assoziation: steinbrück goes psychohistory ? (wenn der traumadiskurs für antisoziale politik benutzt wird)

mit einem interessanten textfragment möchte ich mich heute näher beschäftigen, auf das ich eher zufällig durch eine kommentierung - eine weitere findet sich bspw. auch hier - der medial so getauften brandrede des ehemaligen spd-parteivorstandsmitglied und finanzministers peer steinbrück aufmerksam geworden bin. im kontext seiner antworten auf das desaströse spd-wahlergebnis im september zieht er vier vorläufige schlußfolgerungen (die natürlich alle darauf hinauslaufen, vor einem "linksrutsch" zu warnen), von denen ich eine sehr bemerkenswert finde:

(...) "Und bei der Annäherung an die Linkspartei ist nicht einmal ein Nullsummenspiel, sondern eher ein Verlust für die SPD wahrscheinlich, weil immer um einen Faktor höher Wählerinnen und Wähler in der Mitte zu den konservativ-bürgerlichen Parteien überlaufen. Das hat etwas mit der ausgeprägten Sehnsucht der Deutschen nach Stabilität, Sicherheit und Beständigkeit zu tun. Diese in meinen Augen tief verankerte Sehnsucht in der deutschen Gesellschaft geht auf die Brüche und traumatischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zurück. Diese Traumatisierungen sind nach wie vor mentalitätsprägend und lassen die Wählerinnen und Wähler in Deutschland in der Mitte zusammenrücken. Jede Annäherung an die politischen Ränder trifft daher auf eine verbreitete Skepsis, mehr noch: Ablehnung in der Bevölkerung." (...)

"oups", dachte ich beim lesen dieser sätze, "unterschätze nie die instrumentelle intelligenz von "eliten" bei ihrem geschäft der machterhaltung". bemerkenswert finde ich vor allem einen möglichen einblick in die handlungsmotivationen von mitgliedern der "politischen klasse", der sich hinter den obigen sätzen offenbaren könnte. ebenso bemerkenswert aber ist aus so einer ecke das - eingeständnis? die behauptung? die vermutung? - , dass die -
abbröckelnde - vorliebe großer teile der hiesigen bevölkerung für "rechte" politikkonzepte unmittelbar etwas mit der spezifisch deutschen traumageschichte zu tun hat, und sich "politik" bzw. parteien, die hier "mehrheitsfähig" sein wollen, sich den daraus resultierenden strukturen und motivationen letztlich nur anpassen können.

nun ist mir das schicksal der spd bekanntlich herzlich egal, und ebenso halte ich aus gründen nicht viel von der demokratiesimulation, die hier unter dem label der "parlamentarisch-repräsentativen demokratie" immer noch in zu vielen köpfen bzw. körpern für die fatale illusion sorgt, dass in diesem system relevante bevölkerungsteile irgendetwas zu sagen hätten. nicht egal finde ich es jedoch, wenn sätze wie die obigen aus dem munde eines kürzlich noch unmittelbar an formalen entscheidungsprozessen "auf höchster ebene" beteiligten kommen, um damit quasi einen bei weitem nicht nur die spd betreffenden gesellschaftlichen status quo zu rechtfertigen, der sich nicht erst seit gestern als komplette sackgasse erwiesen hat. deshalb im folgenden ein paar gedanken zu den inhalten der steinbrückschen einlassungen.

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die argumentative basis, von der er ausgeht, ist dabei aus meiner sicht nicht zu bestreiten - bereits früher waren die hiesigen
traumainduzierten langzeitfolgen aus weltkrieg(en) und nationalsozialismus - die ddr ist dabei noch mal ein eigener bereich - hier thema; und ebenfalls kamen die durch jahrhunderte währenden fatalen ergebnisse der spezifisch deutschen (und sehr gewalttätigen) traumatisierenden erziehungspraktiken , welche sich in ihren übelsten ausprägungenbis teils weit in die 1970er jahre hinein als "normalität" halten konnten, zur sprache. wobei nicht nur ich die letzteren als entscheidend mitbeteiligt bei den ursachen für die ersteren halte, und ebenfalls von weitreichenden und tiefgehenden konsequenzen dieser traumatischen matrix für das gesamte gesellschaftlich-öffentliche, aber auch alltäglich-private leben hier ausgehe.

von daher scheint es also zunächst sogar ein fortschritt zu sein, wenn die skizzierte realität als solche gerade von leuten anerkannt wird, die hier z.zt. noch "politische" entscheidungen treffen. das problem ist dabei nur, dass diese "eliten" aller wahrscheinlichkeit nur aufgrund dieser traumatischen matrix überhaupt in ihren positionen sitzen können; und das führt dann in der folge zu allerlei unschönen paradoxien und / oder zu schlüssen wie denen von steinbrück.

