assoziation: traumatische töne - musikalische be- und verarbeitungsversuche unerträglicher realitäten

ich hätte mir ja denken können, dass der eher spontan entstandene letzte beitrag trauma und musik bei mir selbst einiges in erinnerung gerufen hat rufen wird. ich höre musik sehr stimmungsabhängig, und meine vorlieben für funk, jazz, und die meisten sparten elektronischer musik haben sowohl etwas mit rhytmus zu tun als auch mit den jeweils assoziierten inneren bildern, besonders bei den beiden letzteren stilen. und um solche inneren bilder durchaus unheilvoller art soll es jetzt gehen.

*

die bemerkungen im letzten beitrag zu gewissen musikalischen entwicklungen nach den letzten beiden weltkriegen wurden für mich zwischenzeitlich vor dem gedanken als hintergrund immer plausibler, dass sich auch aktuelle musik durchaus selbst als wiederspiegelung aktueller gesellschaftlicher entwicklungen begreifen kann bzw. sogar unter umständen ohne bezug auf diese nicht vollständig begreifen lässt. das mag sich als platitüde lesen, es macht jedoch wie ich finde einen gewaltigen unterschied, ob sich die jeweiligen protagonistInnen über diesen zusammenhang selbst klar sind oder nicht. dann steigen nämlich die chancen dafür - wie bei allen künstlerischen aktivitäten überhaupt -, dass sich auch beim jeweiligen publikum wahrnehmungsprozesse ereignen können, die das potenzial haben, die allgegenwärtige
soziale trance zumindest partiell bewußt zu machen oder gar zeitweise außer kraft zu setzen. und drei musikalische beispiele, die für mich dieses potenzial besitzen, möchte ich im folgenden genauer vorstellen. das es sich dabei allesamt um spielarten elektronisch erzeugter musik handelt, ist für mich absolut kein zufall, ist diese doch bis dato als einzigste in der lage, die komplexe rund um maschinen & virtualität, die schon länger die aktuellen gesellschaftlichen (alp-)träume prägen und beflügeln, akustisch angemessen zu bebildern. was für mich persönlich auch den grund dafür darstellt, dass ich mit gitarrenlastiger musik wie punk - der ja im allgemeinsten sinne als ausdruck von wut & gewalttätigkeit zumindest in der vergangenheit angesehen wurde - nicht viel anfangen kann. solche musik kann schlicht die heutigen entwicklungen der hi-tek-kriege, genmanipulation und mensch-maschinen-phantasien nicht adäquat genug beschreiben.

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als erstes wäre da der dj & produzent
carl craig , der als einer der begründer des detroit-techno gelten kann - eine musik, die typischerweise gleichzeitig i.d.r. basslastig und melancholisch daherkommt und vielen als "klassischer" techno gilt. ebenso begreifen viele diese musik als nicht unabhängig vom ursprungsort verständlich - detroit, einst die us-amerikanische autostadt, ist vom niedergang dieser industrie genauso tiefgreifend gezeichnet zu einem symbol des zusammenbruches alter industrieller strukturen geworden, wie sie einst in ihren blütezeiten (durchaus zweifelhafte) entwicklungen wie das fließband hervorbrachte.

und diese aspekte spielen für leute wie craig bei ihrem schaffen durchaus nicht nur eine nebenrolle, wie er jüngst in einem
interview nochmal deutlich machte:

(...)"Zum einen vermittelt sich seine Persönlichkeit nicht durch Mysterium, Militanz oder afro-futuristische Erlösungsutopien. Er präsentiert sich mit einer vernünftigen Portion Selbstbewusstsein als Techno-Star und Allround-Musiker.

Zum anderen hält er sich angesichts der Geschichte und des Stadtbilds Detroits nicht lange mit Glorifizierungen auf, sondern geht lieber auf soziale und ökonomische Bedingungen ein, die diesen Ort genau so haben werden lassen.(...)

Die Ruinen der Stadt sind für Craig Mahnmale, etwa eine verlassene Fabrik in der Nähe seines Büros, bei der keine Fensterscheibe mehr heil ist.

"Ich sehe dieses Gebäude jeden Tag. Es stellt für mich die Geschichte von Detroit dar, die Geschichte eines Ortes, der eine blühende Industriestadt war und jetzt eben nicht mehr ist. Solche Ruinen sind Monolithen, aber sie sagen mir in geschichtlicher Hinsicht das Gleiche wie die Trümmer in Rom oder Griechenland: Es geht um das Erinnern einer gewesenen Kultur. Diese Fabrik erzählt von einstiger Größe - und sie ist das Gerippe, das davon übrig blieb."(...)

