assoziation: von simulierten welten

"Wir blicken auf die Megamaschine der Moderne mit ihren explodierenden, implodierenden und zunehmend konvergierenden Mechanismen (`Globalisierung´), also auf dieses ganz und gar Gemachte, Artefaktische, wie auf ein `Natur´-Ereignis, das mit der unberechenbaren Eigendynamik einer Urgewalt über uns hereinbricht und nur noch durch bedingungslose Unterwerfung einigermaßen `beherrscht´ werden kann. Gleichzeitig verwandelt sich die ganze Welt der authentischen Person und ihrer Beziehungen in ein bewußt Gestaltbares, Machbares, Herstellbares: Wir kompensieren unsere sklavische Unterwerfung unter das Diktat der mechanistisch-toten Anonymität durch heroische Selbstgestaltungen, die in dieser Form gar nicht realisierbar sind. Auch wenn uns unsere Welt zunehmend entgleitet, und zwar in entwürdigender Weise, so versuchen wir doch alles, um wenigstens noch eine `gute Figur zu machen´.

Der spätmoderne Mensch präsentiert sich, auf allen Ebenen der Intellektualität, Weltmächtigkeit und auch im Privaten, als ziemlich lächerliche und realitätsflüchtige Figur. Die mentale Selbstversklavung des spätmodernen Typs in Gestalt der erniedrigenden und hoffnungsfrohen Unterwerfung unter den Terror der anonymen Mechanismen und des autistischen Objektivs kann durch nichts in der Welt kompensiert werden."

(j. erik mertz, borderline - weder tot noch lebendig; s. 311; siehe literaturliste)


*

als einstieg in diesen beitrag, den ich durch einige leseerlebnisse anderswo angeregt schreibe, finde ich das obige zitat - mit dem ich damals auch dieses blog begonnen hatte - sehr passend. das "warum" sollte sich in den folgenden absätzen erschliessen.
*

und die beginne ich mit
dieser meldung aus österreich:

"Unerwiderte Liebe hat zu dem Mord mit anschließendem Selbstmord am späten Freitagabend in der Wiener Innenstadt geführt. Bei der Bluttat erschoss in den Räumlichkeiten der Österreichischen Autistenhilfe (ÖAH) in der Eßlinggasse 17 ein 29-jähriges Mitglied einer Autisten-Selbsthilfegruppe eine 24-jährige Studentin und danach sich selbst. Offenbar hatte sie seine Liebe zu ihr nicht erwidert, wie ÖAH-Vizepräsidentin Ruth Renee Kurz am Samstagvormittag schilderte.(...)

Er schoss mit dem Gewehr mehrfach auf die 24-Jährige, die in einem Wiener Studentenheim lebte. Die anderen Gruppenmitglieder brachten sich schwer geschockt in Sicherheit. Dann tötete er sich selbst in einem Nebenraum. Seper: "Es deutet alles darauf hin, dass es sich um eine Beziehungstat gehandelt hat."(...)

Fraglich ist, was den 29-Jährigen zu der Tat getrieben hat. Gerade bei Autisten seien solche Handlungen sehr ungewöhnlich, so Kurz: "Normalerweise ist es so, dass Autisten, wenn sie überhaupt zu Aggressionen neigen, diese eher gegen sich selbst richten. Gerade diese Kinder brauchen besonders viel Liebe, weil sie so übersensibel sind, viel sensibler als wir alle." Der ÖAH-Vizepräsidentin zufolge hat der Täter vor kurzem eine Bezugsperson durch Todesfall verloren, was seine Situation zusätzlich schwierig gemacht haben könnte."(...)


innerliches aufstöhnen war meine erste reaktion bei ansicht dieses artikels, und das bezieht sich vor allem auf den völlig unreflektierten gebrauch einiger worte - da wäre einmal das behauptete tatmotiv in gestalt der "unerwiderten liebe" - dazu hatte ich bezgl. verdinglichender wahrnehmungsmodi in der vergangenheit etwas geschrieben, was ich jetzt nochmal
zitiere:

