkeit der Mischkalkulation aller ihrer Dienstleistungen drücken sie mittels Ein-Euro-Jobber so die Preise für freie soziale Dienstleister.

Ein weiterer Aspekt ist, dass also aufgrund der rechtlichen Vorausseztungen für die Ein-Euro-Jobs selbst ein großer Teil der Jobs im sozialen oder gemeinnützigen Bereich anfällt. Wie auch im Fall des verunglückten Wittener Ein-Euro-Jobbers: Hier war es die Naturschutzgruppe Witten, Biologische Station e.V., die den Job vergab. Das perverse ist hier, dass gerade diejenigen aus dem Lebensverhältnissen der Menschen und der aktuellen Gesetzeslage Vorteile für sich herausschlagen, die ja eigentlich im Sinne des Gemeinwohls unterwegs sind. Und das Zwangsarbeit (bitte auch mal im GG nachschlagen) nicht im Sinne der Gemeinschaft sein kann, ist nicht nur meine Meinung. Wenn diese gemeinnützigen Vereine nicht genug Geld oder nicht genug Freiwillige Vereinsangehörige hat, die die Arbeit machen, sollen sie eben kleinere Brötchen backen - müssen Arbeitslose ja auch! Davon aber zu profitieren, ist einfach nur schändlich. Es macht sie zum Mitläufer einer menschenverachtenden Politik, die den Zwang zur Arbeit als legitimen Bestandteil Ihrer und unserer Gemeinschaft betrachtet und dieses auch noch legalisiert.

So, jetzt ist es wohl mehr als ein Kommentar zum Link geworden, aber das musste mal gesagt sein. Ich muss morgen wieder zu meinem sehr tolerant gehandhabten Ein-Euro-Job und geh mal an der Matratze horchen.

Gute Nacht Euch allen da draußen
unkreativ.net - 23. Apr, 17:57

ich weis nicht, was ich sagen soll...

... ich bin traurig, wütend, hilflos. Ich würde gerne anpacken, richtig machen, Fehler korrigieren. Aber ich weiss nicht wie :-(

Perspektive2010 (Gast) - 24. Apr, 04:12

@unkreativ

Mit Reden, Wahlen und Protesten hat es nicht geklappt, die Reichen und Mächtigen zur Vernunft zu bringen. Dann bleibt nur noch eines: das Arbeitswerkzeug aus der Hand zu legen, seine Finger zur Faust zu ballen und gen Himmel zu recken. Wer unbedingt Kampf provozieren will, soll ihn bekommen.
monoma - 24. Apr, 09:29

ich hatte neulich mal...

...ein fazit gezogen, für das ich inzwischen ein ganzes gebirge von gründen sehe:

"hier gibt es nur noch eins: die totale aufkündigung jeglicher loyalität zu einem derartigen system. im ganz eigenen überlebensinteresse."

und das wird eine ganze menge harter arbeit bedeuten.
Anonymus (Gast) - 24. Apr, 15:44

«die Reichen und Mächtigen»

Es sind ja nichtmals nur «die Reichen und Mächtigen» die diese Praxis gutheißen. Ich denke gerade konkret an ein Buch, Die Reformfähigkeit der Sozialdemokratie von Wolfgang Merkel u.a., das die so genannte «Aktivierungspolitik» auf dem Arbeitsmarkt hoch obt. Sind nur Akademiker, die das schreiben, nicht Leute die selber ein klassenbasiertes Interesse daran haben. Aber die Art des Denkens ist nunmal zum «gesunden Menschenverstand» geworden, zu dem, was als «verantwortlich» gilt. Ich weiß nicht, ob man nicht doch wieder mit Marxens Begriff des «falschen Bewusstseins» ausgraben muss um zu erklären, warum sich sogar so genannte «Sozialisten» darauf einlassen, dass dem Kapitalisten das Recht zur Zwangsanwendung zwecks Steigerung der Profitrate zugesprochen wird. Denn darum geht es doch, wenn Leute in den Tod getrieben werden: die Profitrate (vulg. Wirtschaftswachstum) antreiben – koste es was es wolle.
wrs (Gast) - 1. Mai, 17:22

da die Blogosphäre -- dort die öffentliche Meinung

@unkreativ:

Ich hatte nicht gedacht, dass der Fall Speyer immer noch durch die Blogosphäre geistern würde. (Habe es erst heute mitbekommen.)

Andererseits sehe ich, dass wie die Blogosphäre mal wieder einen Schritt weiter ist als der Rest der Öffentlichkeit -- zumindest seitdem die Liste der in Zshg. mit Arbeitslosigkeit, Sozialhilfe-Abhängigkeit, Hartz IV, Stigmatisierung, Armut, Ausgrenzung aufgetretenen Todesfälle aufgetaucht und das Stichwort Triage gefallen ist.

Wieso muss diese Aufklärung (im Kantschen Sinne) immer nur auf die Blogosphäre beschränkt sein? Wieso bekommt die restliche Öffentlichkeit nichts davon mit?
monoma - 1. Mai, 17:40

kurze ergänzung

zum thema "triage" hatte che neulich schon darauf aufmerksam gemacht, dass sich derartige selektionsmechanismen auch in anderen bereichen finden lassen.

und die restliche öffentlichkeit?
die "mediale" hält größtenteils die klappe - und einen nicht unerheblichen teil der bevölkerung dürfte es geben, den es nicht interessiert und/oder der es gar beifällig benickt. und gerade diese letztgenannten verhaltensweisen ähneln frappant der haltung großer teile der "deutschen" bevölkerung vor 70 jahren.
wrs (Gast) - 1. Mai, 22:36

@Monoma

Ich denke, dass das beifällige Nicken teilweise darauf beruht, dass sehr viele Menschen einfach gar nicht bemerken, wie schlecht sie eigentlich durch die Massenmedien informiert werden.

Neulich sprach mich meine Mutter auf Schäubles "Einfälle" an. -- Klar, für Netizen ist das Thema lange durch und Schnee von gestern, aber das aus "der Welt da draußen" zu hören, hat mich erheblich überrascht.
 

Ich denke, es wäre eine gute Idee, ein Stück des Informiertseins innerhalb der Netz-Sphäre "nach draußen" abzugeben.
 

PS. Meine Mutter hört bevorzugt Deutschlandfunk, also nicht irgendwelches Dudelradio.
Kai (Gast) - 5. Jul, 13:53

das ist eine tolle Seite!

