assoziation: "es gibt systemkrise, baby!"

von der krisenkaskade hatte ich bereits öfter geschrieben; so bin (nicht nur) ich bekanntlich zb. der meinung, dass selbst dann, wenn die derzeit praktizierte ökonomie aktuell auf welchen wegen auch immer nochmals unter enormen aufwand in eine richtung des wachstums gezwungen werden sollte, die nächsten strukturellen krisen unmittelbar eintreten würden - und als erstes würde peak oil bzw. die folgen des peaks dafür sorgen, dass ein sog. aufschwung sehr sehr schnell wieder aufgrund rasant steigender energiepreise zum rohrkrepierer wird. aber das ist nur ein punkt, den ich v.a. deswegen immer wieder erwähne, weil er mir ansonsten überall zu kurz kommt. mittlerweile kommt die diagnose einer ausgewachsenen systemkrise jedoch aus immer mehr ecken, und es werden weitere - reale und halluzinierte - gründe genannt, mit denen sich eine nähere beschäftigung lohnt - ein paar beispiele jetzt.

interessanterweise ist der autor des ersten textes ein selbsterklärter anhänger der sog. "österreichischen schule", also jener spielart der sog. wirtschaftswissenschaften, die unter ihrem guru von hayek das ideologische konstrukt verbrochen hat, was heute unter neoliberalismus allgemein selbst bis in bürgerliche kreise hinein für eine mischung aus aufstöhnen und hohngelächter sorgt. es ist aber durchaus spannend, die aktuelle
sicht der dinge aus dieser ecke zu verfolgen:

(...)"Zum einen ist es keine Rezession; es ist eine Krise. Es gibt zwischen den beiden keinen genauen Unterschied, aber eine Krise hält man für noch ernster... und man geht NICHT davon aus, dass sie durch normale Regierungsmaßnahmen lösbar ist. Normalerweise begegnet man einem Konjunkturabschwung mit günstigeren Zinssätzen und höheren Regierungsausgaben. Diese beiden Zwillingswaffen der gesteigerten Verbraucherkredite und der höheren Defizite sprengen den Asteroiden normalerweise in seine Einzelteile, noch ehe er die Erde erreichen kann.

Aber ich habe schon mehrfach die Meinung geäußert, dass es diesmal anders ist. Wir haben es mit einer echten, strukturellen Krise zu tun... die durch zu hohe Schulden hervorgerufen wurde. Wenn die Menschen in eine solche Situation kommen, dann können sie nicht weiter Geld ausgeben - selbst wenn ihnen jemand mehr Kredite zu günstigeren Bedingungen anbietet."(...)


in diesem kleinen absatz, ja eigentlich in nur wenigen worten steckt nach meinem verständnis die gesamte neoliberale "antwort" auf die frage, wer oder was eigentlich schuld an der situation ist. "die menschen" haben "zu hohe schulden" gemacht, sprich "über ihre verhältnisse" gelebt. aha. he, Sie da draußen - ja, auch Sie stützeempfänger - "wir" müssen jetzt alle den gürtel enger schnallen, weil Sie über ihre verhältnisse gelebt haben! wie, Sie behaupten, dass Sie ständig genau dazu aufgefordert worden wären und das bspw. die werbung nichts anderes suggerieren würde als "kaufen Sie noch mehr mist, weil Sie sonst kein ganzer mensch sind"? und was, Sie haben trotz arbeit irgendwie immer weniger geld in der tasche? und die staatlichen hilfen sind almosen, von denen höchstens ein hund einigermaßen gut leben könne? hörnsemal, wir müssen jetzt auf etliche prozente unserer renditen verzichten, und da kommen Sie mit solchem gejammer? wo ist unsere polizei?!? wird zeit, euch undankbarem pack euren platz zu zeigen...

