quirinus - 29. Jul, 18:45

@monoma:

Meine Skepsis gegenüber Julias Sprache beruht nicht darauf, daß ich als nun schon recht alter Mensch des Glaubens wäre, es gebe "die" Jugendsprache. Die gibt es selbstverständlich nicht. (Ausgerechnet eine Duisburger Gesamtschule versucht jedoch zu dokumentieren, was unüberhörbar ist, siehe hier.)Aber es gibt einen 'Sound', den alle ungefiltert gesprochenen und geschriebenen Texte Jugendlicher aufweisen, ganz unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, und das zumal dann, wenn sie über sehr aufwühlende Erlebnisse berichten. Julia hat es (vorgeblich) getan, im üblichen von Fehlern nur so wimmelnden Staccato-Stil, der schon vor 10 Jahren für die meisten Texte Jugendlicher leider typisch war, - doch ihre Texte weisen seltsamerweise nicht das auf, was sich in den Texten derer, die heute um die 20 sind und sprachlich wie geistig so unbedarft wie diese Julia, regelmäßig findet: Abkürzungen aller Art, englische Floskeln und vor allem der inflationäre Gebrauch von Ausrufezeichen, Fragezeichen und Auslassungspunkten. Zudem gibt es, wie ich bereits geschrieben habe, seltsame stilistische Brüche, zu denen auch gehört, daß sie kurz nach ihrem vermeintlichen Erlebnis viel kontrollierter (um nicht zu sagen: kalkulierter) und auch 'besser' schrieb als während der letzten drei Tage.

Doch es ja nicht das allein, was mich an dieser Sprache stutzig macht. Es ist deren Egozentrik und das auffallend Rhetorische daran. Ich! Ich! Ich! - und zwischen all diesen Sätzen effektvollerweise immer wieder ein (oft sogar großer) Absatz. Typisch sind Stellen wie die folgenden; ich lasse die großen Absätze zwischen den Zeilen um der besseren Lesbarkeit willen mal weg.

In ihrem Blogeintrag No. 1 schreibt Julia:
Ich kam zu Bewusstsein, merkte das Licht.
Hannah war bei mir.
Die Leute rannten um uns rum.
Ich holte Instinktiv einen Tiefen Zug Luft.
Mein erster Gedanke war der Junge.
Ich drehte mich rum, schüttelte Ihn, als Ich in sein Gesicht blickte war er bereits blau angelaufen und regte sich nicht mehr.
Ich wusste er war Tot.
Ich wurde erneut bewusstlos, fiel mit dem Rücken zum Boden.
Ich merkte Tritte, hysterische Menschen, die Geräusche kehrten zurück.
Jemand tritt mir auf den Hals.
Im Eintrag No. 2 schreibt Julia:
Ich habe viele Aussetzer.
Ich weiß nicht wie, wann und warum ich wieder aufgewacht bin.
Hanna erzählte mir sie habe meinen Arm zerbissen damit ich bei Bewusstsein bleibe und von einem Jungen geredet der ihr und mir geholfen hat.
Ich bin ihr unheimlich dankbar.
Ich bin so vielen Leuten dankbar.
Ich mach mir jeodch Vorwürfe das ich diesem Jungen nicht helfen konnte.
Ich seh ihn noch vor mir liegen, blau und zertrampelt.
Ich denke er ist erstickt.
Wenn ich an dieses Gefühl zurück denke wie qualvoll das ist keine Luft zu bekommen,seine letzten Gedanken aufzuzählen, in Sekundenbruchteilen an die Menschen zu denken die dir wichtig sind...
Ich kann mir gar nicht vorstellen wie grausam es für ihn gewesen sein muss.
Ich komme mir so egoistisch vor.
Und heute, im Eintrag No. 9, schreibt Julia:
Ich schreibe wahrscheinlich totales Wirr Warr, doch fällt es mir schwer mir selber durch zu lesen was ich hier schreibe.
Ich "lade" einfach ab.
Ich hoffe der Tag gibt mir irgendwie Gelegenheit Abstand zu gewinnen oder mich irgendwie zu erholen.
Ich danke euch allen.
Ich denke an euch, an die Helfer, die Opfer, die Hinterbliebenen.
Wenn ich das lese, dann bekomme ich kein Mitgefühl, sondern eher Aggressionen: weil ich dieses "Wirr Warr" als einen klebrigen und schamlosen Versuch empfinde, sich als ganz besonderes (und wahrscheinlich nur vorgebliches) Opfer in den Mittelpunkt zu stellen.

PS. Hierzu paßt, daß Julia bis jetzt kein glaubhaftes Interesse an der Aufklärung all dessen hat erkennen lassen, was zu dem Desaster geführt hat. Kein Haß, keine Wut, kein gar nichts. Und dementsprechend auch kein Wort über die heutige Demonstration gegen OB Sauerland. Sprechen sie und ihre Eltern und ihre Freundinnen denn gar nicht über diese Themen? Tz, tz ...

monoma - 29. Jul, 19:34

@quirinus

ich fürchte, Du vergisst einfach schlicht etwas ganz entscheidendes: wer "dabei" war, und damit meine ich im gedränge in einer lebensgefährlichen situation - danke übrigens für die hinweise auf die videos von "pizzamanne", besonders die letzten beiden teile sind teils unerträglich - , wer also da drin war, ist mit einiger wahrscheinlichkeit schwer traumatisiert.

