notiz: von hikikomori bis zur mafia - der medienüberblick
aus verschiedenen gründen müssen die angekündigten beiträge zu möglichen ähnlichkeiten und unterschieden zwischen asperger-autismus und soziopathie sowie zum thema "das (menschliche) böse" noch einmal verschoben werden. tut mir in diesem fall besonders leid, weil es sich einmal um die frage einer leserin; zum anderen um einen weiteren diskussionsbeitrag für diesen thread bei citronengras handelt, und ich direkte fragen und diskussionen meistens besonders inspirierend finde. allerdings brauche ich dafür auch die nötige zeit und ruhe, und beides ist momentan nur sehr selten gegeben. ich hoffe, ich kann mir nächste woche entsprechenden platz freischaufeln.
* * *
in der zwischenzeit haben sich wieder einmal etliche links zu blogrelevanten artikeln angesammelt, von denen ich im folgenden eine kleine auswahl vorstellen will.
mit dem wort hikikomori (ich bin mir gerade nicht sicher, ob mit zwei oder einem "k" geschrieben - im web finden sich beide schreibweisen) wurden regelmäßige leserInnen hier bereits im letzten jahr vertraut. nun scheinen sich mehr und mehr indizien dafür zu häufen, dass hikikomori auch im westen angekommen ist:
(...)"Nun ist eine Tendenz zu verstärkter "Nesthockerei" in der Gegenwartsgesellschaft nicht eben neu und auch schon vielfach beschrieben worden. Das von Elke Herms-Bohnhoff verfasste Buch Hotel Mama mit dem Untertitel Warum erwachsene Kinder heute nicht mehr ausziehen ist seit seinem Erscheinen im Jahr 1991 ein Bestseller, dessen Titel oft und gerne zitiert wird. Vom "Cocooning" hat die "Trendforscherin" Faith Popcorn (...) schon vor Jahren gesprochen, vom (wachsenden) Drang, sich in ein abgegrenztes eigenes "Gehäuse" einzuspinnen, vom "Cosy home" ist ebenfalls häufig die Rede. In Japan indessen hat man für ein Verhalten wie das des oben geschilderten Studenten P. W. einen eigenen Namen geprägt. Man spricht vom Hikkikomori-Syndrom.
Das japanische Wort Hikkikomori bedeutet wörtlich etwa so viel wie "sich einschließen" oder "eingegrenzt sein".(...)
in dem interessanten überblick eines professionellen, bei dem ich in diesem fall vermute, dass er weiß, wovon er redet, sind verschiedene punkte besonders interessant: einmal der hinweis darauf, dass der namensprägende japanische psychologe seinerzeit die zahl der betroffenen bewusst zu hoch angesetzt hat, um die mediale aufmerksamkeit zu erregen - was sowohl bezgl. wissenschaftlicher methodik als auch hinsichtlich der funktionsweise der massenmedien wieder mal tief blicken lässt. zum anderen aber dieser hinweis:
(...)"Zielenzinger selbst vermutet eine Nähe des Hikkikomori-Syndrom zur im Westen verbreiteten Postraumatischen Belastungsstörung (PTBS); allerdings sind derartige Hypothesen recht spekulativ und nicht durch harte Fakten abgesichert."(...)
nun bleibt in gesamten bereich der beziehungskrankheiten (und zu denen lässt sich hikikomori sicher zählen) bisher zwangsläufig vieles hypothetisch und spekulativ, was sich aus diversen gründen auch kurzfritig nicht ändern wird - aber wenn ich mir beide diagnostischen modelle so betrachte, fällt zumindest eine gemeinsamkeit sofort ins auge, die ich schon länger für fatal unbeachtet halte:
die abwendung von und das misstrauen in die existierenden menschlichen sozialen strukturen.