"ich frage mich immer, wann sich endlich herumsprechen wird, dass menschen andere menschen, die auch als menschen wahrgenommen werden, unmöglich besitzen können /wollen. diese besitzidee könnte ihre basis in einer konstellation "ich vs. mein körper" als selbstwahrnehmung haben - und hat bereits dann, wenn nämlich diese konstellation in der selbstwahrnehmung dominant ist, eine gewisse pathologische qualität (ja, ganz recht, unser westliches normalbewußtsein...). anders: "besitzen" lassen sich nur dinge - oder eben menschen, die durch eine defekte wahrnehmung in dinge verwandelt werden. was mich zu einer etwas überraschenden assoziation bezgl. sogenannter "eifersuchtsmorde" bringt, die angeblich immer durch "übergroße liebe" verursacht werden. vielleicht existieren auch hier zwei qualitativ grundsätzlich verschiedene zustände von eifersucht: einmal eine authentisch-menschliche form, die durch schmerz über zurückweisung und (getriggerte) verlustgefühle (trauer!) auch älterer herkunft gekennzeichnet ist. und zum anderen eine "als-ob-eifersucht", bei der das wort liebe völlig fehl am platze ist, und die sich eben durch die kränkung durch den verlust eines für einen selbst wertvollen objektes auszeichnet. liebe lässt los, wenn auch unter schmerzen - die immer wiederkehrenden morde jedoch lassen ganz und gar nicht los, vernichten das ding lieber, und erkennen damit auch nicht die existenz einer anderen persönlichkeit als eigene qualität an. und das ist von liebe welten entfernt, wie ich finde."

ich sehe keine gründe, das obige grundsätzlich zu revidieren - wer bezgl. solcher eifersuchtsmorde ernsthaft von tatmotiven aus "liebe" redet, muss sich meiner meinung nach dringend mit seinem liebesbegriff auseinandersetzen. und natürlcih beschreibt das letzte zitat eine strukturell autistische position, die sich - versteckt - ebenso als psychophysische ausstattung bei vielen "normalen" und nicht als explizit autistisch diagnostizierten wiederfindet.

der täter im aktuellen fall hat gleich mehrfach auf die angebliche "geliebte" geschossen - mal ehrlich, wer soll diesen sprachgebrauch bei so einem deutlich an den tag tretenden vernichtungsdrang noch ernstnehmen? das gleiche gilt für den ausdruck "beziehungstat", der hier primär der verschleierung der sich aus den genannten fakten ergebenen offenkundigen tatsache dienen soll, dass eben keine (authentische) beziehung vorhanden gewesen sein dürfte.

das bei menschen mit diagnosen aus dem "klassisch" autistischen spektrum mordaktionen eines solchen kalibers "sehr ungewöhnlich" sein sollen, mag bei betrachtung der relationen zu den taten der "nt`s" (autistischer "slang" für die angeblich "neurologisch typischen") der fall sein - mir sind keine diesbezgl. statistiken bekannt, aber es existieren genügend hinweise dafür, dass auch diagnostizierte autisten durchaus in der lage sind, ihre aggressionen in extrem destruktiver manier nach außen zu richten - beispiele
hier und hier.

das es dazu tatbegünstigende umstände wie den benannten todesfall im umfeld des täters geben kann, halte ich für möglich. hingegen ist die behauptete sensibilität wieder etwas, was meiner meinung nach nicht mit pauschal mit der authentischen sensibilität gleichgesetzt werden darf - in den bisherigen blogbeiträgen zum thema autismus sollte deutlich geworden sein, dass es sich um eine schwere psychophysische störung besonders der sozialen (beziehungs-)fähigkeiten handelt, die u.u. kompensatorisch durch allerlei objektivistische simulationen "ersetzt" werden, was speziell für den versteckten strukturellen autismus gilt. das gilt es durchaus zu unterscheiden von der situation, in der sich bspw. schwer autistische kinder befinden, bei denen bezgl. spezieller wahrnehmungen durchaus so etwas wie eine übersensibilität zu verzeichnen ist. ich möchte nur in frage stellen, dass sich diese ausgerechnet auf die wahrnehmung sozialer beziehungen entwickelt. davon abgesehen: ich würde einen 29jährigen nicht mehr unbedingt als "kind" betrachten, selbst wenn diese bezeichnung seitens der zitierten leiterin der öah metaphorisch für den inneren entwicklungsstand des täters gemeint gewesen sein sollte.