Ich finde die Beschreibungen außerordentlich gelungen, treffend und einfach nur toll. Ich kann (als noch-nicht-Arbeitsloser) absolut nachempfinden, was hier beschrieben wird und bin ein energischer Gegner unseres globalen Raubtierkapitalismus.
Ubue (Gast) - 24. Apr, 20:20

die totale Aufkündigung...

Monoma schrieb: "hier gibt es nur noch eins: die totale aufkündigung jeglicher loyalität zu einem derartigen system. im ganz eigenen überlebensinteresse."

mmh, in Mertzsprache: haben wir dann nicht wieder ein voll virulentes Verfolgungsintrojekt? Innerhalb einer Zweiwelten-Teilung: 1) das DERARTIGE System (wird sozusagen aus der eigenen Sphäre ausgesiedelt, exkretiert) . Und 2) die eigene Lebenswelt, GEGEN das abgeschobene, derartige System.

Dann den eigenen Radar ordentlich anschmeißen und den Horizont fürderhin nach feindlichen Systemzeichen absuchen.

Inhärentes Prinzip dabei: Steigerung. Werden feindliche Systemzeichen gefunden, diese listen plus verstärkte Wachsamkeit. Das DERARTIGE System als GEGENsystem zur eigenen existenzwelt begreifen bleibt ständige Bedingung.

Aufmerksamkeit auf die Schnittstellen zwischen beiden Systemen würde das eigene Verfolgungsintrojekt nur verunsichern. Kognitive Leitlinie: das Zweiwelten-System beibehalten, feindliche Intention des derartigen Systems immer dazu denken.

Hintergrundfigur: Ausstieg aus einem privaten DERARTIGEN System, das bereits frühzeitig lruinierende Wirkung ganz im Mertz'schen Sinne erzeugte. Das derartige System muß also ab jetzt außen positioniert werden, um innerlich nicht belastet zu bleiben.

Der Mechanismus wirkt dann im Sloterdijkschen Sinne auch sehr gut als Wutfänger (vgl. "Zorn und Zeit"). Die noch von früher her vorhandene (berechtigte) Wutenergie kann zusammengeführt werden und bekommt durch die neugeschaffene Adressatenbindung (kognitive Leistung!) überpersönliche Legitimation.

Aufgrund der Zweiwelten-Teilung in das "derartige System" und die "eigene Lebenswelt" kann der Exkretierungsprozeß der derartigen Welt folglich sehr gut auf Dauer weitergeführt werden. -

monoma - 24. Apr, 20:49

klar, schon ein...

...richtiger aspekt - bloß ist das wort, das ich betonen möchte, aufkündigung der loyalität - und damit meine ich konkret die aufkündigung möglichst vieler der kleinen "verträge" und kompromisse, die wir alle zwangsläufig seit beginn unserer existenz mit der gesellschaftsformation geschlossen haben, in der wir uns befinden.

meistens zwar, ohne überhaupt zu begreifen, das, was und warum wir das tun - aber genau da geht´s dann mit der eigenen wahrnehmungsschärfung auch los, muss es los gehen (wie die geschichte ausreichend gezeigt hat, reicht die reine veränderung bzw. auch zerstörung von eher symbolhaften äußeren strukturen nicht aus ).

irgendwann heute abend kommt noch ein beitrag zum thema angst, weil ich darüber gerade an anderer stelle gestolpert bin. und ich bin bei den neuen alten informationen darüber gerade schon wieder auf 180: dieses system (ich bleibe mal bei dem begriff, weil er am besten den maschinenhaften und konstruktivistischen aspekt erfasst, durch den sich extremkapitalistische gesellschaften mehr und mehr "auszeichnen"), dieses system also arbeitet und beruht in einer art und weise und in einem ausmaß auf angst, welches mir selbst gerade erst so langsam in den möglichen dimensionen klar wird. das potenziell traumatische gewalt, auch in ihren versteckten formen, dabei ein zentrales instrument der disziplinierung und einschüchterung darstellt, vermute nicht nur ich schon seit längerer zeit.

wir müssen mit diesem inzwischen lebensgefährlich werdenden quatsch schluß machen und aufräumen. bisher haben wir als bewohner des westens das ganze elend unserer lebensweise noch mehr oder weniger im (halluzinierten) "außen" der elendszonen des planeten deponieren und vergessen können, jedenfalls leider mehrheitlich. das konnte auf dauer niemals funktionieren.

und jetzt drängt die realität aus diesen zonen mehr und mehr zurück und rückt uns in ihren teils blutigsten formen direkt auf die pelle, was vielleicht auch ein grund für die versuchte expansion der zonen des als-ob ist, bzw. die flucht in die virtualität. aber auch dieses im kern völlig wahnsinnige manöver kann nicht funktionieren, nur um den preis der eigenen selbstzerstörung.

egal, aus welcher perspektive ich mir die zustände auch betrachte: die "party" namens westlicher lebensstil ist zu ende. definitiv. jedes weitere aufschieben dieser einsicht und v.a. der daraus folgenden konsequenzen ist untrennbar verbunden mit einer täglich größer werdenden existenziellen gefährdung all dessen, was sich als unsere menschliche substanz begreifen ließe, ja inzwischen sogar der biologischen und ökologischen grundlagen unserer existenz.

und darum: totale aufkündigung der loyalität.
sansculotte (Gast) - 28. Apr, 14:22

@ubue

entschuldige, aber Deine sichtweise kommt mir wieder wie ein versuch daher, die ursache für die berechtigte reaktive wut in das vereinzelte individuum umzuschachern: introjekt. wenn ich das wort nur höre, rollen sich mir die zehennägel auf. jedes introjekt hat schließlich eine materielle basis, eine objektive schablone, eine gegenständliche ursache. introjekte fallen nicht vom himmel, und der nette terminus "verfolgungsintrojekt" gibt dem ganzen noch so eine richtig schöne, gruselige, paranoide note.

also lassen wir das gerede vom "introjekt". im übrigen wird das "derartige" system - wobei Du "derartig" hartnäckig groß schreibst, wohl um darauf hinzuweisen, dass es sich bei diesem system um einen stereotypen topos, eine stehende figur handelt - hier im blog auf so vielfältige weise differenziert betrachtet und untersucht, dass allfällige introjekte, die dieser detaillierten beschreibung gerecht werden könnten, gar nicht damit nachkämen, erzeugt zu werden. du kannst also beruhigt davon ausgehen, dass der realitätsgehalt und die wirklichkeit "derartiger systeme" weit über ein bloßes introjekt hinausgeht.