bei (post-)traumatischen störungen ist diese reaktion, besonders bei vorhergehender man-made-violence, eigentlich nachvollziehbar - aber wie sieht es bei den beschriebenen hikikomori-betroffenen aus, bei denen derartige erlebnisse zumindest nicht erwähnt werden? ist es vielleicht tatsächlich so, dass alleine die allgegenwärtige (mediale) präsenz zwischenmenschlicher gewalt fähig ist, zumindest teilweise die symptome einer ptbs zu erzeugen? der rückzug und der freiwillige verzicht auf den kern aller menschlichen sozialität stellen in der hinsicht gleichzeitig eine gesunde - wenn diese sozialität verbreitet als völlig unakzeptabel und bedrohlich empfunden wird - als auch eine pathologische - weil letztlich die ganz wesentliche basis für ein menschliches leben, welches diesem namen auch gerecht werden würde, sabotiert wird - reaktion dar, die sich einreiht in die vielzahl ähnlicher beunruhigender entwicklungen, die hier schon thema waren. auf ein kurzes fazit gebracht: auch "hikikomori" zeigt nur ein weiteres mal eine tatsache auf, deren ständige verdrängung für uns alle letztlich schmerzhaft tödlich sein wird:
nämlich das unsere derzeitigen gesellschaftlichen strukturen in ihrer überwältigenden mehrheit dem menschlichen leben letztlich destruktiv gegenüberstehen. und da gesellschaften nun mal meiner meinung nach die innersten strukturen ihrer mitglieder widerspiegeln, stellen sich unmittelbar fragen an jede/n einzelne/n von uns: schätzen wir unser leben? und vor allem: sind wir liebesfähig gegenüber dem lebendigen, welches uns in vielen formen begegnet? also auch uns gegenüber, was keinesfalls egoismus meint, sondern etwas sehr anderes.
das in allen möglichen diskursen, die sich "politisch" schimpfen, genau solche fragen praktisch ständig ausgespart werden, macht ihre erbärmliche reduziertheit und vor allem wirkungslosigkeit letztlich sowohl überdeutlich als auch verständlich.
*
das verhalten der "hikikomoris" lässt sich allerdings ganz gut nachvollziehen beim anblick des folgenden ausschnitts aus der gegenwärtigen realität:
(...)"Jeder vierte Bürger in der Europäischen Union wird im Laufe seines Lebens depressiv, schizophren, zwanghaft, panisch oder sonst irgendwie psychisch krank. Allein in Deutschland sind die Fehlzeiten durch solche Erkrankungen in den vergangenen zehn Jahren um nahezu 70 Prozent gestiegen.(...)
Allerdings hat der Druck auf die Beschäftigten angesichts des globalen Wettbewerbs und der gestiegenen Gewinnerwartungen zugenommen. So müssen die Beschäftigten in kürzerer Zeit mehr leisten, in der Sprache der Unternehmensberater heißt dies Produktivitätsfortschritt durch Leistungsverdichtung. Dies halten Jüngere und Starke aus, immer mehr Menschen aber reagieren auf den Stress mit psychischen Erkrankungen. Schließlich haben viele Angst davor, ihren Job zu verlieren. So spüren immer mehr Arbeitnehmer den scharfen Wettbewerb, und selbst bei Banken und Versicherungen, die über Jahrzehnte hinweg von stabilen Arbeitsverhältnissen geprägt waren, geht die Angst um."(...)
und anstatt die änderung der pathologischen sozio-ökonomischen struktur zu thematisieren und durchzusetzen, werden die folgen dieser struktur
"individualisiert" und die betroffenen - bestenfalls - wieder fitgemacht für´s rattenrennen - wer da dann lieber im eigenen zimmer bleibt, ist in seinen motivationen zumindest nachzuvollziehen. interessant auch, wie "klassisch" im ersten beschriebenen beispiel die borderline-diagnose eingesetzt wird: sie erspart in dem fall die auseinandersetzung mit dem pathogenen sozialen umfeld und lässt aufgrund der eigenart des aktuellen bl-modells (welches u.a. von einer "genetisch bedingten vulnerabilität" ausgeht) noch nicht einmal das postulieren einer wechselbeziehung zwischen individuum und gesellschaft zu, sondern macht das problem zu einem "persönlichen schicksalsschlag". was auch deutlich macht, das aktuelle psychiatrische modelle eben nicht beliebig sind: ein burn-out-syndrom als diagnose bspw. macht zumindest ansatzweise deutlich, dass der bösartige wind der störung eben nicht nur aus dem "eigenen", verkorksten inneren weht. aber über die routinemässige dissoziierende wahrnehmung auch in der aktuellen psychiatrie & psychologie habe ich hier schon genug worte verloren.