in dieser sicht der dinge fungiert als "eigentlicher" auslöser bzw. grund der krise die entscheidung der damaligen us-regierung unter clinton, möglichst vielen bürgerInnen der usa eine eigene wohnung zu ermöglichen; auch und gerade solchen, die sich das unter anderen - also den "normalen" - umständen niemals hätten "leisten" können. aber anstatt diesen durchaus lobenswerten vorsatz auch richtig durchzuführen - was nichts anderes bedeutet hätte, als wohnen als menschenrecht auch gegen die herrschenden besitzverhältnisse und mechanismen des wohnungs- und immobilienmarktes durchzusetzen, also als durchaus revolutionäre strukturelle veränderung weg vom "wohnraum-als-ware" -, statt solcher aktion also, die real weder gewünscht noch beabsichtigt gewesen ist, versuchte die administration, ihr vorhaben systemimmanent umzusetzen. und benutzte dazu eben dann die üblichen instrumente, zu denen primär billige bzw. staatlich geförderte kredite gehörten. was sich daraus dann aufgrund der systemimmanenten funktionsgesetze entwickelte, hat lange zeit niemand in den usa interessiert, solange die sache scheinbar gut ging bzw. ihr absehbares ende mittels weltweiter verlagerung der risikokredite in die länge gezogen werden konnte. das ist jetzt eine extrem geraffte kurzform, die aus neoliberaler perspektive implizit folgende auf den punkt gebrachte aussagen enthält:

- wer sich kein "eigenes" haus bzw. wohnen generell nicht leisten kann, muss halt im wahrsten sinne des wortes draußen bleiben. also im wohnwagen, zelt oder auf der strasse. und lebt dann immerhin nicht "über seine verhältnisse"
- die erwähnten versuche der us-regierung waren ein "unzulässiger eingriff" in das "freie spiel der marktkräfte", bei denen unter anderen umständen niemals "kreditunwürdige" kredite bekommen hätten.
- die involvierten banken waren geradezu "staatlich gezwungen" (= wider besseren wissens), solche kredite herauszugeben und später damit zu handeln.
- die staaten sind generell zu sehr damit beschäftigt, unproduktive minderleister - zu letzteren zählen auch schwächelnde branchen und firmen - aus steuergeldern zu subventionieren, und deshalb auch so hoch verschuldet.
- die löhne und sozialleistungen sind immer noch zu hoch und erwecken deshalb ungesunde konsumbegehrlichkeiten bei der masse, die am ende mit zu hoher privatverschuldung beitragen.
- deshalb sind auch alle versuche der konsumankurbelung mittels "konjukturpaketen" verabscheuungswürdig

was empfielt also im angesicht dieser gar erschröcklichen verhältnisse der (us-)neoliberale - ganz recht, "der markt" soll es richten, allerdings unter administrativer lenkung zu beginn:

(...)"Es gibt ungefähr 6 Billionen Dollar in Schulden, die beseitigt werden müssen, ehe die Wirtschaft wieder wachsen kann. Die Liqudierung würde es bringen - schnell und schmerzhaft. Die Leute würden bekommen, was sie verdient haben. Das auf dem Dollar basierende System würde zusammenbrechen. Alle würden ihre Lektion lernen und hinterher besser dastehen."(...)

immerhin zählt er zu "den leuten, die dann das bekommen würden, was sie verdient haben", nach meinem verständnis auch die ganze schar kapitalistischer brüder im ungeiste, die jene teile der finanz- und wirtschaftswelt repräsentieren, die inzwischen faktisch - wie die banken und auch die autoindustrie - im koma in den staatlichen intensivstationen am tropf hängen. die mehrheit jener "leute" aber - damit sind Sie und ich gemeint, die wir gemeinsam schändlich "über unsere verhältnisse" gelebt haben (das haben wir hier im westen zwar mehrheitlich tatsächlich, aber auf eine ganz andere art & weise, als sich die neoliberalen das vorstellen).

insgesamt sind das alles fragmente einer art krisentheorie, die dann durchaus plausibel erscheint, wenn man sich die ohren verkleistert, die augen fest zuhält und die eigene wahrnehmung primär auf die objektivistische schiene polt. oder anders: wenn man sich in einen zustand der dissoziierenden antisozialität begibt.

*

um diesem höchst ungesunden zustand entgegenzuwirken, hilft eine
konträre sicht der dinge, hier aus dem umfeld der zeitschrift krisis:

(...)"Im Unterschied zum Platzen der New Economy-Blase ist auffällig, dass dieser Kriseneinbruch nicht nur eine Branche, sondern nahezu alle Branchen erfasst. Dass die Krise zunächst als Immobilien- und Spekulationskrise aufgetreten ist, sollte nicht dazu verleiten, in den Finanzmarktoperationen die wahren Ursachen der Krise zu sehen. Denn wo und wie eine Krise erscheint, muss nicht zwangsläufig darauf hindeuten, wo sie entstanden ist und welchen Charakter sie hat. Bereits 1857 bemerkte Marx solche Kurzschlüsse in der zeitgenössischen Debatte und formulierte dazu in einem Leitartikel im New York Daily Tribune derart treffend, dass es als Kommentar zur aktuellen Diskussion gelesen werden könnte:

„Wenn Spekulation gegen Ende einer bestimmten Handelsperiode als unmittelbarer Vorläufer des Zusammenbruchs (crash) auftritt, sollte man nicht vergessen, daß die Spekulation selbst in den vorausgehenden Phasen der Periode erzeugt worden ist und daher selbst ein Resultat und eine Erscheinung (accident) und nicht den letzten Grund und das Wesen (the final cause and the substance) darstellt. Die politischen Ökonomen, die vorgeben, die regelmäßigen Zuckungen (spasms) von Industrie und Handel durch Spekulation zu erklären, ähneln der jetzt ausgestorbenen Schule von Naturphilosophen, die das Fieber als den wahren Grund aller Krankheiten ansehen.”(...)


und das lässt sich als direkte antwort auf die oben vorgestellte variante neoliberaler krisentheorie verstehen - "die spekulationen" können nach meinem verständnis auch als synonym für jene prozesse des handels mit den sog. "faulen krediten" in all seinen bisher bekannten formen gelten, mit dessen hilfe sich die banken gerade selbst in den finanziellen hades befördert haben (das sie sich mithilfe von phantastilliarden an steuergeldern immer noch an dessen eingang festklammern, ändert nichts an der grundsätzlichen situation - alle banken weltweit sind faktisch insolvent, und zwar sogar in "normalen" zeiten. das hat etwas mit dem grundsätzlichen "funktionieren" unseres geldsystems zu tun, wie es zb. im film
money as dept dargestellt wird. diese tatsache, die ständig durch unsere eigenen fiktionen bezg. des geldes verdeckt wird, kommt momentan nur einmal deutlich sichtbar an die oberfläche).

also, die kredite für die häuslebauer in den usa sind aus dieser perspektive nicht der kern des problems. aber was dann?

"Der jetzige Kriseneinbruch setzt sich in seinem Umfang von dem, was wir aus den letzten Jahrzehnten gewohnt sind, deutlich ab. Nicht nur, weil alle Branchen betroffen sind, sondern auch dadurch, dass im Unterschied zur Asien-, Mexiko- oder Argentinienkrise sich die Krise nicht nur auf einen Staat oder eine Weltregion beschränkt.(...)

Es handelt sich also um einen weltweiten Krisenprozess und es liegt die Frage nahe, ob es sich hier vielleicht um das Ende einer sogenannten „Langen Welle“ handeln könnte. Gemäß der Theorie der Langen Wellen wird die kapitalistische Wirtschaft etwa alle 50 Jahre von stetig wiederkehrenden großkonjunkturellen Zyklen erfasst. Es könnte hier argumentiert werden, dass auf den letzten Zyklus nach dem Kriseneinbruch ein weiterer folgen würde.

Auf den ersten Blick entbehrt diese Überlegung durchaus nicht einer gewissen Plausibilität. Wenn es der Kapitalismus bislang immer wieder geschafft hat, hinter jeden großen Krisenprozess einen Neustart zu setzen – warum sollte es dieses Mal nicht funktionieren? Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass es so einfach nicht ist. Zunächst deshalb, weil diesem Gedanken eine falsche Geschichtsphilosophie zugrunde liegt. Nur, weil sich die Kapitalverwertung bislang nach jeder Krise erholen konnte, heißt das nicht automatisch, dass ihm das auch in diesem Fall gelingen wird."(...)


ein
kondratjew-zyklus also, der sich seinem ende zuneigt - wer jetzt einwirft, dass diese zyklen von der orthodoxen und etablierten wirtschaftswissenschaft nicht ernstgenommen werden, sollte sich den aktuellen zustand dieser disziplin nochmals vor augen führen. ich akzeptiere diese these vorläufig und frage, was denn jetzt an wahrhaft neuen produktiven innovationen kommen sollte, die gemäß theorie die nächste "lange welle" einleiten müsste. sehen Sie da was in reichweite? ich nicht. dazu kommt noch ein aspekt, der in den mainstreamdebatten bis dato auch keine rolle spielt, der aber womöglich ein ganz entscheidendes puzzlestückchen zum verständnis der krisenursachen darstellt - gleich im nächsten absatz:

(...)Nun ist der Kapitalismus bereits seit Mitte der 70er Jahre mit der Situation konfrontiert ist, dass der ihm eigentümliche Rationalisierungswetbewerb technische und organisatorische Veränderungen im Produktionsprozess hervorgebracht hat, die in einem so hohen Maße Arbeitskraft durch Maschinerie ersetzen konnten, dass immer mehr Arbeit überflüssig wurde.