im übrigen: was hast du gegen wut? wut ist eine äußerst gesunde reaktion. die erste hilfsmaßnahme, die ein baby ergreift, wenn seine bedürfnisse verletzt werden ist die protestreaktion. und aggression tritt in menschlichen beziehungen vielfach dann auf, wenn die beziehung gefährdet ist. es gibt hunderte arbeiten darüber, der new yorker psychologe paul zak hat zB unlängst wieder beschrieben, wie der entzug von vertrauen, also eine störung der beziehung, zur unmittelbaren ausschüttung großer mengen des aggressionshormons dihydrotestosteron (dht) führt. aggression, v.a. reaktive und emotional motivierte (also nicht die "kalte", gedanklich vorbereitete und kognitive elaborierte A.), scheint also ein versuch zu sein, schmerzen, die durch vertrauensentzug, demütigung oder vernachlässigung hervorgerufen wurden, zu bewältigen. zu empfehlen sind hier auch die leicht lesbaren veröffentlichungen von joachim bauer, z.B. "Prinzip Menschlichkeit":

ich gerate in "gerechten zorn", wenn schon wieder mal jemand diese natürlichen psychophysischen reaktionen verkopft wegzurationalisiseren versucht;-)
gruß, s
kandinsky (Gast) - 24. Apr, 21:31

...den Blick mal in eine etwas andere Richtung

Hallo Mo :), liebe Leute, Mitleser, Mitbetroffene,

den Blick mal in eine etwas andere Richtung gelenkt. Das "System" dadurch mit einem anderen Blickwinkel betrachtet...., denn! wir stehen zweifelsohne am Abend eines Systemcrashes, einem Ende des bisher existierenden Systems. Ob es hernach besser wird?, bleibt abzuwarten, denn es liegt auch in unserer Hand, die Richtung nach dem Zusammenbruch der westlichen Welt maßgeblich zu ändern. Was ich meine? Hier ein paar Links, um sich einen Überblick um die wesentlichen Dinge zu verschaffen. Wenn hier zumindest eine Ahnung von dem bekommt, was hier auf uns zurollt, kann sich deutlich besser vorbereiten..., sowohl währenddessen, als auch danach.

Links:
http://hartgeld.com/systemkrise.htm
http://www.f28.parsimony.net/forum68339/index.htm
http://www.goldseiten-forum.de/board.php?boardid=10&sid=3ce83543de855fdaaaaf2db7f12a3541
http://www.goldseiten-forum.de/board.php?boardid=3&sid=3ce83543de855fdaaaaf2db7f12a3541

@Mo, wie du vielleicht bemerkst, bekomme ich meine Resignation ein wenig in den Griff, aber auch nur ein wenig....:)

Gruss,
Kandinsky

gk (Gast) - 24. Apr, 21:45

Schöne Worte

>"hier gibt es nur noch eins: die totale aufkündigung jeglicher loyalität zu einem derartigen system. im ganz eigenen überlebensinteresse."
Und wie soll das konkret aussehen?
monoma - 24. Apr, 22:53

@gk

ich glaube, dass es dafür keinen allgemeingültigen plan geben kann - die jetzige situation ist historisch ohne beispiel, und wir werden viel herumexperimentieren müssen. aber der einstieg dürfte für viele vielleicht so aussehen, wie es ein kommentar zum "zeit"-artikel über angst ganz gut beschreibt:

"Es wird einem überall dieses Bild vom richtigen Leben vorgehalten: Karriere, Geld, Status, Bildung, viele Freunde, eine harmonische Partnerschaft, häufiger Sex und noch vieles mehr. Schafft man es, sich davon zu lösen, so ist man frei. Auch frei von Angst."

nichts gegen bildung, viele freunde, gute partnerschaften und sex. aber als von außen vorgegebenes muss, dem blind und ohne kenntnisse der eigenen aktuellen und weiterreichenden bedürfnisse sowie deren hintergründen(!) nachgerannt wird, wird das eher zu einem erbärmlichen und freudlosen rattenrennen (die ersten drei kategorien betrachte ich eh für ein erfülltes leben keineswegs als notwendig, auch wenn das leidige geld heute noch eine zwangsveranstaltung darstellt). und auch, wenn ich für die freiheit - ich würde es eher die wiederkehr der eigenen authentischen fähigkeiten nennen, die echte freiheit von fremdbestimmung im sinne von angemaßter herrschaft überhaupt erst möglich machen - noch die voraussetzung sehe, dass es auch immer um die freiheit und das wohlergehen anderer menschen geht, den kommentar hier also zu beschränkt finde - grundsätzlich finde ich den gedanken schon sehr treffend.

danach? wird´s vermutlich eine sehr spannende entdeckungsreise ;-)
kandinsky (Gast) - 24. Apr, 21:42

...noch was vergessen

Einen wichtigen, wenn nicht den wichtigen Link überhaupt, habe ich ganz vergessen.

Den hier: http://www.leap2020.eu/GEAB-in-Deutsch_r27.html?PHPSESSID=8779e2208750f07cc14228db4af8e038

kandinsky

Ubue (Gast) - 25. Apr, 00:24

So funktionieren Menschen...

@ Monoma: mir fällt weder in meinem obigen Beitrag zu der "Aufkündigung" noch in Deiner sehr guten Replik eine interne Schwäche der Argumentation auf.

Ich glaube, es läuft auf eine Akzentverschiebung hinaus, dann könnten wir an dieser Stelle auch beide Zustimmung erhalten. Diese Akzentverschiebung würde auf die SCHNITTSTELLEN zwischen eigener Lebenswelt und "derartigem System" gehen.

Mir ist dieser Gedanke letztens schon klarer geworden, wir hatten es ja andiskutiert. Das Problem, das ich sehe, ist einfach, daß ohne die Schnittstelle das ganze intellektuell sehr einfach gestrickt wird: man hat dann letztlich eine feindliche Außenwelt des Systems, und die eigene Lebenswelt in Opposition dazu.

Dann wird nicht mehr genug deutlich, wieso eigentlich das "derartige System" dermaßen extrem lebensdominant werden konnte. Das wird durch die eigenen Bezüge deutlicher. Mertz war hier auf der Spur, als er vom "perfekten Erfüllungsgehilfen" (Als-ob-Mensch) sprach, hat den Gedanken dann aber auch wieder beiseite gelassen.

Außerdem wird mir immer deutlicher, daß sich - unbemerkt - oft zwei Kreise vermischen: der Bereich der privaten Familienerfahrung, und der Bereich der öffentlich-globalen Sphäre.

Interessant ist allemal, daß ein Verfolgungsintrojekt fast immer in der familiären Sphäre gezündet werden dürfte, und zwar sehr früh in der Kampfebene objektivierter Verhältnisse.