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nun ergibt sich beim näheren nachforschen bezgl. der steinbrückschen thesen, dass er da - fast bin ich geneigt zu sagen, "natürlich" - nicht alleine drauf gekommen ist. wenn ein vertreter von angeblich notwendigen "reformen" wie der "agenda 2010" argumentativ zur erklärung der "reformunwilligkeit" der hiesigen bevölkerung mit dem rückgriff auf die traumatische matrix arbeitet, ist die mögliche quelle dieses diskurses nicht schwer zu finden: die autorin
sabine bode, deren buch zu den (deutschen) kriegskindern der "vergessenen generation" weiter als empfehlung in der literaturliste steht (ein gutes einstiegsbuch zum thema mit viel geschichte zur ptbs-diagnose und abstechern in die neuroforschung und psychotraumatologie), hat einige zeit später unter dem titel "Die deutsche Krankheit - German Angst" etwas thematisch anschliessendes veröffentlicht, welches nicht nur ich beim querlesen so ärgerlich fand, dass ich auf eine betreffende empfehlung verzichtet habe. mir ist allerdings damals entgangen, dass sie dort nicht nur biographische fragmente und statements von bundesdeutschen "promis" wie u.a. norbert blüm, wolf biermann und eben auch steinbrück gesammelt hat, sondern eben dieser steinbrück selbst das buch bei der veröffentlichung 2006 in einer rede zu diesem anlass lobend vorgestellt hat - ein buch, in dem die verfasserin, bei der diese inhaltliche wendung bei der "vergessenen generation" zumindest von mir keinesfalls irgendwie zu vermuten war, u.a. dieses fatale fazit zieht:

(...) "Führt die Verfasserin diese generationsspezifische "Unlebendigkeit" zunächst auf die Sozialisation durch "gebrochene" Eltern zurück, die trotz oder gerade wegen der Erschütterung ihres eigenen Wertesystems die "schwarze Pädagogik" des Nationalsozialismus auch in der Nachkriegszeit noch praktizierten, so geraten später die Nachgeborenen in die Kritik. Jetzt erscheinen nicht mehr Krieg und Nationalsozialismus als "Vergifter", sondern die Vergangenheitsbewältigung der alten Bundesrepublik, die "Kulturleistungen, auf die üblicherweise jedes Volk stolz ist", verworfen habe, "weil man darin die Wurzeln des Zivilisationsbruchs" vermutet habe. "Es ist an der Zeit, unsere Erinnerungskultur zu überdenken", folgert Bode und referiert mit Sympathie ein erzkonservatives Leitbild: Familie, Gott und Nation seien "Ressourcen", die beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften in nur begrenztem Umfang zur Verfügung gestanden hätten. Es gelte, "vergessene Traditionen" wieder aufzunehmen, um ein "verunsichertes Kollektiv [...] zu unterstützen", wie die Verfasserin in ihrem Schlusswort fordert." (...)

(Jörg Arnold: Rezension von: Sabine Bode: Die deutsche Krankheit - German Angst, Stuttgart: Klett-Cotta 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 10 [15.10.2007])


offensichtlich hätte ich das buch damals doch genau von anfang bis ende lesen sollen - die richtung, die bode da mit rückgriff auf eine unbezweifelbare gesellschaftliche realität vorgibt, ist nicht nur fatal, nicht nur "politisch" reaktionär, sondern auch psychotraumatologisch höchst bedenklich, weil es sich bei den erwähnten "ressourcen" in der hier verankerten form allesamt um destruktive kollektivhalluzinationen handelt, von denen ich als beispiel in der vergangenheit
die "nationale identität" als identitätskrücke schon ausführlich kommentiert habe. bode geht damit bei ihren empfehlungen den vermeintlich leichtesten weg, ohne anscheinend auch nur im ansatz zu realisieren, welche destruktiven - und letztlich traumatischen - wirkungen diese "vergessenen traditionen" nicht nur in der deutschen geschichte zu verantworten haben. ebenfalls handelt es sich bei ihren vorschlägen keinesfalls um eine reale kollektive und individuelle bearbeitung der traumatischen matrix (von denen wir bis heute hier jeder und jede einen mehr oder weniger großen teil im wahrsten sinne des wortes verkörpern), sondern letztlich um ein ausweichen mit hilfe von objektivistisch produzierten und angeblich "ewigen" surrogaten - kollektive als-ob-identitäten, in denen sich die beschädigten menschen nicht nur formen anscheinender sicherheit holen, sondern sich durch stärke- und größenillusionen auch um ihre realen psychophysischen zustände selbst belügen.