als vorläufiges fazit möchte ich festhalten, dass anhand einer solchen tat für mich speziell am punkt der selbst- und fremdwahrnehmung bei sog. "beziehungs"tätern deutlich wird, dass die " klassischen" autisten bzw. ihre existenzweise sehr viel mehr mit den wahrnehmungsmodi scheinbar ganz "normaler" menschen zu tun haben, als uns allen lieb sein kann. und das gilt genauer gesagt nicht nur für solche taten, sondern
auch andere.

*

von anscheinend "privaten" welten, in denen simulierte und konstruktivistische "liebe" solche mörderischen folgen nach sich ziehen kann, springen wir in die öffentlichen - bei kritik und kunst ist mir ein aktueller beitrag mit dem titel
Die simulierte Welt: Von den Lügen der Mächtigen besonders ins auge gefallen - der text beschäftigt sich anlässlich der krise besonders mit der einerseits zu beobachtenden realitätsflucht bzw. -verdrängung seitens der sog. "eliten", die andererseits mit einem von aussen als schon starrsinnig zu betrachtenden festhalten an den systemtragenden simulationen, fakes und als-ob-konstrukten untrennbar zusammenhängt. hartmut finkeldey macht das u.a. an den notorisch verzerrenden statistiken zur erwerbslosigkeit fest:

(...)"Das kommt bei der infamsten wirtschaftspolitischen Lüge, dem infamsten "image", das der Neoliberalsimus in den letzten Jahren kreierte, sinnfällig zum Ausdruck. Ich meine die Lüge vom "Wirtschaftswunder 2.0", die Lüge des "die Reformen wirken, die Arbeitslosigkeit geht zurück, die Kaufkraft steigt" etc. Alle öffentlich zugänglichen Zahlen belegten damals, 2006 und 2007, problemlos, dass weder die Erwerblosigkeit real zurückging, noch die Kaufkraft der Bevölkerung stieg. Dennoch erlebten wir damals monatlich das gleiche Ritual: Es wurden real gar nicht existente "Erfolge am Arbeitsmarkt" verkündet, die GfK konstatierte einen "Anstieg der Konsumlaune" - und dass der Konsum real gar nicht stieg (und nicht steigen konnte, da ja die Kaufkraft fehlte), fand sich dann irgendwann auf Seite 15 unten in einer kleinen Meldung, wenn überhaupt.

Und dieser Vorrang des Virtuellen, diese Schein-Problemlösung (das Arbeitslosenproblem wird per Fake "gelöst") in einer Schein-Welt (die Reformpolitik bewirkt, das es "allen besser geht"), diese gespenstische Simulation ist alles andere als lediglich harmlose Real-Satire. Denn in einer Welt,in der Vollbeschäftigung simuliert wird, es real aber sehr wohl Erwerblose gibt, fallen die realen Erwerblosen eben als Überflüssige aus der Welt. Sie werden gleichsam weggekürzt. Wie schon gesagt: Aus naheliegenden Gründen - denn wenn die Wirklichkeit mit meiner Ideologie nicht übereinstimmt, desto schlimmer für die Wirklichkeit! - verbindet sich mit einer solch gespenstisch herbeisimulierten Welt die Neigung, die wirkliche Welt der Simulation anzupassen, und sei es durch Gewalt. Denn reale Erwerblose in einer fast schon der Vollbeschäftigung zustrebenden Welt darf es ja gar nicht "geben", sie müssen ja selbst schuld sein - und dürfen somit erbamungslos der Scheinwelt angepasst werden. Durch Sanktionen, Schikanen, verweigertes Geld. So stellt sich dann per Gewalt im Idealfall wirklich ("wirklich"!) die Arbeitslosenquote Null her..."(...)