*
naomi kleins schock-strategie habe ich immer noch nicht gelesen, aber dafür ein interview mit ihr gefunden, was meine damals geäusserte spekulation hinsichtlich ihrer unausgesprochenen thematisierung von traumatisierung als mittel der machteliten doch unterstüzt - ein auszug:
(...)Der Plan war, die Iraker derart zu traumatisieren, dass sie problemlos alles hinnehmen würden. Richard Armitage, der ehemalige Vize-Außenminister der USA, sagte, offensichtlich haben wir die Iraker nicht genug schockiert.
Nicht genug?
Nicht genug. Er sagte: Anders als Deutschland und Japan nach dem Zweiten Weltkrieg war der Irak nicht ausreichend traumatisiert. Meine Erklärung ist: 30 Jahre Saddam Hussein waren schockierend genug. Schock braucht das Überraschungsmoment. Aber Schock ist normal im Irak."(...)
darüber denke ich nun schon länger nach, und komme zu folgendem zwischenergebnis: aus einer bestimmten perspektive würde ich ihr zustimmen, denke aber, dass sie die autoritären, diktatorischen und traumatischen strukturen sowohl der deutschen als auch der japanischen gesellschaft vor dem zweiten weltkrieg vergisst - diese strukturen waren zumindest aus meiner sicht eindeutig vorhanden, wurden aber ganz offensichtlich nicht von relevanten teilen der damaligen bevölkerungen beider länder so empfunden, die sich mehr oder weniger bereitwillig den verbrecherischen "eliten" unterwarfen und zur verfügung stellten. als vorschlag für den moment vielleicht dieser ansatz: ohne traumatisierung - zb. gewohnheitsmässige "schocks" für deutsche und japanische kinder durch die repressiven erziehungsmethoden - hätten die späteren antisozialen herrscher nicht das erwähnte unterwerfungskonforme reservoir von verheizbaren menschen vorgefunden, ohne das es beide damaligen staatssysteme nicht gegeben hätte. sicherheit - in bezug auf den ganz banalen alltag als auch die vorhandenen gesellschaftlichen strukturen -, und wenn´s auch eine halluzinierte, mit einem hohen preis verbundene ist, ist als ungeheuer drängendes bedürfnis bei aktuell und chronisch traumatisierten menschen immer wieder festzustellen. und wird mit aller wahrscheinlichkeit eben von unseren skrupellosen "eliten" ebenso regelmäßig ausgenutzt und instrumentalisiert.
und in dieser hinsicht war das unglaublich hierarchisch durchstrukturierte "dritte reich" offensichtlich etwas, was für viele menschen diese art "sicherheit" geboten hat - und als die im bombenhagel und dem heulen der stalinorgeln in trümmer fiel, wurden diese chronisch traumatisierten - ich benutze hier ausdrücklich einen erweiterten trauma-begriff, der auch die täter-opfer-dialektik berücksichtigt - nun erneut, und diesmal im sinne einer klassischen ptbs, traumatisiert - und dieses modell richtet den focus nun mal auf die opferseite.
nun waren und sind meines wissens auch die praktiken des umgangs mit kindern im irak nicht viel besser als diejenigen im damaligen deutschland oder japan, aber mir ist nicht bekannt, das sich die diktatur von saddam hussein auf eine ähnlich starke innere zustimmung vieler untertanen stützen konnte wie die beiden anderen, sondern eher mit purer repression incl. terror durchgesetzt wurde (und der üblichen materiellen bestechung). was bedeuten würde, dass es einen qualitativen unterschied hinsichtlich des umgangs mit traumatischen strukturen in den betroffenen gesellschaften geben muss. und das finde ich interessant genug, um darüber weiter nachzudenken.