*

steinbrück nennt den erwähnten bezug auf die "nation" in der
langfassung der oben erwähnten rede anlässlich der buchvorstellung verklausuliert anders:

(...) "Wenn ich das richtig sehe, sagt sie, dass es drei Kraftquellen gibt, über die wir versuchen können, Identitäten zu stiften. Das ist die Familie, das ist der Glauben und das ist die Gemeinschaft. Und ich bleibe mal bei der Gemeinschaft, weil ich mich in das andere nicht einmischen
will. Ich glaube, Gemeinsamkeiten entdecken zwischen Generationen, zwischen sozialen Schichten, Gemeinsamkeiten entdecken in der Beurteilung von komplizierten gesellschaftlichen Fragestellungen, auch zwischen Ost- und Westdeutschen mit dem Ziel, so etwas wie eine kollektive Identität zu stiften, ist in meinen Augen der wahrscheinlich wichtigste Ansatz, um aus diesem verbreiteten mentalen Block herauszukommen, den wir hier als deutsche Angst wahrnehmen und diskutieren." (...)


gegen authentische gemeinschaft, die langsam wächst und sich über lange und teils schmerzhafte prozesse in einem gegenseitigen vertrauen als basis ausdrückt, ist nun nicht nur nichts einzuwenden, eher ist ein solches menschliches (!) und eben nicht durch surrogate wie "nationen", "götter" etc. herbeikonstruiertes bzw. -halluziniertes kollektiv ein noch nicht verwirklichter, aber notwendigerer entwicklungszustand der spezies als vielleicht jemals zuvor, wenn man sich die vielfältigen und bedrohlichen probleme betrachtet, die heute nur noch auf planetarer ebene lösbar erscheinen. was steinbrück aber da unter "gemeinsamkeiten entdecken" und "kollektive identität stiften" aller wahrscheinlichkeit nach versteht, hat mit dem obigen nicht nur nichts zu tun, sondern stellt in gewissem sinne sogar dessen negation dar:
  • die "gemeinschaft" ist hier als implizit als "national" bestimmte formuliert
  • "gemeinsamkeiten zwischen sozialen schichten" entdecken zu wollen ist in einer zeit der weitergehenden spaltung zwischen reich und arm und in einer geleugneten klassengesellschaft eine frechheit, welche die realen gegensätze zugunsten eines halluzinierten als-ob-kollektivs zu verwischen versucht. im prinzip und strukturell ist das nichts weiter als eine modifizierte bzw. neu formulierte variante der nazistischen volksgemeinschaft - "jeder und jede an seinem / ihrem "naturgegebenen" platz für das große ganze"
wenn man sich die von der spd maßgeblich mitverantwortete bundesdeutsche politik der letzten zehn jahre betrachtet, so machen gerade solche aktuellen ausfälle wie die des spd-mitglieds sarrazin aus obiger perspektive einen größeren sinn, denn die spaltungen, die die "unterschichten-debatte" formuliert und zementiert, dienen auf der anderen seite genau der produktion einer solchen "gemeinschaft", wie sie steinbrück oben vorschwebt. dazu ist es bei der konstruktion solcher kollektiven surrogat-identitäten unabdingbar, mit einem binären "wir" und "die" zu operieren, weil der ausführende
objektivistische modus nur anhand solcher trennungen "identitäten stiften (konstruieren)" kann. der größte unterschied zur alten "volksgemeinschaft" nazistischen typs dürfte heute darin liegen, dass die aus- bzw. einschlußkriterien nur noch sekundär rassistisch/ethnisch bestimmt werden (obwohl das durchaus noch ein rolle spielt), sondern vor allem nach leistungskriterien (die machen "den ausländer" dann zwar immer noch nicht zum "deutschen", aber sie sorgen für etwas, was sich als murrende duldung bezeichnen liesse - solange eben die leistung stimmt.)