und das verändert im regelfall einen menschen mehr oder weniger total. und wer zum jetzigen zeitpunkt in der lage ist, sich darüber schriftlich zu äussern, wird das aus einem veränderten bewusstseinszustand heraus tun. ich finde es albern, da mit sprachanalysen heran zu gehen. was würdest Du denn zu dem im beitrag oben verlinkten augenzeugenbericht einer 20jährigen in der "zeit" sagen, wenn er sich mehr oder weniger anonym in einem blog befinden würde ? in den kommentaren findet sich teils eine ähnliche reaktion wie von Dir: das sei "völlig unauthentisch", gestelzt, unglaubhaft etc.

sorry, aber wer so redet, hat schlicht keine ahnung von dem, wie sich ein trauma auswirken kann. der "zeit"-bericht wirkt auf mich zb. sehr distanziert und kontrolliert - nicht gerade selten bei beschreibungen traumatischer situationen, weil die leute diese distanz überlebensnotwendig brauchen.

julia schreibt anders, direkter, natürlich selbstbezogen, vielleicht auch egozentrisch. aber was um himmels willen erwartest Du eigentlich ? eine selbstreflektierte analyse ihres zustands mit genau abgewogenen "ego-anteilen", die aber niemanden stören dürfen?

die frau in der "zeit" hat vermutlich die grösseren intellektuellen ressourcen (darum ist sie da vermutlich auch redaktionelle mitarbeiterin). aber der satz von der "tiefen, ernsten angst" verrät sehr deutlich, was ihr da begegnet ist - die ahnung eines grauens, mit dem keiner der menschen an diesem ort und zu dieser zeit wahrscheinlich noch ne viertelstunde vorher je gerechnet hätte. aber ihre ganze sprache ist sowas von "unjugendlich", dass das deutlich macht, das diese wertung eher reine willkür ist - wie Du selbst auch sagst, es gibt diese "eine" jugendsprache schlicht nicht.

julias sprünge in ihren beschreibungen sind für mich nachvollziehbare auswirkungen dessen, was sie selbst oft genug beschreibt. blackouts, dissoziative momente, zeitsprünge.

Dein versuch im ersten kommentar oben, widersprüche in ihrer darstellung zu markieren, ist übrigens auch oft genug in anhörungen traumatisierter flüchtlinge zu finden, die vor der streng "rationalen" asyl-kommission dann logisch und stringent nachvollziehbar ihre geschichte darlegen sollen, streng nach den "fakten" (ich will Dich nicht mit solchen schreibtischtätern vergleichen, erkennen aber durchaus strukturelle ähnlichkeiten, was Deine argumente betrifft). muss ich anmerken, dass das eine der widerwärtigsten und ignorantesten facetten dieses "rechtsstaates" ist? traumatisierte menschen können diese art der objektivistischen rationalität schlicht aufgrund ihres zustands nicht erfüllen, das trauma konstituiert neben allem anderen ein anderes zeiterleben - zonen "eingefrorener" zeit crashen mit black outs, extremer verlangsamung / beschleunigung. und das wirkt dann aufs ahnungs- und wissenslose außen "widersprüchlich" und unglaubhaft.

dass sie kurz nach der geschichte "kontrollierter" schrieb als später, finde ich ebenfalls keineswegs irgendwie erstaunlich oder "unnormal". verzögerte schockzustände - erst in relativer sicherheit realisiert der körper die vergangene gefahr, vorher werden alle ressourcen für das überleben gebraucht -> erhalten der inneren struktur.

ihren "sound" finde ich insgesamt "stimmig", mit allen brüchen und ungereimtheiten, bzw. besser: gerade wegen dieser.

btw: sie hatte heute vormittag über eine bestimmte spanne ein anderes profilfoto drin, eines, wo sie direkt zu erkennen ist. mittlerweile ist das wieder verschwunden, aber auch das wundert mich nicht. und ich hätte ihr selbst geraten, das wieder raus zu nehmen. jedenfalls fand ich das für einen "fake" recht mutig. außerdem glaube ich nicht, dass sie vorher schon gebloggt hat, sondern das ihre eigene auskunft dazu stimmt: sie sah bzw. sieht das als möglichkeit der verarbeitung. ich hätte ihr empfohlen, das nicht völlig öffentlich zu machen, sondern nur ausgewählte leute zuzulassen. aber sie macht es halt anders. kann ich mir meinen teil zu denken, aber respektiere die entscheidung.

schluß: totale gewißheit wird es über diese frage vermutlich erst dann geben, wenn sie das pech hat, von journalisten aufgespürt zu werden (und ich vermute, die sind schon dabei). wie schon gesagt: klar kann im netz nichts ausgeschlossen werden, ich habe ebenfalls schon simulierte identitäten erlebt, wo ich hinterher nur noch dachte "weia!". aber Deine argumente finde ich in diesem fall aus benannten gründen nicht wirklich überzeugend.

gruß übern fluß!

ps. zu Deinem ps.: "Hierzu paßt, daß Julia bis jetzt kein glaubhaftes Interesse an der Aufklärung all dessen hat erkennen lassen, was zu dem Desaster geführt hat. Kein Haß, keine Wut, kein gar nichts."

"Ich wünsche mir das die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden." (aus dem beitrag "bitte" vom 26.07.

"Ich bin froh wenn ich bestimmte Emotionen habe, selbst wenn ich Trauer verspüre, egal was, hauptsache ich fühle...
Das kann man sich schwer vorstellen, der Körper steht unter Spannung, verdrängt jedes andere Gefühl.
Es fühlt sich für mich grade an wie ein riesen Loch im Bauch, wie Beine die wie gelähmt sind, wie ein Kopf der ausgeschaltet ist und Hände die Gefühle beschreiben die man gar nicht beschreiben kann."
(aus "title-9061753" vom 28.07.)

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