Seitdem warten nun die ExpertInnen gespannt darauf, welche Technologie wohl den nächsten prosperierenden Zyklus, die nächste Welle kapitalistischer Akkumulation einleiten und tragen könnte. Die New Economy war lange Zeit ein heißer Tipp, doch seit die 2000/2001 eingebrochen ist, ist das keine ernsthaft diskutierte Alternative mehr. Und dass das „finanzmarktgetriebene Akkumlationsregime“ auf Sand gebaut war, haben spätestens die Ereignisse seit dem Spätsommer 2008 gezeigt. Die Vermehrung von Finanztiteln an den Finanzmärkten ist nun mal keine Kapitalverwertung. Diese setzt nämlich immer die Verausgabung von Arbeit voraus, um Wert und Mehrwert zu produzieren. Nachdem die Finanzblase geplatzt ist, stellt sich also nach wie vor die alte Frage: wo soll er herkommen, der neue Aufschwung? Seit dreißig Jahren schon wird das Wirtschaftswachstum mittlerweile simuliert: durch staatliche Verschuldung, ungedeckte Geldschöpfung und Finanzmarktblasen.(...)


das finde ich vor dem hintergrund meiner inhaltlich auf unsere sozialstrukturen gemünzten these der um sich greifenden ersetzung von authentischem menschlichen sozialen verhalten durch simulierte und antrainierte als-ob-zustände plus der parallel wahrnehmbaren dafür notwendigen psychophysischen umstrukturierungen (als deren ausdruck ich u.a. viele beziehungskrankheiten begreife) einen höchst interessanten satz: "seit dreißig jahren schon wird das wirtschaftswachstum mittlerweile simuliert..." - wenn sich diese einschätzung näher begründen lässt, stellt sich sofort die frage, ob es da nicht etliche zusammenhänge gibt? was treiben eigentlich all die soziopathen, die großmeister der simulation, in den elitären führungsebenen? im hinterkopf notiert; und weiter im text:

(...)"Wenn wir es also mit mehr zu tun haben als mit einem vorübergehenden Kriseneinbruch – lässt sich das Geschehen dann als Hegemonieverschiebung sinnvoll beschreiben? Oft zu lesen ist etwa von einer relativen Abnahme der Macht der USA, in deren Folge aus dem klassischen Imperialismus ein Empire geworden sei. So richtig diese Beobachtung sein mag, so oberflächlich bleibt sie auch. Denn es ist ja keineswegs ausgemacht, das dieser relative Hegemonieverlust die Ursache der zu beobachtenden Prozesse ist – und nicht vielleicht ihre Folge."

das lasse ich mal so stehen mit der bemerkung, dass ich ebenfalls zur im letzten satz geäusserten variante neige.

"Das wird deutlicher, wenn wir uns vor Augen führen, das auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen Veränderungen ausgemacht werden. Jede Form gesellschaftlicher Verlässlichkeit und Dauerhaftigkeit scheint verloren gegangen zu sein, selbst Unternehmen könnten nicht mehr langfristig planen und sind von stetig undurchschaubarer werdenden Marktlagen abhängig und die herrschenden Institutionen verlieren mehr und mehr die Fähigkeit zur Integration. Doch auch diese Feststellung bleibt auf einer sehr oberflächlichen Ebene. Denn woher rühren nun diese allumfassenden Desintegrationstendenzen? Am Ende gar aus einer Systemkrise?"

möchten Sie das publikum fragen oder doch lieber den telefon-joker nutzen? jenseits dessen bekomme ich hingegen beim wort "desintegrationstendenzen" assoziationen, die hier im blog vielfach thema waren und sind - werfen Sie einfach mal ein blick auf den
index; da ist jede menge an zuständen, situationen und ereignissen versammelt, die ich insgesamt durchaus als ausdruck einer gigantischen desintegrationstendenz bezeichnen könnte. was aus einer marxistischen perspektive wie der dargestellten hauptsächlich an folgendem liegt:

"Tatsächlich sieht es sehr danach aus. Wenn es stimmt, was Karl Marx sagte, und „die Warenform des Arbeitsprodukts oder die Wertform der Ware die ökonomische Zellenform“ der kapitalistischen Gesellschaft darstellt – müsste dann nicht ihre Krise auch weite Teile der kapitalistischen Institutionen, Lebenspraxen und Ideologien umfassen? Sollte es dem Kapitalismus tatsächlich seit dem Ende des Fordismus nicht mehr gelingen, in ausreichendem Maße Arbeit einzusaugen, dann hätte dies eine Krise der Wertvergesellschaftung zur Folge. Die gesellschaftliche Synthesis über Arbeit, Wert und Kapital würde sich immer weniger in der Lage erweisen, einen kohärenten sozialen Gesamtzusammenhang herzustellen. Nun ist aber die Gesellschaft, in der „das Verhältnis der Menschen zueinander als Warenbesitzer das herrschende gesellschaftliche Verhältnis ist“, die Voraussetzung menschlicher Vorstellungen von Gleichheit und Freiheit, die Basis der abstrakten Vergesellschaftung über Recht und Staat und überhaupt die Grundlage für gesellschaftliche Vorstellungen und Ideologien."

nun, ich finde ja, dass das doch eher abstrakte - in dem sinne von nicht unmittelbar fühlbar - postulat vom "verhältnis der menschen als warenbesitzer" präsenter gemacht werden kann, wenn wir uns bspw. einmal die aus- und vor allem unausgesprochenen fragmente der aktuellen sprache anschauen, in denen viele zeitgenossInnen heute nicht nur über ihre "beziehungen" reden und denken, sondern auch über sich selbst:

- "ich investiere zuviel in diese beziehung"
- "ich erwarte einen gerechten ausgleich zwischen geben und nehmen"
- "ich bin nichts wert"
- "mein körper ist mein eigentum"
- "was nutzt mir das? (bzw. der / die)?"
- und speziell zur sexualität hatte ich in einem früheren beitrag mal die wirkung der marktgesetze
so formuliert:
"äußere attraktivität konform der jeweiligen mainstreamproduzierten nachfrage mitsamt der
fähigkeit, das eigene image gut zu verkaufen, erhöhen die eigenen chancen, von anderen als
investitionswürdiges (zeit, aufmerksamkeit) objekt der begierde wahrgenommen zu werden"


das mag zwar alles platt klingen und auch "irgendwie" schon bekannt sein, aber die konsequenz zu ziehen, dass eine derartige sprache auch etwas über die jeweils vorhandene neuronale konfiguration bzw. die psychophysischen zustände der solcherart sprechenden aussagt, und sich diese zustände wiederum in einem dialektischen wechselspiel zwischen individuum und gesellschaft entwickelt haben müssen, bei dem sich die bekannten sozialisationsinstanzen die klinke in die hand geben bei der bewußten und v.a. unbewußten "wertevermittlung", und sich diese "werte", die ja allgemein verbindliche sein sollen, in letzter hinsicht und im kern nicht von der beschränkten gefühls- und denkwelt eines, sagen wir mal durchtriebenen gebrauchtwagenhändlers unterscheiden - diese konsequenz also mögen nur die wenigsten ziehen, weil sich damit sofort fragen von solcher grundsätzlichkeit hinsichtlich der eigenen existenz und auch des eigenen sozialen umfeldes stellen, die metaphorisch gesprochen das potenzial einer ordentlichen portion nitroglyzerin besitzen und den ernsthaft fragenden sofort in eine völlig unbekannte zone jenseits aller gewohnten sozialität befördern können. was im allgemeinen unglaubliche ängste mit sich bringt. und auch diese erpresserische konstellation, mit der (wir) solche fragen im allgemeinen unterdrücken, ist eine komponente des klebstoffes, der den ganzen laden hier bis dato (noch) zusammenhält - noch:

"Eine Systemkrise in diesem Sinn ließe sich daher durchaus als „fundamentale Krise“ beschreiben: nicht nur im Bereich der Ökonomie, sondern weit darüber hinaus wären gesellschaftliche Institutionen und Vorstellungen von ihr betroffen. Den Ausweg aus dieser Krise würde dann auch nicht eine sorgfältig geplante Form von Politik darstellen, mit der sich das Ganze dann ein wenig effizienter und ein wenig sozialer organisieren ließe. Stattdessen steht die Menschheit vor der Wahl zwischen Emanzipation und Barbarei.