*

wo ich gerade beim thema bin: sowohl bode als auch steinbrück blenden völlig aus, dass sich inzwischen ebenfalls relevante gruppen und menschen aus anderen regionen / ländern hier teils selbst zur bevölkerung zählen, teils faktisch als zugehörig betrachtet werden sollten. und diese bringen aus (bürger-)kriegsregionen, diktaturen, zuständen extremer armut sowie entsprechenden fluchtgeschichten oft genug selbst traumatisierungen mit, deren konsequenzen dann hier vor ort genauso virulent werden wie die
tradierten "selbstproduzierten". komplexer wird die situation noch dadurch, dass der deutsche staat bzw. die deutsche gesellschaft teils direkt (bei kriegsbeteiligungen), teils indirekt (bei ökonomischer ausplünderung bspw.) als täterkollektiv auftritt, was die täter-opfer-dialektik fast aussichtslos verwirrend werden lässt.

gleichfalls ist besonders bei steinbrück als vertreter der antisozialen "agenda-gesetze" ein weiterer blinder fleck dahingehend zu konstatieren, dass er offensichtlich die
traumatischen bis tödlichen folgen gerade der "hartz-IV"-gesetze entweder nicht wahrnehmen kann oder will. spätestens dieser umstand macht jedes wort, was leute wie er über die traumatische matrix verlieren, zur heuchelei. nicht, dass ich alles als falsch begreifen würde, was er diesbezgl. sagt (aber vieles); ohne aber zu begreifen, dass er selbst und die politik, für die er steht resultate dieser matrix darstellen, wird er letztlich nur noch eins: unglaubwürdig.

*

nichtsdestotrotz ist ein aspekt in der langfassung der rede gerade vor dem hintergrund seiner position als finanzminister und seiner rolle beim umgang mit der wirtschaftskrise interessant, nämlich dann, wenn er bodes blickwinkel bezgl. historisch traumatisierender ereignisse erweitert:

(...) "...mit Sicherheit durch die Inflationsentwicklung 1923, durch den Zusammenbruch auch des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Mittelstandes, dass sie ökonomisch traumatisiert worden sind in der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre,..." (...)

ich finde es nicht allzu abwegig, anzunehmen, dass bei der systemrettung um jeden preis auch solche motivationen bei den protagonistInnen in d-land eine rolle gespielt haben bzw. spielen (ihre kapitalhörigkeit wird damit weder bestritten noch in ihrer bedeutung tangiert). wenn auch nur relevante teile der hiesigen "eliten" tatsächlich die existenz der traumatischen matrix in ihr kalkül miteinbeziehen, wird die auch hier im blog schon oft thematisierte simulation von "normalität" in einer ausgewachsenen systemkrise nochmals verständlicher, zumal gerade die "politische klasse" hier an führender stelle beteiligt und tätig ist. es wäre dann, wie steinbrück ganz oben bezgl. der wahlen ausführt, teil eines machtkalküls, bei dem leute wie er meinen und glauben, die traumatisierten bevölkerungsteile durch eine illusion von sicherheit und beständigkeit zur eigenen unterstützung instrumentalisieren zu können. muss ich an dieser stelle noch extra erwähnen, dass ein vom interesse an authentischer menschlicher emanzipation geleiteter umgang mit der traumatischen matrix qualitativ sehr anders aussehen müsste? das ständige platte an- und belügen über die tatsächliche realität bis hin zum einsatz komplizierter fakes und simulationen bspw. lässt sich als permanenter trigger mit re-traumatisierender wirkung betrachten, den eine emanzipatorische politik im eigenen interesse zu vermeiden hat (nebenbei gesagt, wird sich meiner meinung nach u.a. an solchen stellen auch die tatsächliche emanzipatorische kraft der "linken" [partei] herausstellen).

*

bleibt zum schluß noch der kurze hinweis auf andere politikfelder wie zb. die "innere sicherheit" (ein wahrhaft treffender begriff!), bei dem die traumatische matrix mitverantwortlich sein dürfte für widersprüche wie denjenigen zwischen einer einerseits in den letzten jahren ständig sinkenden kriminalitätsrate und andererseits steigenden unsicherheitsgefühlen vor allem bei älteren menschen (die größtenteils noch der kriegskindergeneration angehören). ein
schäuble als bisher handelnder protagonist jedenfalls stellt mit seinem individuellen traumatischen background einen perfekten stellvertreter für all jene dar, die sich unbegriffenerweise durch ihre individuelle und kollektive biographie in den historischen wirren dieser welt weiterhin in angstbesetzten, paranoiden, dissoziativen und destruktiv-aggressiven traumainduzierten zuständen befinden. schon aus solchen gründen ist das gerede von "mündigen bürgern" übrigens ein schlechter witz.

die zu beobachtende größere gewalt und brutalität bei in relation kleiner werdenden tätergruppen lässt sich ebenfalls vor dem hintergrund der traumatischen matrix besser verstehen, aber das ist ein anderes thema für andere beiträge.

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