Besonders zu denken gegeben hat mir letztens auch Deine Bemerkung zum Verfolgungsintrojekt, dieses sei mehr eine Art Nebenprodukt oder Begleiterscheinung.

Das glaube ich mittlerweile überhaupt nicht mehr. Wenn man sich das genau ansieht, bildet das Verfolgungsintrojekt, einmal gezündet, sofort die Speerspitze der gesamten Wahrnehmung, sozusagen wie ein Fernglas oder meinetwegen auch eine Lupe, mit der man jetzt die Welt betrachtet.

So ein Introjekt braucht auch Nahrung, es ist sogar sehr hungrig, wenn es mal aktiv wird. Ich glaube, daß in den wenigsten Fällen jemand selbst erkennt, wenn er später das ursprünglich privat-familiär entstandene Verfolgungsintrojekt auf einen öffentlichen Systembereich zu übertragen beginnt.

Die Güte der Erkenntnisse wird dann meistens aber doch zunehmend schlechter, weil das Verfolgungsintrojekt die Antwort immer schon vorher kennt. Privat sind die Würfel ja auch schon längst gefallen, hier war eine objektivierende Kampfebene dauernd aktiv, die als Ergebnis ein Verfolgungsintrojekt entstehen ließ.

Das gesamte Gefühl dazu ist ja stimmig, zurecht empfindet man so. Nur der Übersteiger auf die globale Sphäre ist nicht mehr so logisch sauber. Da ist zwar die private Gefühlsenergie aktiv, die von früher, aber es werden neue Kognitionen untergeschoben.

Das wird dann noch kausaler, wenn man die private Kampfwelt verlassen hat (Trennung von der objektivierenden Herkunftsfamilie). Dieses Trennungsmuster hat mich eigentlich schon lange besonders beschäftigt, es bleibt ja nicht folgenlos.

Ich vermute sogar, wenn man die Herkunftsfamilie trotz ihrer ungünstigen objektivierenden Kampfzone nicht abtrennt, sondern lange daran arbeitet, damit besser, vor allem differenzierter umgehen zu lernen, entlastet man allmählich auch das Verfolgungsintrojekt.

So funktionieren Menschen. -
gk (Gast) - 25. Apr, 19:36

Klar, Freiheit von diesen Zwängen wäre großartig. Eine positive Definition von Zukunft ist das aber leider nicht :-(

Im Übrigen ist die historische Einzigartigkeit ein Scheinargument, jede Situation ist einmalig und ich weiß nicht, ob grundsätzlich zum Beispiel die Einführung von Gemeineigentum nicht sinnvoll wäre.
monoma - 27. Apr, 11:01

@ubue

deine antworten überfordern mich in einem gewissen sinne, weil mir dazu meist so viel einfällt, dass ich nicht hinterherkomme - das kannst du auch als kompliment verstehen ;-)

zum punkt mit dem verfolgungsintrojekt: um das klarer werden zu lassen, wie ich meine damalige bemerkung meinte, ist es aus meiner sicht eigentlich notwendig, sich näher mit dem thema paranoia incl. ihren neurobiologischen grundlagen zu beschäftigen. das ist eh länger vorgemerkt, ich werde in den nächsten zwei wochen aber kaum dazu kommen. würde dann gerne an dem punkt weitermachen.

ps: schick mir doch mal bitte deine mailaddy.
monoma - 27. Apr, 11:11

@gk

ich bin vermutlich nicht der einzige, der findet, dass sich positive zukunftsvisionen heute v.a. aus der negation des herrschenden elends entwickeln lassen. und zwar, wie schon gesagt, keinesfalls im sinne eines plans, sondern eher als grobe wegmarken.

veränderung der eigenen wahrnehmung sowie auch der eigenen bedürfnisse stellt dabei eine absolut notwendige basis dafür dar - die alleine nicht ausreichend ist, schon klar, aber eben im zusammenspiel mit dem herkömmlichen - hm, "politikspiel" einiges dazu beitragen kann, unsere jeweiligen wahrnehmungstunnel so zu erweitern, dass tatsächliche und lebensfähige alternativen deutlich werden.

das war jetzt wider hübsch abstrakt ;-) , aber in nicht zu ferner zukunft kann ich das hoffentlich wesentlich genauer beschreiben.

und noch zur "historischen einzigartigkeit": klar hast du mit deinem punkt recht, aber ich meinte nicht die banalität im sonstigen sinne dieser aussage, sondern finde, dass es tatsächlich eine dimension der veränderung in allen möglichen bereichen gibt - virtualität, beschleunigung, technische entwicklung, vorläufige durchsetzung des kapitalismus in seinen diversen varianten als globales system - , die im zusammenspiel etwas ergibt, was sich gerade qualitativ von vielen beliebigen punkten in der bisherigen geschichte stark unterscheidet.
monoma - 27. Apr, 11:14

@kandinsky

mehr zu deinen links - danke dafür - wenn ich mit dem lesen soweit durch bin. das kann aber noch dauern, weil ich speziell die nächsten tage stark beschäftigt bin.
Ubue (Gast) - 29. Apr, 02:24

@ Sansculotte und Monoma :-)

Hoffentlich erscheint der Kommentar jetzt da, wo er am besten hinpaßt...

@ Sansculotte:
Sansculotte schrieb:"entschuldige, aber Deine sichtweise kommt mir wieder wie ein versuch daher, die ursache für die berechtigte reaktive wut in das vereinzelte individuum umzuschachern: introjekt."

- würde eigentlich sagen, ich schachere nicht um, sondern versuche nur zu beobachten.

"wenn ich das wort nur höre, rollen sich mir die zehennägel auf. jedes introjekt hat schließlich eine materielle basis, eine objektive schablone, eine gegenständliche ursache. introjekte fallen nicht vom himmel, und der nette terminus "verfolgungsintrojekt" gibt dem ganzen noch so eine richtig schöne, gruselige, paranoide note."

- ja ok, es ist halt ein bisserl im "Mertz-Jargon" geschrieben, wäre sonst bei mir auch nicht erste Wahl. :-)

"also lassen wir das gerede vom "introjekt". im übrigen wird das "derartige" system - wobei Du "derartig" hartnäckig groß schreibst, wohl um darauf hinzuweisen, dass es sich bei diesem system um einen stereotypen topos, eine stehende figur handelt - hier im blog auf so vielfältige weise differenziert betrachtet und untersucht, dass allfällige introjekte, die dieser detaillierten beschreibung gerecht werden könnten, gar nicht damit nachkämen, erzeugt zu werden. du kannst also beruhigt davon ausgehen, dass der realitätsgehalt und die wirklichkeit "derartiger systeme" weit über ein bloßes introjekt hinausgeht."