In diesem Sinne birgt die Systemkrise auch durchaus die Gefahr, zu einer noch tiefgreifenderen Menschheitskrise zu mutieren. Denn nicht nur, dass der Kapitalismus die natürlichen Lebensgrundlagen zu unterhöhlen droht und aufgrund des ihm innewohnenden Wachstumszwangs davon auch nicht ablassen können wird; die immer durchgeknalltere Formen annehmende ideologische Krisenverarbeitung hält noch weitere Spannungspotentiale bereit, bei denen sich mit gutem Grund fragen lässt, wie die Menschheit da wieder rauskommen will.

Aber malen wir das Szenario nicht in zu düsteren Farben. Denn der aktuelle Krisenprozess ist gewissermaßen hausgemacht. Er ist weder vom Himmel gefallen noch von unbesiegbaren Naturkräften ausgegangen. Er hat seine Ursache vielmehr in der simplen Tatsache, wie Menschen ihr Leben und damit ihre Produktion organisieren – und was das mit ihnen macht. Das bedeutet aber auch, dass es es die Möglichkeit zur Veränderung gibt. Die jedoch kann nur darin bestehen, neue Formen sozialen Miteinanders zu finden, die nicht auf der Logik von Ware, Geld und Staat beruhen."


die folgen des zwangs zum - exponentiellen - wachstum sollten deutlich sein; beispiele einer "ideologischen krisenverarbeitung", hier einer nationalistischen, lassen sich in den in den letzten news erwähnten streiks in großbritannien betrachten. und so augenöffnend ich in mancher hinsicht solche texte mit schwerpunkt ökonomiekritik auch finde, die beliebigkeit und unkonkretheit hinsichtlich "neuen formen sozialen miteinanders, die nicht auf der logik von ware, geld und staat" beruhen, liegt zu einem großen teil aus meiner perspektive darin begründet, dass die fragen danach, wie, auf welchen wegen und mittels welcher prozesse sich einerseits denn die benannten logiken ganz konkret und real in die menschliche struktur, d.h. unsere körper und die darauf basierende psyche, ihren verheerenden weg bahnen, und wie sie sich andererseits in "normalen" und pathologischen formen des fühlens und denkens in jedem menschen kenntlich machen, bisher überwiegend nicht gestellt werden - und genau aus diesem grund habe ich in verschiedenen debatten hier und an anderen orten auch das fazit gezogen, dass ich mir keine emanzipativen prozesse mehr vorstellen kann, die nicht auch ganz zentral auf dem heutigen wissen zu unserem psychophysischen funktionieren beruhen. das betrachte ich weiterhin als schwerstes manko, nicht nur der politischen linken.

*

die in obigen text drohend skizzierte - und sehr realistische - möglichkeit einer menschheitskrise wird mittlerweile auch an solchen orten wie dem feuilleton der frankfurter allgemeine als option ernstgenommen, und das sogar in sehr
drastischen worten, die für solche eine zeitung eher ungewöhnlich sind. und vor allem taucht hier als wahrnehmung wiederum das auf, was der "krisis"-autor ganz treffend mit dem begriff der desintegretationstendenzen zu fassen versuchte:

(...)"Bald ist das richtige Politikinstrument – irgendwo muss es doch liegen – gefunden, dann wird, Lieblingsvokabel des Politsprechs, die „Stellschraube“ angezogen, und wir setzen die Fahrt fort wie zuvor, bitte entschuldigen und verkennen Sie die Tatsache unseres anhaltenden Absturzes.(...)

Alle (...) schauen zu, geduldig und nett, wie wir postmodernen Menschen heute sind. Es ist viel zu ruhig.

Es ist längst Zeit, das Staunen über die irrwitzige Geschichte von den mehrfach gebündelten Schrottpapieren und den kriminellen Systemen, die ihre Verbreitung zum Geschäft gemacht haben, diesen Dealern mit gepanschten Finanzspritzen, zu überwinden und das ganze Ausmaß der sich gerade voll entfaltenden Weltkrise ins Auge zu fassen. Das monatelange öffentliche Kümmern um die Banken hat wenig gebracht und führt dazu, die akute Gefahr kommender sozialer Krisen zu vernachlässigen. Wir haben bald ganz andere Probleme, abstrakt war letztes Jahr: In Island führten Proteste der chronisch friedlichen Bevölkerung, die langen schlechten Zeiten entgegensieht, zum Sturz der Regierung, der auch nur ,abwiegeln‘ und ,weiter so‘ einfiel.