"Es gibt keine andere Stadt auf der Welt, die wie Detroit ist. Henry Ford hat hier das Fließband erfunden, und dieses Konzept hat Berry Gordy darin beeinflusst, wie er Motown führte. Gordy wollte ohne Unterlass Musik produzieren und sie konstant veröffentlichen, einfach, um immer genug Angebot für die Nachfrage zu haben. Als die Autoproduktion aber zunehmend auf Roboter umstieg, hat das Juan Atkins beeinflusst. Beide waren also im Grunde inspiriert von diesem Ford'schen System. Ich glaube, an einem anderen Ort als Detroit hätte so etwas gar nicht entstehen können: diese Idee, etwas, das im Grunde so kalt ist, durch Musik mit Seele aufzuladen."(...)


ich empfehle, sich dazu unbedingt auch die zugehörige
fotostrecke zu betrachten.

und der letzte satz von craig oben enthält für mich etwas zentrales: "...diese Idee, etwas, das im Grunde so kalt ist, durch Musik mit Seele aufzuladen." - die idee, industrielle produktionsweisen, die auf die ihnen ausgelieferten menschen (de-)formierend und normierend wirken, in ihrem akustischen ausdruck - das repetitiv-maschinenhafte, was viele beim techno (begründet) so monoton und langweilig, eben wie fließbandarbeit, empfinden -, zu packen, diesen ausdruck zu bearbeiten und gefüllt mit die menschliche emotionalität & körperlichkeit ansprechenden und triggernden tönen zu etwas qualitativ neuem, produktiven zu machen. produktiv in der hinsicht, dass die vormalige mit den zugrundliegenden tönen assoziierte kalte destruktivität zu einem tanzbaren und teils hoch emotionalen geladenen positiven seinszustand verwandelt wird. hören Sie nur einmal einen klassiker von carl craig, "at les":



ich kann mir nicht helfen - ich höre da trauer, unbeeindruckt laufende maschinen, und eine zunehmend unheilvoller und ausweglos werdende atmosphäre - und ich habe das lange vor dem zeitpunkt genauso gehört, an dem ich das erste mal mehr von den hintergründen des detroit-technos erfahren habe. gleichzeitig merke ich den impuls, mich bewegen zu wollen - die transformation des maschinenhaften in menschliche aktion. für mich ein beispiel dafür, wie künstlerische produktionen mit destruktiven gesellschaftlichen realitäten umgehen können.

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wenn Sie ansonsten keinerlei erfahrungen mit elektronischen musiken besitzen und das gerade gehörte vielleicht noch relativ soft empfunden haben, muss ich Sie vorwarnen - die nächsten beiden besprochenen projekte (das trifft es besser als "bands") sind ein etwas anderes kaliber und entziehen sich bis heute eigentlich jeder musikalischen zuordnung, auch wenn sie beide unter dem begriff "industrial" geführt werden, der aber die intentionen der akteure nur sehr ungenau trifft.

als erstes wären da die mir zuerst anfang der 1980er aufgefallenen
throbbing gristle , die unter einem ganz eigenen ansatz arbeiteten:

"Wir sind interessiert an Information, wir sind nicht interessiert an Musik als solcher. Und wir glauben, dass das zentrale Feld der Auseinandersetzung, wenn es ein solches unter Menschen gibt, die Information ist."

um die von ihnen als wichtig erachteten informationen unter die leute zu bringen, war nicht nur ein anderes verständnis von musik, sondern auch neue technische entwicklungen vonnöten:

(...)"Throbbing Gristle nutzten (...) Techniken der musikalischen Avantgarde wie Bandschleifen und extreme Verzerrung; arbeiteten mit elektronischen Geräten (u.a. selbst konstruierten Synthesizern) und erfanden neue Effektgeräte hinzu, die quasi als Vorläufer des Sampling funktionierten.