- bezweifele ich auch gar nicht, mir ging es am meisten um die Verbindungsstellen von derartigem System und persönlicher Ebene. Groß geschrieben habe ich zum "Betonen".

"im übrigen: was hast du gegen wut? wut ist eine äußerst gesunde reaktion. die erste hilfsmaßnahme, die ein baby ergreift, wenn seine bedürfnisse verletzt werden ist die protestreaktion. und aggression tritt in menschlichen beziehungen vielfach dann auf, wenn die beziehung gefährdet ist. es gibt hunderte arbeiten darüber, der new yorker psychologe paul zak hat zB unlängst wieder beschrieben, wie der entzug von vertrauen, also eine störung der beziehung, zur unmittelbaren ausschüttung großer mengen des aggressionshormons dihydrotestosteron (dht) führt."

- finde ich sehr interessant. Gegen Wut habe ich nicht unbedingt was. Mich interessiert allerdings, wie weit diese Wut dann differenziert auftritt, oder z.B., inwieweit die ganzen Kognitionen immer feindseliger werden. Ansonsten siehe oben: mich interessieren besonders die Verbindungsstellen zwischen "derartigem System" und Person. Da kommt meines Erachtens dann erst wirklich was raus, der Output wird dann zwar quantitativ schmaler, aber qualitativ noch wesentlich ergiebiger.

"aggression, v.a. reaktive und emotional motivierte (also nicht die "kalte", gedanklich vorbereitete und kognitive elaborierte A.), scheint also ein versuch zu sein, schmerzen, die durch vertrauensentzug, demütigung oder vernachlässigung hervorgerufen wurden, zu bewältigen. zu empfehlen sind hier auch die leicht lesbaren veröffentlichungen von joachim bauer, z.B. "Prinzip Menschlichkeit":

- das ist eine interessante Geschichte, würde ich mir auch gerne näher ansehen.

"ich gerate in "gerechten zorn", wenn schon wieder mal jemand diese natürlichen psychophysischen reaktionen verkopft wegzurationalisiseren versucht;-)
gruß, s"

- also besonders gut verstanden fühle ich mich nicht von der Intention her. Es geht doch auch um die Effektivität von Wut oder um das Leerlaufen von Wut, das nur zu leicht in einem paranoiden Sackbahnhof enden und dauerkreiseln kann.

- besonders "anders", als Du möglicherweise annimmst, denke ich in Bezug auf das Unterdrücken oder Nichtunterdrücken von Wut, da bin ich nicht für das Unterdrücken oder Kontrollieren - das würde doch nur zu noch mehr Ausbrüchen führen - betrifft das Feld der Emotionsregulierung, das ich sehr spannend finde! Gruß zurück! Ubue

Monoma schrieb:
"deine antworten überfordern mich in einem gewissen sinne, weil mir dazu meist so viel einfällt, dass ich nicht hinterherkomme - das kannst du auch als kompliment verstehen ;-)"

:-) :-) :-)

zum punkt mit dem verfolgungsintrojekt: um das klarer werden zu lassen, wie ich meine damalige bemerkung meinte, ist es aus meiner sicht eigentlich notwendig, sich näher mit dem thema paranoia incl. ihren neurobiologischen grundlagen zu beschäftigen. das ist eh länger vorgemerkt, ich werde in den nächsten zwei wochen aber kaum dazu kommen. würde dann gerne an dem punkt weitermachen.

- Das ist eine ganz hervorragende Idee. Weißt Du, ich glaube, der Blog würde dadurch nochmal eine neue Ebene dazu gewinnen. es wäre Zeit, die soziologische und die psychologische Ebene öfter mal zusammenzuführen, diese führen doch oft ein Eigenleben.

Es entstünde dann wahrscheinlich noch eine übergeordnete, dritte Qualität. Du hattest doch mal bemerkt (finde das Zitat gerade nicht), das "Verfolgungsintrojekt" sei nur eine Art Nebenprodukt oder Beiwerk. Da habe ich widersprochen. Ich meine, Mertz würde da auch widersprechen.

Ich selber würde sagen: Je mehr und je besser man dieses Verfolgungsintrojekt erkunden würde, desto offener müßten doch auch die Antworten sein, zu denen man gelangt. Sonst wäre wie bei Hase und Igel das Verfolgungsintrojekt sozusagem immer schon erster. Das kann man auch sehr schön bei all' den quälenden Geschichten sehen, wo jemand im Stile eines heißgelaufenen Verfolgungsintrojekts sehr großen quantitativen Output hat - über Leserbriefe, Petitionen, Pamphlete, verteilte Zettel, Foren usw. usf. Beim üblichen "Querulanten" ist das dann in der Dosis bis ins Ansurde gesteigert (wobei er natürlich recht haben kann und das dann tragischerweise auch nichts mehr nützt).

Übrigens scheint es ungeheuer schwer, selber das eigene Quantum Verfolgungsintrojekt wirklich gut zu Gesicht zu bekommen. Es scheint dementsprechend auch fast unmöglich, einen Querulanten aus seinem ausufernden Heißlaufen herauszureden. Weißt Du, was dabei das Entscheidendste ist? Die wirkliche Kommunikation ist in diesen Fällen bereits völlig unterbrochen.

Deshalb glaube ich, die Analysen wären noch besser, wenn man bei systemkritischer Grundeinstellung auch sozusagen das "eigene Werkzeug" noch etwas säubert und besser zu verstehen lernt. Genau dies macht der übliche Paranoiker wohl nie. Man kann sich an den Extremfällen immer sehr viel abgucken auch über die milden Zustände, insofern wird das Thema eben auch für mich selber oder bei dem Thread hier interessant, ebenso bei allen Borderline-Geschichten, die ohne heftiges inneres Verfolgungsintrojekt via Kampfgeschehen doch letztlich undenkbar sind. Gruß Ubue

sansculotte (Gast) - 29. Apr, 10:39

Guter Punkt

ubue schrieb:
"Gegen Wut habe ich nicht unbedingt was. Mich interessiert allerdings, wie weit diese Wut dann differenziert auftritt, oder z.B., inwieweit die ganzen Kognitionen immer feindseliger werden."