Die angesehene Zeitschrift „Foreign Policy“ hat nun die Liste der „nächsten Islands“ veröffentlicht, Staaten, bei denen sich totale Überschuldung, politisches und wirtschaftliches Missmanagement und ein kompletter Glaubwürdigkeitsverlust der Regierenden krisenhaft zuspitzen. Nicaragua ist dabei, alle anderen aber liegen in und bei Europa: Großbritannien, Griechenland, Lettland und die Ukraine. Deren wachsendes Elend wird nicht stumm bleiben. Abgesehen von Streiks, Demonstrationen, Unruhen und Plünderungen können wir rassistische Ausschreitungen gegen Migranten und Minderheiten, politische Instabilität, höhere Kriminalität und generell eine um sich greifende Gewaltbereitschaft und Radikalisierung erwarten. Diese Krise beschert uns zerfallende Gesellschaften in unserer Nachbarschaft: Wo noch die Republik war, herrscht bald die Mafia. Krise ist keine Frage von Blasen und Buchungen, da geht es um durchgeheulte Nächte. Anderswo, unter den chinesischen Wanderarbeitern und bei den Illegalen, die aus Afrika nach Europa wollen, wird die Krise Leben kosten."(...)


noch mehr leben als im kapitalistischen normalbetrieb schon, muss ergänzt werden. und ob der zerfall nur auf die nachbarschaft beschränkt bleibt? ansonsten gäbe es auch zu anderen stellen des textes etliches anzumerken, aber ich finde ihn nicht nur wegen seines umfeldes bemerkenswert, sonder vor allem wg. seiner expliziten botschaften erstaunlich - neben dem neulich thematisierten "zeit"-artikel ist das nun eine weitere breitseite für ein "bürgerliches" publikum, von dem gefordert wird, sich mit dem gedanken an eine gesellschaftliche umwälzung zu beschäftigen:

(...)"Es ist derzeit völlig offen, ob die Textur der Gesellschaft diese Krise übersteht. Denn das Versagen der Banken war ja in der herrschenden Ideologie, die sich als Wissenschaft tarnte, gar nicht vorgesehen: Weniger Steuern und mehr Freiheiten für die Tüchtigen, dann geht es allen gut. Doch wir sehen: Nirgendwo gibt es so viele tüchtige und berühmte Millionäre wie in Kalifornien. Hollywood und Silicon Valley ziehen Talente aus der ganzen Welt an, und doch kann es sein, dass dieser reiche, dynamische Staat bald seine Lehrer nicht mehr bezahlen kann. Da ist mehr faul als nur ein Stapel Papiere. Wie lebt der Kalifornier, zu dessen Betriebssystem das große Versprechen auf ewige Verbesserung gehört, mit einer dauerhaft verbauten und überschuldeten Zukunft?

Die deutsche Gesellschaft hat auf die Krise erst mal recht liebevoll reagiert: Jemand ist süchtig geworden, hat alles Geld verbraucht und verlangt nun nach mehr. Also räumt man die Schränke aus, um ihm über die nächsten Tage zu helfen. So haben wir, obwohl der Haushalt fast ausgeglichen war, Schulden gemacht und Bürgschaften abgegeben, wie in den „Kindern vom Bahnhof Zoo“ die Freunde den Junkies Rotwein und Hustensaft gemixt haben – um die Schmerzen zu lindern.

Aber so kann es nicht weitergehen. Die Republik kann nicht länger koabhängig sein und muss auf die systemische Krise mit einem Systemwandel reagieren.(...)

Um die Gesellschaft vor Unruhen und kalten Bürgerkriegen zu bewahren, muss ein großer Dialog begonnen werden. Das alte System wird sich nicht fangen, für die Ramschpapiere gibt es keinen Markt, und es wird auch keinen mehr geben. Mit gouvernementalem Herumfuchteln in Klüngelrunden, um irgendwelche Stellschrauben zu befingern, ist nichts mehr zu gewinnen. In solch einer Lage kann es einen Fortschritt nur geben, wenn man sich von ideologisch begründeten Prinzipien verabschiedet und all das stärkt, was Gemeinsinn stiftet."(...)


ich nehme dem autor dabei durchaus ab, dass er mit der konservativen floskel "gemeinsinn" durchaus kein revival der volksgemeinschaft im sinn hat. fragt sich allerdings nur, wie verbreitet dieses verständnis ist?