*
das wort kriminell benutze ich hier hauptsächlich nicht in der juristischen bedeutung, sondern als synonym für ganz offenes antisoziales handeln, welches oft genug von der justiz weder bemerkt noch verfolgt wird - das ist alleine abhängig vom jeweils regierenden elitären machtsystem. und wenn Sie das wieder mal zu übertrieben finden, lesen Sie das hier:
(...)"Allein in Sizilien warten 5000 Mafiosi auf ihren Einsatz, allzeit bereite, junge aufstrebende Männer, die davon träumen, ehrfürchtige Blicke zu spüren –und das Gewicht einer Rolex Daytona am Arm. „Wir können hundert Jahre lang so weitermachen“, heißt es unter jenen sizilianischen Staatsanwälten, die es noch wagen, die Wahrheit auszusprechen: Dass jeder noch so erfolgreiche Schlag gegen die Mafia folgenlos bleiben wird –solange er rein polizeilicher Natur ist und die Verbindungen zwischen Mafia und Politik unangetastet lässt. Dieses Problem zu benennen, erfordert um so mehr Mut, als der Justizminister höchstpersönlich dafür sorgt, dass Staatsanwälte abberufen werden, sobald sie gegen italienische Politiker ermitteln."(...)
es mag ja sowohl in italien als auch anderswo integre beschäftigte der jeweiligen justiz geben, die sich tatsächlich einer - problematischen - abstrakten gerechtigkeit verpflichtet fühlen. karrierefördernd ist das allerdings in keinem fall, sondern unter dem aspekt ist eher das prinzip der drei affen empfehlenswert. und wie stark dieses prinzip weltweit verbreitet ist, lässt sich zb. hier nachlesen.
*
was fällt mir zum abschluß von all den unerfreulichkeiten und zumutungen noch ein?
"Und doch wissen wir: Von solchen Leuten wird die Welt regiert.".
bleibt nur die frage: wann folgen aus diesem wissen auch die nötigen konsequenzen?
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in der zwischenzeit haben sich wieder einmal etliche links zu blogrelevanten artikeln angesammelt, von denen ich im folgenden eine kleine auswahl vorstellen will.
mit dem wort hikikomori (ich bin mir gerade nicht sicher, ob mit zwei oder einem "k" geschrieben - im web finden sich beide schreibweisen) wurden regelmäßige leserInnen hier bereits im letzten jahr vertraut. nun scheinen sich mehr und mehr indizien dafür zu häufen, dass hikikomori auch im westen angekommen ist:
(...)"Nun ist eine Tendenz zu verstärkter "Nesthockerei" in der Gegenwartsgesellschaft nicht eben neu und auch schon vielfach beschrieben worden. Das von Elke Herms-Bohnhoff verfasste Buch Hotel Mama mit dem Untertitel Warum erwachsene Kinder heute nicht mehr ausziehen ist seit seinem Erscheinen im Jahr 1991 ein Bestseller, dessen Titel oft und gerne zitiert wird. Vom "Cocooning" hat die "Trendforscherin" Faith Popcorn (...) schon vor Jahren gesprochen, vom (wachsenden) Drang, sich in ein abgegrenztes eigenes "Gehäuse" einzuspinnen, vom "Cosy home" ist ebenfalls häufig die Rede. In Japan indessen hat man für ein Verhalten wie das des oben geschilderten Studenten P. W. einen eigenen Namen geprägt. Man spricht vom Hikkikomori-Syndrom.