Des Pudels Kern, würd ich mal sagen. Du weißt ja auch, dass Gefühle und Haltungen (von "Kognitionen" würde ich in dem Zusammenhang nicht sprechen), die nicht ausgedrückt werden dürfen, also sozusagen nicht in eine fließende Homöostase der Emotionen (da berühren wir die Emotionsregulierung) eingehen, durch gewisse Prozesse, die in den emotionsregulierenden Zentren des Gehirns (Amygdala, limb.System) stattfinden, verallgemeinert und fixiert werden. Das heisst: Wut, die verboten wird, verschwindet nicht so einfach. Sie bleibt bestehen, wird generalisiert und verfestigt. Noch schlimmer, wenn dann ein "Wut-Tabu" hinzukommt, also der vermeintlich bedrohliche "Rückstau" an Wut noch verdeckt und vertuscht werden muss, weil ihr Ausdruck gesellschaftlichen Sanktionen und Restriktionen unterworfen ist (aus ebendem dem Grund, dass er als "bedrohlich" erlebt wird) - dann wird diese "Emotionsregulierung" wirklich zu einem die gesamte Gesellschaft erfassenden Problem.

Ich glaube, wir leben in einer latent wütenden, aber diesen Umstand fast perfekt camouflierenden Gesellschaft. Die aus unseren gewalttätigen Anfangsbeziehungen herrührende Wut ist dermaßen weit verbreitet und generalisiert, dass sie nicht weiter auffällt: potenziell gefährliches und amokähnliches Verhalten im Straßenverkehr, die brutalen Intrigen im täglichen "Konkurrenzkampf" am Arbeitsplatz, rücksichtsloses Vorgehen in fast allen Lebensbereichen - das alles weist auf eine enorm hohes Niveau an verdeckter Wut hin.

Was verfestigte, aber camouflierte Wut im einzelnen anrichtet, kann ohnehin bei der bl-Persönlichkeit unverfälscht studiert werden: sie wird zum Wesenskern - d.h. sie bildet den Kern der Persönlichkeit und das einzige, was beim bl mEn authentisch ist, ist seine Wut. Da sie aber als extrem bedrohlich erlebt wird und selbst das kognitive Gerüst des Betreffenden zu überwältigen droht, wird sie zurückgedrängt, bis nur noch eine kaum wahrnehmbare Irritation übrig bleibt und ihre gewaltige Energie zur Aufführung der zahlreichen Simulationsspielchen des bl genutzt werden kann.

Ich fürchte, der bl "tut immer nur so als-ob", weil das einzig Authentische in ihm seine überwältigende Wut ist. Ließe sich das nicht auch therapeutisch nutzen?
Gruß, s
Ubue (Gast) - 30. Apr, 01:40

@ Sansculotte: und die unterdrückte Trauer

Sansulotte schrieb: "Des Pudels Kern, würd ich mal sagen. Du weißt ja auch, dass Gefühle und Haltungen (von "Kognitionen" würde ich in dem Zusammenhang nicht sprechen), die nicht ausgedrückt werden dürfen, also sozusagen nicht in eine fließende Homöostase der Emotionen (da berühren wir die Emotionsregulierung) eingehen, durch gewisse Prozesse, die in den emotionsregulierenden Zentren des Gehirns (Amygdala, limb.System) stattfinden, verallgemeinert und fixiert werden. Das heisst: Wut, die verboten wird, verschwindet nicht so einfach. Sie bleibt bestehen, wird generalisiert und verfestigt."

- überlege gerade, ob ich das weiß, also jeder hat ja so seine eigenen Lieblingsquellen und Lesefrüchte, mir ist das aber auch intuitiv ziemlich klar.

"Noch schlimmer, wenn dann ein "Wut-Tabu" hinzukommt, also der vermeintlich bedrohliche "Rückstau" an Wut noch verdeckt und vertuscht werden muss, weil ihr Ausdruck gesellschaftlichen Sanktionen und Restriktionen unterworfen ist (aus ebendem dem Grund, dass er als "bedrohlich" erlebt wird) - dann wird diese "Emotionsregulierung" wirklich zu einem die gesamte Gesellschaft erfassenden Problem.

- Damit habe ich mich in der Tat auch befaßt. Es scheint mir wirklich haargenau wie Du schreibst zu sein, wobei die Frage ist, wie verbreitet dieses Wissen wirklich ist. Ich würde mal schätzen, vielleicht 20 oder 30 % der Bevölkerung maximal ist sich dessen bewußt, der ganze Rest hat einfachere und oft auch genau umgekehrte und durchaus ungünstige Vorstellungen (nach dem Motto "Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser").

"Ich glaube, wir leben in einer latent wütenden, aber diesen Umstand fast perfekt camouflierenden Gesellschaft."

- Ja, sehr interessante These. Hast Du mal in Sloterdijks "Zeit und Zorn" reingesehen? (oder hieß es jetzt "Zorn und Zeit"?) Da geht er ja systematisch diesen Gedanken nach, spricht von Zornsammelstellen bzw. Zornbanken, in ganz verschiedenen Systemen ähnlich aktiv. Solche "Zornsammelstellen" haben sowohl die Nationalsozialisten im 3. Reich bereitgestellt, als auch die Vereinigten Arbeiterklassen beim kommunistischen Klassenkampf. Wirklich wutentlastet sind wir heute aber auch nicht, wahrscheinlich eher im Gegenteil.

"Die aus unseren gewalttätigen Anfangsbeziehungen herrührende Wut ist dermaßen weit verbreitet und generalisiert, dass sie nicht weiter auffällt: potenziell gefährliches und amokähnliches Verhalten im Straßenverkehr, die brutalen Intrigen im täglichen "Konkurrenzkampf" am Arbeitsplatz, rücksichtsloses Vorgehen in fast allen Lebensbereichen - das alles weist auf eine enorm hohes Niveau an verdeckter Wut hin.

- ja, da stimme ich zu. Es geht dann in dem Wut-Kontinuum bis hin zu den sogenannten "Amokläufen", wozu Monoma ja letztens auch geschrieben hat.

"Was verfestigte, aber camouflierte Wut im einzelnen anrichtet, kann ohnehin bei der bl-Persönlichkeit unverfälscht studiert werden: sie wird zum Wesenskern - d.h. sie bildet den Kern der Persönlichkeit und das einzige, was beim bl mEn authentisch ist, ist seine Wut."

- auch da Zustimmung, vielleicht mit ein bißchen Differenzierung dazu. Es würde mir sicher sehr viel Spaß machen, darüber mal genauer zu diskutieren. Der ganze Wutapparat des Borderliners scheint letztendlich ein sekundärer zu sein, sekundär deshalb, weil diese Wut enorm stark durch Gedankenmuster und gedankliche Annahmen vermittelt wird. Statt diese Wut authentisch zu nennen, würde ich eher sagen, sie ist zutiefst logisch, ich meine damit: sie ist ganz folgerichtig aus den Lebenserfahrungen abgeleitet.