*

um schluß dieser völlig persönlichen auswahl an theoretischen und/oder beschreibenden stellungnahmen zur krise sei noch auf einen text hingewiesen, der vor kurzer zeit bei telepolis veröffentlicht wurde und von krisenthesen des soziologen immanuel wallersteins handelt -
In dreißig Jahren wird es keinen Kapitalismus mehr geben. na, das ist doch mal ne ansage! solange ich allerdings keine genaueren texte von wallerstein selbst speziell zu diesem punkt (und bei diesem thema auch lieber in deutscher sprache) zur verfügung habe, möchte ich diese these hier erstmal nicht weiter kommentieren.
Peter (Gast) - 8. Feb, 20:54

Gute Gedanken

Prima "Presseschau" und sehr gute Verknüpfung der Gedanken, danke.

Übrigens, in der Financial Times Deutschland geht es - zumindest in der Kolumne - ebenfalls erstaunlich kritisch zu:
http://www.ftd.de/meinung/leitartikel/:Kolumne-Thomas-Fricke-Zeit-f%FCr-eine-Bad-Ideas-Bank/470684.html

Sowas wäre doch noch vor wenigen Monaten undenkbar gewesen...! Aber schön, dass die Wirtschafts"wissenschaften" selbst dort ihren Wissenschaftsstatus zu verlieren beginnen... :-)

monoma - 9. Feb, 12:09

ja, momentan gibt´s dort viel zerknirschung und krokodilstränen zu bewundern.
Claudia (Gast) - 9. Feb, 10:37

Vom eigenen "psychophysischen Funktionieren" kannst du dich nicht "mal eben so" emanzipieren!

monoma - 9. Feb, 12:08

das...

...habe ich auch nicht behauptet - eher ist das mit eine der schwierigsten aufgaben, die sich menschen stellen können. dazu kommt, dass solche veränderungen nicht ohne hilfe von anderen umzusetzen sind.

zur anderen frage: das ist meines wissens normal bei twoday, solange jemand nicht angemeldet ist.
Claudia (Gast) - 9. Feb, 10:39

OT: Warum wird mir hier eigentlich ein "Anonym" hinter den NAMEN geknallt, der noch dazu um eine "Heimat-URL" ergänzt ist?

meiko (Gast) - 9. Feb, 14:45

"Krise (...)da geht es um durchgeheulte Nächte." Das ist ein Zitat aus diesem oben zitierten FaZ-Artikel und hat die Krise in dem Moment für mich mal auf die Krise eines Individuums übertragen lassen.
Ich zitiere mal Wiki über so eine :
Eine psychische Krise (unpräzise auch „psychologische Krise“) oder eine Krisensituation ist in der Klinischen Psychologie und Psychiatrie wie im gesamten psychosozialen Bereich ein durch ein überraschendes Ereignis oder akutes Geschehen hervorgerufener schmerzhafter seelischer Zustand oder Konflikt zwischen mehreren beteiligten Personen, der dann entsteht, wenn sich eine Person oder eine Gruppe Hindernissen auf dem Weg zur Erreichung wichtiger Lebensziele oder bei der Alltagsbewältigung gegenübersieht und diese nicht mit den üblichen Problemlösungsmethoden bewältigen kann."

Klare Fall also die Patienten sind die Mitmacher und Vorrantreiber im Neoliberalismus die ihre "wichtigen Lebensziele" (Karriere, viele Autos, "gewinnen müssen"...) gefährdet sehen.
Daher suchen sie sich Hilfe.
Aber anstatt in die Tiefe zu gehen versuchen sie durch eine behavouristische Verhaltenstherapie sich mittels Konjunkturpakete zu belohnen um die Angst vor den sichtbar werdenden Hindernissen und den näherrückenden Bundestagswahlen zu besänftigen.
Problem:
Dadurch wird nur so getan als-ob die "wichtigen Lebensziele" (WLZ)erreicht werden können und die Frage innerhalb einer vernünftigeren Therapieform wäre: wessen WLZ wollen wir eigentlich erreichen und die Antwort wäre: die WLZ sind ererbt und doch selbst-modifizierbar, aber auch von aussen manipulierbar
in Krisenzeiten sind ein sicherer Ort, nette Menschen wichtige Heilungsfaktoren, richtig unangenehm wird es wenn die Beteiligten dann noch Gewalt- z.B. einen neuen Krieg- als Therapieverdrängungsmittel einsetzen, was ja schon öfter nach und während grösserer Krisen angewendet wurde.

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Der Spiegel-Artikel im...
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Texte E.Mertz
Schönen guten Tag allerseits, ich bin seit geraumer...
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