Das japanische Wort Hikkikomori bedeutet wörtlich etwa so viel wie "sich einschließen" oder "eingegrenzt sein".(...)
in dem interessanten überblick eines professionellen, bei dem ich in diesem fall vermute, dass er weiß, wovon er redet, sind verschiedene punkte besonders interessant: einmal der hinweis darauf, dass der namensprägende japanische psychologe seinerzeit die zahl der betroffenen bewusst zu hoch angesetzt hat, um die mediale aufmerksamkeit zu erregen - was sowohl bezgl. wissenschaftlicher methodik als auch hinsichtlich der funktionsweise der massenmedien wieder mal tief blicken lässt. zum anderen aber dieser hinweis:
(...)"Zielenzinger selbst vermutet eine Nähe des Hikkikomori-Syndrom zur im Westen verbreiteten Postraumatischen Belastungsstörung (PTBS); allerdings sind derartige Hypothesen recht spekulativ und nicht durch harte Fakten abgesichert."(...)
nun bleibt in gesamten bereich der beziehungskrankheiten (und zu denen lässt sich hikikomori sicher zählen) bisher zwangsläufig vieles hypothetisch und spekulativ, was sich aus diversen gründen auch kurzfritig nicht ändern wird - aber wenn ich mir beide diagnostischen modelle so betrachte, fällt zumindest eine gemeinsamkeit sofort ins auge, die ich schon länger für fatal unbeachtet halte:
die abwendung von und das misstrauen in die existierenden menschlichen sozialen strukturen.
bei (post-)traumatischen störungen ist diese reaktion, besonders bei vorhergehender man-made-violence, eigentlich nachvollziehbar - aber wie sieht es bei den beschriebenen hikikomori-betroffenen aus, bei denen derartige erlebnisse zumindest nicht erwähnt werden? ist es vielleicht tatsächlich so, dass alleine die allgegenwärtige (mediale) präsenz zwischenmenschlicher gewalt fähig ist, zumindest teilweise die symptome einer ptbs zu erzeugen? der rückzug und der freiwillige verzicht auf den kern aller menschlichen sozialität stellen in der hinsicht gleichzeitig eine gesunde - wenn diese sozialität verbreitet als völlig unakzeptabel und bedrohlich empfunden wird - als auch eine pathologische - weil letztlich die ganz wesentliche basis für ein menschliches leben, welches diesem namen auch gerecht werden würde, sabotiert wird - reaktion dar, die sich einreiht in die vielzahl ähnlicher beunruhigender entwicklungen, die hier schon thema waren. auf ein kurzes fazit gebracht: auch "hikikomori" zeigt nur ein weiteres mal eine tatsache auf, deren ständige verdrängung für uns alle letztlich schmerzhaft tödlich sein wird:
nämlich das unsere derzeitigen gesellschaftlichen strukturen in ihrer überwältigenden mehrheit dem menschlichen leben letztlich destruktiv gegenüberstehen. und da gesellschaften nun mal meiner meinung nach die innersten strukturen ihrer mitglieder widerspiegeln, stellen sich unmittelbar fragen an jede/n einzelne/n von uns: schätzen wir unser leben? und vor allem: sind wir liebesfähig gegenüber dem lebendigen, welches uns in vielen formen begegnet? also auch uns gegenüber, was keinesfalls egoismus meint, sondern etwas sehr anderes.
das in allen möglichen diskursen, die sich "politisch" schimpfen, genau solche fragen praktisch ständig ausgespart werden, macht ihre erbärmliche reduziertheit und vor allem wirkungslosigkeit letztlich sowohl überdeutlich als auch verständlich.
*
das verhalten der "hikikomoris" lässt sich allerdings ganz gut nachvollziehen beim anblick des folgenden ausschnitts aus der gegenwärtigen realität:
(...)"Jeder vierte Bürger in der Europäischen Union wird im Laufe seines Lebens depressiv, schizophren, zwanghaft, panisch oder sonst irgendwie psychisch krank. Allein in Deutschland sind die Fehlzeiten durch solche Erkrankungen in den vergangenen zehn Jahren um nahezu 70 Prozent gestiegen.(...)