das ist meiner meinung nach ein gut beschriebenes beispiel für den ständigen versuch der ersetzung der realität durch simulierte pseudo- bzw. als-ob-realitäten. ich möchte das nur noch dahingehend ergänzen, dass ich das problem tiefer sehe: wie der verlinkte beitrag schon selbst beschreibt, handelt es sich bei simulationen einer solchen dimension keinesfalls um "gewöhnliche" lügen; und das nicht primär deswegen, weil hier eine große zahl von personen an der systematischen konstruktion solcher als-ob-realitäten beteiligt ist, sondern eher deswegen, weil die virtuellen welten mutmaßlich für eine größere zahl der in "politik" & wirtschaft handelnden protagonisten die ihnen
einzig mögliche existenzweise darstellt - und warum die inneren strukturellen merkmale pathologischer art bei einzelnen menschen durchaus gesamtgesellschaftlich fatale folgen nach sich ziehen können bzw. gleichfalls ausdruck gesellschaftlicher verhältnisse darstellen, habe ich in anderen beiträgen schon öfter versucht, aufzuzeigen.

eine weitere assoziation zum empfehlenswerten k-u-k-beitrag noch:

(...)"Im Bereich des Politischen sind wir, spätestens, seit mithilfe von Massenmedien Legitimation hergestellt werden muss, mit einem Phänomen konfrontiert, das Arendt als "image-making" problematisiert hat. Dieses Image-making, diese Manipulation der Wirklichkeit im Bereich der Politik ist eben gerade kein punktuelles Lügen. Politik findet dann unter offenkundig falschen, erlogenen Voraussetzungen statt. Es handelt sich hier keineswegs um ein Oberflächenphänomen. Denn die Manipulierer sind gezwungen, wie Arendt richtig sah, die Wirklichkeit ihren Manipulationen anzupassen. Und es handelt sich dabei mitnichten nur um gefahrlose Flunkerei (etwa, wenn irgendwo Jubelperser hinbestellt werden, was ja manchmal, jüngst bei Sarkozy, auch eine heitere Note hat).

"Die Täuscher wie die Getäuschten müssen, schon um ihr "Weltbild" intakt zu halten, sich vor allem darum kümmern, daß ihr Propaganda-"Image" von keiner Realität gefährdet wird."(Arendt, Hannah, aaO, p. 359)


das, was da im zitat von hannah arendt beschrieben wird, ist aus meiner sicht nichts anderes als angewandter konstruktivismus, wie er auch als grundlage und technik in dem nicht zufällig in elitären kreisen beliebten sog.
neurolinguistischen programmieren benutzt wird, welches primär zum ziel hat, die eigenen fiktionen (die grenze zu klinisch relevanten wahngebilden ist hier mehr als fließend) als "realität" wahrzunehmen. es wäre eine durchaus interessante sache, mal bei gelegenheit nachzuforschen, wieviele der jetzt von der authentischen realität so in die bredouille gebrachten bankster, manager und die sie hofierenden politiker mittels nlp-methoden "gecoacht" worden sind, die tatsächlich darauf hinauslaufen, "die ganze Welt der authentischen Person und ihrer Beziehungen in ein bewußt Gestaltbares, Machbares, Herstellbares" zu verwandeln, wie mertz es ausdrückt. einige bekannte beispiele sind im verlinkten beitrag zu nlp anfangs schon genannt.

*

in einem ganz anderen zusammenhang beschäftigt sich gleichfalls robert kurz in einem
interview - ebenfalls anläßlich der aktuellen krise - mit der virtualisierung sozialer zusammenhänge, speziell innerhalb linker theorie & praxis - und ich möchte dabei explizit auf den benannten aspekt eingehen (wobei das schon als teil meines zuletzt angekündigten antwortversuchs hinsichtlich der demonstrationen am kommenden wochenende betrachtet werden kann):

(...)"Warum ist die Schande der Krise auch die Schande der postmodernen Linken?