Sie arbeiteten mit Texten, die beispielsweise den Mord an Sharon Tate und die Grausamkeiten rhodesischer Guerilleros vor einem ruhigen elektronischen Hintergrund detailliert ineinanderwebten („Slug Bait - ICA“); eingespielte Sprachfetzen; die Geschichte eines Mörderpaares (Ian Brady und Myra Hindley), begleitet von monotonen Bassläufen; drastische Publikumsbeleidigungen („Maggot Death - Brighton“) und Soundtracks zu einem Film über eine Vasektomie („After Cease to Exist“). Gerne kokettierten Throbbing Gristle auch mit nationalisozialistischen Elementen, welche sie auch in Videotapes stilisierten. Sie bildeten Fotografien von Konzentrationslagern auf ihren Publikationen ab oder zeigten gebrauchte Zyklon-B-Dosen. Die Gruppe selbst trat später bevorzugt in Militäruniformen auf."(...)


das wort "kokettieren" in diesem zusammenhang finde ich unglücklich, zumal mir aus (print-)interviews mit tg noch in erinnerung ist, dass die erwähnten symboliken eine genau definierte funktion im gesamtkonzept des projektes besaßen. und ein track wie - das online leider anscheinend nicht vorhandene - "zyklon-b zombie", welches auf der vinylsingleversion in einer endlosrille endete, bei der die lagerglocke von auschwitz nicht mehr aufhören will zu klingen, kann nur bei psychophysisch gestörten leuten zu einer positiven empfindung im naziaffinen sinne führen. ich habe selten musik gehört, die derart bedrückend ist (mit einer ausnahme, die gleich folgt).

als repräsentativ darf durchaus das oben erwähnte "slug bait" gelten:



hier gibt es keinerlei positive auflösung mehr, hier werden eher unerträgliche und durchaus als traumatisch zu begreifende realitäten akustisch auf den punkt gebracht. was die zuhörerInnen dazu zwingt, sich entweder zu entziehen - was ein moment sein könnte, der aufklärendes nachdenken über die motivationen des eigenen nicht-ertragen-könnens/wollens befördern kann -, oder aber in der konfrontation mit den tönen das eigene unbehagen konkreter zu erfassen und seine gründen nachzugehen. in beiden fällen wäre die informationsvermittlung im sinne tg´s durchaus als geglückt anzusehen. btw: mir ist schon klar, dass über alles hier vorgestellte noch eine menge mehr und anderes gesagt werden kann bzw. schon ist - aber mir geht es hier primär um den aspekt in der überschrift des beitrages.

*

und im sinne der überschrift kommt für mich bis heute das australische projekt
SPK , mir bekannt aus der gleichen zeit wie tg, dem hörbar gewordenen trauma am nächsten. was vielleicht auch ein gutes stück mit dem biographischen background der frühen mitglieder zu tun hat:

(...)"Die Band wurde 1978 in Sydney von Graeme Revell, der als Pfleger in einer psychiatrischen Klinik arbeitete, Neil Hill, einem Patienten dieser Anstalt, und Sinan, der späteren Frau Graeme Revells, gegründet."(...)

auf der frühen lp "leichenschrei" ist das folgende stück enthalten, welches mir vermutlich viele worte sparen hilft - habe ich oben bei tg von bedrückend geschrieben, so ist "agony of plasma" im geeigneten moment imstande, regelrechte panikgefühle zu erzeugen - und derart einen eindruck zu geben von dem spektrum des menschlichen empfindens, von dem zu viele lieber nichts wissen wollen - ohne zu ahnen, das dieses anliegen mit seiner impliziten ignoranz menschlichen leidens gegenüber sie selbst dem unerwünschten immer näher bringt. hören Sie´s besser nicht, wenn Sie gerade in einem labilen zustand sein sollten:



nachdem ich spk vor jahren das letzte mal gehört habe, muss ich jetzt sagen: das ist vielleicht der angemessenste musikalische kommentar zu unseren heutigen zeiten, der denkbar ist.
Wednesday - 19. Jun, 20:21

Im Laufe der Christianisierung der sog. Alten und später der sog. Neuen Welt geschahen die entsetzlichsten Verbrechen, Morde an Neugeborenen und schwerste Mißhandlungen an Kindern und Heranwachsenden, bei Kriegen, "Kreuzzügen", Beutezügen wurde gemetzelt was das Zeug hält, für geringe Vergehen verlor man Gesundheit oder das Leben; die Industrialisierung, oder schöner gesagt: die Modernisierung forderte ebenfalls furchtbarste "Opfer".
Die Musik blieb die ganze Zeit über harmonisch und meist hoffnungsvoll. Zum einen liegt das wahrscheinlich an der früher engen Verbundenheit zu traditionellen Weisen, wahrscheinlich auch daran, daß Auftraggeber Reiche waren, kaum jemand zum eigenen Vergnügen so etwas wie Kunst produzierte (wo wieder die Frage auftaucht: was ist Kunst, und ist Kunsthandwerk keine? Weil sie von Bauern und von Frauen geschaffen wurde?), wahrscheinlich auch am Glauben an einen Sinn, Glauben an einen Gott, der die Menschen nur gequält lieben kann. Wahrscheinlich liegt es, in diesen Zusammenhängen, auch daran, daß in der Musik erst mittels der Elektronik Verzweiflung, Erschöpfung, Ausgeliefertsein äusserst überzeugend ausgedrückt werden können, zumindest für den, der Verzweiflung, Erschöpfung, Ausgeliefertsein versteht?