Allerdings hat der Druck auf die Beschäftigten angesichts des globalen Wettbewerbs und der gestiegenen Gewinnerwartungen zugenommen. So müssen die Beschäftigten in kürzerer Zeit mehr leisten, in der Sprache der Unternehmensberater heißt dies Produktivitätsfortschritt durch Leistungsverdichtung. Dies halten Jüngere und Starke aus, immer mehr Menschen aber reagieren auf den Stress mit psychischen Erkrankungen. Schließlich haben viele Angst davor, ihren Job zu verlieren. So spüren immer mehr Arbeitnehmer den scharfen Wettbewerb, und selbst bei Banken und Versicherungen, die über Jahrzehnte hinweg von stabilen Arbeitsverhältnissen geprägt waren, geht die Angst um."(...)
und anstatt die änderung der pathologischen sozio-ökonomischen struktur zu thematisieren und durchzusetzen, werden die folgen dieser struktur
"individualisiert" und die betroffenen - bestenfalls - wieder fitgemacht für´s rattenrennen - wer da dann lieber im eigenen zimmer bleibt, ist in seinen motivationen zumindest nachzuvollziehen. interessant auch, wie "klassisch" im ersten beschriebenen beispiel die borderline-diagnose eingesetzt wird: sie erspart in dem fall die auseinandersetzung mit dem pathogenen sozialen umfeld und lässt aufgrund der eigenart des aktuellen bl-modells (welches u.a. von einer "genetisch bedingten vulnerabilität" ausgeht) noch nicht einmal das postulieren einer wechselbeziehung zwischen individuum und gesellschaft zu, sondern macht das problem zu einem "persönlichen schicksalsschlag". was auch deutlich macht, das aktuelle psychiatrische modelle eben nicht beliebig sind: ein burn-out-syndrom als diagnose bspw. macht zumindest ansatzweise deutlich, dass der bösartige wind der störung eben nicht nur aus dem "eigenen", verkorksten inneren weht. aber über die routinemässige dissoziierende wahrnehmung auch in der aktuellen psychiatrie & psychologie habe ich hier schon genug worte verloren.
*
naomi kleins schock-strategie habe ich immer noch nicht gelesen, aber dafür ein interview mit ihr gefunden, was meine damals geäusserte spekulation hinsichtlich ihrer unausgesprochenen thematisierung von traumatisierung als mittel der machteliten doch unterstüzt - ein auszug:
(...)Der Plan war, die Iraker derart zu traumatisieren, dass sie problemlos alles hinnehmen würden. Richard Armitage, der ehemalige Vize-Außenminister der USA, sagte, offensichtlich haben wir die Iraker nicht genug schockiert.
Nicht genug?
Nicht genug. Er sagte: Anders als Deutschland und Japan nach dem Zweiten Weltkrieg war der Irak nicht ausreichend traumatisiert. Meine Erklärung ist: 30 Jahre Saddam Hussein waren schockierend genug. Schock braucht das Überraschungsmoment. Aber Schock ist normal im Irak."(...)
darüber denke ich nun schon länger nach, und komme zu folgendem zwischenergebnis: aus einer bestimmten perspektive würde ich ihr zustimmen, denke aber, dass sie die autoritären, diktatorischen und traumatischen strukturen sowohl der deutschen als auch der japanischen gesellschaft vor dem zweiten weltkrieg vergisst - diese strukturen waren zumindest aus meiner sicht eindeutig vorhanden, wurden aber ganz offensichtlich nicht von relevanten teilen der damaligen bevölkerungen beider länder so empfunden, die sich mehr oder weniger bereitwillig den verbrecherischen "eliten" unterwarfen und zur verfügung stellten. als vorschlag für den moment vielleicht dieser ansatz: ohne traumatisierung - zb. gewohnheitsmässige "schocks" für deutsche und japanische kinder durch die repressiven erziehungsmethoden - hätten die späteren antisozialen herrscher nicht das erwähnte unterwerfungskonforme reservoir von verheizbaren menschen vorgefunden, ohne das es beide damaligen staatssysteme nicht gegeben hätte. sicherheit - in bezug auf den ganz banalen alltag als auch die vorhandenen gesellschaftlichen strukturen -, und wenn´s auch eine halluzinierte, mit einem hohen preis verbundene ist, ist als ungeheuer drängendes bedürfnis bei aktuell und chronisch traumatisierten menschen immer wieder festzustellen. und wird mit aller wahrscheinlichkeit eben von unseren skrupellosen "eliten" ebenso regelmäßig ausgenutzt und instrumentalisiert.