- Genauso könnte man umgekehrt auch sagen, die Wutunterdrückung ist beim Borderliner authentisch, wobei auch hier "logisch" im Sinne von folgerichtig es wohl noch besser treffen würde. Eigentlich funktioniert es doch so: erst kommt die Wutunterdrückung als gelernte Erfahrung, dann kommt es zu immer größeren Spannungsquanten, die einschießen, und dann kommt es zu unkontrollierbaren Wutausbrüchen. Folgerichtig wird nun noch mehr Wert auf Wutunterdrückung gelegt, es kommt zu noch größeren Spannungseinschlägen, und dann zu noch heftigeren Wutausbrüchen. And so on. Der authentische Teil besteht dabei in der natürlichen Neigung zu starken Gefühlen, der aufgezwungene Teil in der Anleitung zum Unterdrücken durch die Umgebung, konsequent über Jahre eingelernt.

"Da sie aber als extrem bedrohlich erlebt wird und selbst das kognitive Gerüst des Betreffenden zu überwältigen droht, wird sie zurückgedrängt, bis nur noch eine kaum wahrnehmbare Irritation übrig bleibt und ihre gewaltige Energie zur Aufführung der zahlreichen Simulationsspielchen des bl genutzt werden kann."

- Wobei es einen interessanten Zusammenhang zur unterdrückten Trauer bei BL gibt, ich glaube hieraus resultiert sogar noch viel mehr Energie als aus der unterdrückten Wut. Wenn man sehr genau hinsieht, scheinen viele der enormen BL-Wutanfälle in Wirklichkeit aus unterdrückter Trauer heraus zu explodieren. Ich bin ziemlich sicher, daß das so ist, oberflächlich sieht es zwar nicht unbedingt so aus, hintergründig scheint es aber genau so abzulaufen.

Ich fürchte, der bl "tut immer nur so als-ob", weil das einzig Authentische in ihm seine überwältigende Wut ist. Ließe sich das nicht auch therapeutisch nutzen?"

- wie meinst Du das jetzt? LG! Ubue

sansculotte (Gast) - 1. Mai, 16:16

Natürlich

ist die Gewichtung auf die Wut etwas einseitig.

Der simulationsdominierte Common Sense fürchtet überhaupt die elementaren Emotionen: Wut, Trauer, Angst - und hat sie allesamt mit Tabu belegt. Denn die Vermeidung dieser elementaren Emotionen hält Herrschaftszusammenhänge und Machtansprüche aufrecht und setzt die Spirale nicht enden wollender Ersatzhandlungen in Gang, die die Menschen so hübsch beherrschbar und ausbeutbar macht.

Gerade zur Trauer fällt mir ein, dass diese Tabuierung eine sehr subtile ist: es ist zwar erlaubt, zu trauern, aber doch nur innerhalb eines sehr eng gewählten Kontexts: so soll es bitteschön nicht zu lange dauern und an der richtigen Stelle und aus den richtigen Gründen muss es auch sein. Und bitte kein Selbstmitleid! (Diese Forderung ist von einer geradezu aberwitzigen Logik: wer, wenn nicht ich selbst, sollte Mitleid haben mit mir?) Dass man Menschen, die einen Angehörigen oder Freund verloren haben, eine Schonfrist von einigen wenigen Wochen eingesteht, wird jeder bestätigen. Aber spätestens nach etwa drei Monaten sollte mit voller Kraft weitergepowert werden, ansonsten hat man ein Problem. Und das Vergießen von Tränen aus den "richtigen Gründen" ist überhaupt eines bizarrsten Kapitel unserer Simulationswelt: so ist es in Ordnung, beim Anblick eines lahmen Fetzen Stoffes, der an einer Eisenstange hochgezogen wird, feuchte Augen zu bekommen, v.a. an bestimmten Tagen und aus gegebenem Anlass, aber wegen körperlicher oder gar "seelischer" Schmerzen zu weinen ist immer noch verpönt und wird "larmoyant" und "wehleidig" genannt. Wie gesagt: bizarr das Alles.

Der Zusammenhang zwischen Wut und Trauer ist tatsächlich ein sehr enger und vielfach übersehener. Wenn ich nun intuitiv und introspektiv argumentieren darf (ohne dass ich diese Vermutungen zunächst durch Wissenschaft stützen kann): nicht das gewünschte Ergebnis zeitigende Wut mündet geradewegs in der Trauer.

Wut ist ursprünglich zielgerichtet und und keineswegs „blind“ oder eine allgemeine Haltung (zu dieser wird sie erst nach endlosen erfolglosen Äußerungen): sie stellt darauf ab, jemand anderen dazu zu bringen, seine Haltung oder sein Verhalten zu ändern. Im trivialsten Fall werde ich wütend, weil der/die andere mich verletzt, und mein Wutausbruch soll den/die ander/n dazu bringen, die verletzenden Handlungen zu unterlassen. Wenn ich scheitere, stellt sich Trauer ein.

Hinzu kommt, dass Menschen vielleicht sogar die Tiere sind, die zur intensivsten Trauer fähig sind. Ich bezweifle keine Sekunde, dass unterstützt erlebte Trauer therapeutisch ist. Wobei ich mit "unterstützt" meine, dass andere auf diese Trauer keineswegs verstört, abwehrend oder auch "aufmunternd" reagieren, sondern ihr respektvoll und verständig begegnen.

Die Frage nach dem therapeutischen Nutzen der Wut hatte einen theoretischen Hintergrund: sie basiert auf der Annahme der Allgemeingültigkeit der Fight-Flight-Reaktion als Antwort auf Bedrohung und Wut ist nun mal ein wichtiger Bestandteil der gelungenen Fight-Bewältigung.

Sry, nächstes Mal mehr. Gruß, s
wrs (Gast) - 2. Mai, 00:22

"'hier gibt es nur noch eins: die totale aufkündigung jeglicher loyalität zu einem derartigen system. im ganz eigenen überlebensinteresse.'"