Die Fotografie hat die naturgetreue Darstellung der Maler überflüssig gemacht, das hat die Malerei befreit und die Maler darüber Wege gefunden, direkter zu agieren; die furchtbaren imperialistischen und dann die zwei Weltkriege öffneten weitere Kanäle der Künstler (und ihrer Bewunderer); je mehr man an Liebe und Sinn und Verstand in der zum reinen Markt geronnenen Welt verlor, desto nackter und brutaler schlägt sich das in der Kunst nieder. Aber vieles davon, was wir als Zeichen für ein Echo auf die Brutalitäten der Zeitalter betrachten, ist Avantgarde und findet nicht die breiten Massen (soweit das Kunst überhaupt vermag). Wenige Ausnahmen wie die Serienkunst eines Warhol gibt es, ich höre aber, daß sich die meisten derjenigen, die sich Reproduktionen zB seiner Werke aufhängen, an der Farbenpracht und der Wiederholung erfreuen, das fabrikhafte, das Fliessband dahinter erkennen sie anscheinend nicht oder es ist ihnen unwichtig.

Ich war beim ersten Hören von SPK vor etlichen Jahren überzeugt, Musik zu hören, und nicht etwa Krach. Wenn ich eine Oper höre, geht es mir auch so: ich höre die Harmonie heraus, auch auf der "Leichenschrei", sie entsteht durch die Wiederholung. Ich fand das immer ganz einfach, auch im Regengeräusch Harmonien herauszuhören, Musik ist fast überall, und wo völlige Stille ist, ist es schrecklich unheimlich, das muss der Tod sein: unendliche Stille. Und diese ist so absolut unvorstellbar, so wie der Tod.

Grundsätzlich widerstrebt es mir aber, Kunst zu intellektualisieren. Jede Diskussion darüber ging mir bisher den Bach runter, wahrscheinlich weil ich ja doch nichts wirklich ernst nehme...

Kennst Du die Flying Lizards?

monoma - 20. Jun, 11:15

"Aber vieles davon, was wir als Zeichen für ein Echo auf die Brutalitäten der Zeitalter betrachten, ist Avantgarde und findet nicht die breiten Massen (soweit das Kunst überhaupt vermag)."

das ist der punkt. und wenn ich weiter drüber nachdenke, läuft wieder alles auf die frage nach den vorhandenen - oder eben nichtvorhandenen - wahrnehmungsfähigkeiten hinaus. die deutlichste botschaft fährt gegen die wand, wenn die wahrnehmenden nicht über die fähigkeiten verfügen, sie mehrdimensional zu rezipieren. die frage der intellektuellen verarbeitung ist in meinen augen eine eher nachrangige, wobei es auch mit diesen fähigkeiten eher mau aussehen dürfte.
kandinsky (Gast) - 20. Jun, 00:43

Ist ja merkwürdig...

Hallo mo :), liebe Mitleser,

zum erstenmal, heute, lese ich bewußt, das du etwas über Musik schreibst...
Und komisch, ich "produziere" seit ca. 4 Wochen eine CD. 15 Titel auf einander abgestimmt.
Leichte "Stimmungsheber", eigentlich nur, um die Klangfarben meiner Stimmungen zu heben, zu verbessern ; einfach nur Musik hören war mir einfach zu wenig...
Richtung: Chillout 2 Jazz
Ob es hilft? Ja, es hilft tatsächlich...

Falls Interesse besteht, kann ich die CD bei Fertigstellung ja hochladen :)

Gruß,
Kandinsky

sansculotte - 20. Jun, 14:29

Laden

Hallo Kadinsky,

Falls Interesse besteht, kann ich die CD bei Fertigstellung ja hochladen

Ich bitte darum !

Gruß, s

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monoma - 12. Sep, 14:48
Der Spiegel-Artikel im...
Den Spiegel-Artikel gibt's übrigens hier im Netz: http://www.spiegel.de/spie gel/spiegelspecial/d-45964 806.html
iromeister - 12. Jun, 12:45
Texte E.Mertz
Schönen guten Tag allerseits, ich bin seit geraumer...
Danfu - 2. Sep, 21:15

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