und in dieser hinsicht war das unglaublich hierarchisch durchstrukturierte "dritte reich" offensichtlich etwas, was für viele menschen diese art "sicherheit" geboten hat - und als die im bombenhagel und dem heulen der stalinorgeln in trümmer fiel, wurden diese chronisch traumatisierten - ich benutze hier ausdrücklich einen erweiterten trauma-begriff, der auch die täter-opfer-dialektik berücksichtigt - nun erneut, und diesmal im sinne einer klassischen ptbs, traumatisiert - und dieses modell richtet den focus nun mal auf die opferseite.
nun waren und sind meines wissens auch die praktiken des umgangs mit kindern im irak nicht viel besser als diejenigen im damaligen deutschland oder japan, aber mir ist nicht bekannt, das sich die diktatur von saddam hussein auf eine ähnlich starke innere zustimmung vieler untertanen stützen konnte wie die beiden anderen, sondern eher mit purer repression incl. terror durchgesetzt wurde (und der üblichen materiellen bestechung). was bedeuten würde, dass es einen qualitativen unterschied hinsichtlich des umgangs mit traumatischen strukturen in den betroffenen gesellschaften geben muss. und das finde ich interessant genug, um darüber weiter nachzudenken.
*
das wort kriminell benutze ich hier hauptsächlich nicht in der juristischen bedeutung, sondern als synonym für ganz offenes antisoziales handeln, welches oft genug von der justiz weder bemerkt noch verfolgt wird - das ist alleine abhängig vom jeweils regierenden elitären machtsystem. und wenn Sie das wieder mal zu übertrieben finden, lesen Sie das hier:
(...)"Allein in Sizilien warten 5000 Mafiosi auf ihren Einsatz, allzeit bereite, junge aufstrebende Männer, die davon träumen, ehrfürchtige Blicke zu spüren –und das Gewicht einer Rolex Daytona am Arm. „Wir können hundert Jahre lang so weitermachen“, heißt es unter jenen sizilianischen Staatsanwälten, die es noch wagen, die Wahrheit auszusprechen: Dass jeder noch so erfolgreiche Schlag gegen die Mafia folgenlos bleiben wird –solange er rein polizeilicher Natur ist und die Verbindungen zwischen Mafia und Politik unangetastet lässt. Dieses Problem zu benennen, erfordert um so mehr Mut, als der Justizminister höchstpersönlich dafür sorgt, dass Staatsanwälte abberufen werden, sobald sie gegen italienische Politiker ermitteln."(...)
es mag ja sowohl in italien als auch anderswo integre beschäftigte der jeweiligen justiz geben, die sich tatsächlich einer - problematischen - abstrakten gerechtigkeit verpflichtet fühlen. karrierefördernd ist das allerdings in keinem fall, sondern unter dem aspekt ist eher das prinzip der drei affen empfehlenswert. und wie stark dieses prinzip weltweit verbreitet ist, lässt sich zb. hier nachlesen.
*
was fällt mir zum abschluß von all den unerfreulichkeiten und zumutungen noch ein?
"Und doch wissen wir: Von solchen Leuten wird die Welt regiert.".
bleibt nur die frage: wann folgen aus diesem wissen auch die nötigen konsequenzen?
monoma - 16. Nov, 19:06