Ich hatte eigentlich nicht vor, zu einer "totale[n] aufkündigung jeglicher loyalität zu einem derartigen system" zuzustimmen, aber einerseits noch Deinen Hinweis bei Che vor Augen, dass "die partielle blindheit vieler leute in den erwerbslosen-, behinderten- und auch antira-gruppen, die anscheinend die parallelität oder vielleicht besser: strukturelle gleichheit der laufenden angriffe [...] selten zu einer wirklichen zusammenarbeit [führt]" und andererseits die Bilder bei Spiegel, kurzer Blick vorbei bei den Gesellschaftern -- und gleich konfrontiert mit der Frage "In was für einer Gesellschaft wollen wir leben? / Geben Sie Ihre eigene Antwort."... ich weiß nicht, irgendwie sehe ich schließlich nur noch eins -- untereinander die Hände reichen, unter den in verschiedene Richtungen strebenden Gruppen. (Vielleicht) Ein bedingungsloses Kooperieren mit jeder anderen gegängelten Richtung. -- Und obendrauf ist (noch?) die derzeitige Institution namens Staat.

So ungern ich dieses Wort selbst führe -- weil ich es wirklichen Machern und der Solidarnoz vorbehalten finde: Solidarität. Unter den Befürwortern dieser verschiedenen Richtungen und des Einzelkämpfertums dieser Richtungen.

Kommen wir anders weiter?

wrs (Gast) - 2. Mai, 00:27

oh, und natürlich...

...der neueste Schund aus War on Privacy, "Während ein Sprecher des zuständigen Hamburger Bezirksamtes gegenüber dem Hamburger Abendblatt die Bespitzelung als legitime Aktion im Sinne des Verfahrens-Verwaltungsgesetz verteidigte, kritisierte die Innenbehörde den Vorgang. In einer Mitteilung machte sie darauf aufmerksam, dass die Ausforschung der Intimsphäre von Eheleuten durch die Ausländerbehörden unzulässig sei."
Ubue (Gast) - 4. Mai, 02:15

@ Sansculotte

@ Sansculotte: toller Beitrag von Dir, finde ich. Dieses ganze Feld kommt mir noch gar nicht wirklich gut erkundet vor, was Literatur darüber anbelangt. Im Grunde sind es doch erst Anfänge, was dazu vorliegt. In späteren Generationen wird das vielleicht (und hoffentlich) mal anders sein.

Besonders interessant finde ich dann auch, in Anknüpfung an Deinen Beitrag, wie sich die Emotionen eigentlich bei einem Menschen persönlich entwickeln, wie also entweder dieses ganze System zu verkümmern scheint (und dann wie ein mürbe gewordenes Gummiband auch seine Elastizität verliert, wodurch die Wahrscheinlichkeit destruktiver Umgangsformen wächst) oder auch (viel zu wenig diskutiert) wie es eigentlich im opfimalen Falle aussehen könnte bei erwachsenen Personen.

So krass das ist, ich denke, es gibt dazu noch nicht so sehr viel Gutes, Emotionen sind eigentlich erst seit kurzem zunehmend Hauptthema. Verhalten und Kognitionen sind da schon eher "abgenudelt". Gruß für heute, auch an Monoma und andere MitleserInnen! Ubue

aveccoulotte (Gast) - 14. Mai, 19:42

der Klassiker natürlich...

Jahoda, Lazarsfeld & Zeisel (1932), Die Arbeitslosen von Marienthal

Beinhaltet ein implizites Argument kontra den Marx der Austromarxisten. Die gingen wohl davon aus, dass die arbeitslos gewordene Arbeiterklasse quasi automatisch die Revolution hervorbringen würde. Die Forschungsgruppe fand jedoch heraus, dass aufgrund der psychologischen Auswirkungen der Arbeitslosigkeit die Betroffenen resignierten und die Wenigsten anfingen an den zukünftigen Sozialismus zu denken. Leider ist das Argument in der Arbeit nie explizit oder zuende gedacht.

monoma - 12. Feb, 15:52

und das stille sterben...

...geht weiter: interessant bei dieser geschichte -

(...)"Aus dem Büchlein gehe hervor, dass der frühere Außendienstler schon länger arbeitslos war. Seine Ehe sei gescheitert, seine erwachsene Tochter habe sich von ihm losgesagt. Und als er im Oktober kein Arbeitslosengeld mehr bekam, habe er sich mit dem Fahrrad auf den Weg gemacht von Hannover Richtung Solling. Uslar liegt mehr als 100 Kilometer südlich der niedersächsischen Landeshauptstadt."(...)

- ist nun, dass sie offenbar "spektakulär" genung oder vielleicht auch dem gewöhnlichen alltag zu abgehoben erscheint (plus dem nötigen "human touch" in form des tagebuches, welches an die tochter des toten gerichtet ist), um sowohl in der sz als auch bei spon mit der gleichen schlagzeile zu erscheinen, unter verwendung des wortes "arbeitslos".

ansonsten passt sie gespenstisch ins muster der oben dokumentierten fälle:

"bei fast allen der dokumentierten geschichten fällt etwas besonders krass auf: die haltung des rückzugs, der apathie und letztlich gegen sich selbst gerichteten aggression bei den betroffenen."

damit haben wir weiter - und vermutlich zukünftig noch verstärkt - zu rechnen.

kitty (Gast) - 27. Jan, 21:03

was für Geschichten...

Ich find es echt Klasse das so was mal aufgenommen wurde, leider geht es ja in der Alltäglichen Presse viel zu schnell unter.
Beim lesen standen mir die ein oder anderen Tränen in den Augen. Man merkt diese unbarmherzigkeit auf der einen Seite und die völlige Verzweiflung auf der anderen Seite. Am meisten jedoch schockierte mich der Todesfall der psychisch kranken Frau und der Betreuerin.

Hartz IV ist völlige Existenslosigkeit und man findet nur schwer einen Weg zurück.
kranich05 - 16. Feb, 23:02

Hallo Mo,

über Deinen Link beim Querschuss bin ich auf diesen Beitrag gestoßen, der mich sehr beeindruckt.
Es ist doch eigentlich ein Unding, daß es keine, ich sags nüchtern, aktuelle Opferliste gibt. Oder gibt es sie?
Wenn es sie nicht gibt, sollte sie erarbeitet und laufend geführt werden.
Ob das Bloggern, die dazu bereit sind, nicht von zu Hause möglich wäre?
Hast Du Ideen, wie man sinnvoll recherchieren könnte?
Ich werde Deinen Beitrag hier auf dem opablog verwenden, möchte aber mehr machen als nur einen gelegentlichen Link setzen.

monoma - 16. Feb, 23:13

hallo kranich,

bezgl. deiner frage: wenn ich mich recht erinnere, gab`s beim erwerbslosenforum mal den hinweis auf ein blog, welches systematischer als ich gesammelt hat - ich werde mal schauen, ob ich das noch finde.

ansonsten kann ich mir auch vorstellen, hier in der nächsten zeit ein update zu machen. ich befürchte, an material dafür wird es nicht mangeln. immerhin ist der beitrag schon von 2005.

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