Die Krise ist keine Schande, sondern ein objektiver Prozess, der aus der blinden Dynamik von Konkurrenz und unkontrollierter Produktivkraftentwicklung resultiert. Hinsichtlich der postmodernen Linken kann man insofern von einer Schande sprechen, als sie die Kritik der politischen Ökonomie größtenteils über Bord geworfen hat. Der „Ökonomismus“ der traditionellen Parteimarxisten wurde nur kritisiert, um die negative Objektivität der kapitalistischen Kategorien von „abstrakter Arbeit“ und „Verwertung des Werts“ gleich ganz zu entsorgen. Die Krisendynamik des Kapitalismus wurde völlig verkannt und in „unbegrenzte Möglichkeiten“ umgedeutet. Wie die neoliberalen Eliten glaubte die postmoderne Linke an das „finanzgetriebene Wachstum“ und machte sich zu einem ideologischen Ausdruck des fiktiven Kapitals. Den ökonomische Virtualismus ergänzte der technologische Virtualismus des Internet. Das „second life“ im virtuellen Raum mutierte zur „eigentlichen“ Lebensform, die angebliche „immaterielle Arbeit“ (Antonio Negri) zur Fortsetzung der kapitalistischen Arbeitsontologie.(...)

Der falsche ökonomische und technologische Virtualismus schlug sich philosophisch in einer Erkenntnistheorie nieder, die den fetischistischen „realen Schein“ des Kapitalverhältnisses nicht mehr kritisieren und überwinden wollte, sondern zu dem Glauben verführte, sich in diesen Verhältnissen „selbst verwirklichen“ zu können. Das „eiserne Gehäuse“ (Max Weber) des warenproduzierenden Systems wurde den virtualistischen Illusionen entsprechend in eine jederzeit und für alles offene „Ambivalenz“ und „Kontingenz“ umdefiniert, die beliebig begehbar zu sein schien. Wahrheit, auch die negative Wahrheit der Kritik, sollte keine objektive Grundlage in den Verhältnissen mehr haben, sondern als „produzierbar“ und „verhandelbar“ gelten. Das negative Wesen des Kapitals löste sich für die postmoderne Linke in eine unbestimmbare „Vielfalt“ von Erscheinungen auf, die sich als zusammenhanglose „Vielfalt“ sozialer Bewegungen ohne Fokussierung auf den harten Kern des Kapitals darstellen sollte.

In sozialer Hinsicht war die postmoderne Linke ein Trendsetter der kapitalistischen Individualisierung und Flexibilisierung. Das abstrakte Flexi-Individuum wurde nicht als Krisenform des bürgerlichen Subjekts erkannt, sondern zum Vorschein befreiter Individualität schon innerhalb des Kapitalismus verklärt. Statt als letzte Daseinsform des totalitären Marktes und als drohender „Krieg aller gegen alle“ in der universellen Krisenkonkurrenz erschien die Individualisierung als atomisierte Form der „Selbstverwirklichung“ und der „flexible Mensch“ (Richard Sennet) nicht als hilflos getriebenes Objekt kapitalistischer Zwänge, sondern als „Souverän“ seiner selbst, der neue Spielräume gewinnen und alles aus sich machen könne. Die Nähe des postmodernen Denkens zur neoliberalen Ideologie war trotz aller äußeren Gegensätze immer unverkennbar. Jetzt steht die postmoderne Linke vor den Trümmern ihrer Illusionen und wird mit der harten Realität einer epochalen Krise konfrontiert, die sie von Anfang an nicht wahrhaben wollte und auf die sie deshalb nicht vorbereitet ist."(...)


mal von dem spezifischen hintergrund der kurzschen "wertkritik", die ich hier nicht weiter erläutern kann und will, abgesehen, ist der obige befund für mich durchaus schlüssig - wenn dazu die notwendige benennung der dazugehörigen psychophysischen prozesse (wie traumatisierungen, ihre möglichen folgen und auch die gesellschaftliche verbreitung antisozialer bis soziopathischer pathologien) erfolgt, die ich sowohl als ausdruck wie auch gleichfalls als motor der hier leider wieder mit dem falschen ausdruck "individualisierung" bezeichneten prozesse begreife - es geht um vereinzelung und die zerstörung sozialer zusammenhänge bzw. deren versuchte ersetzung durch konstruktivistische und simulative surrogate, für die seit der verbreitung von computern und internet gewaltige und historisch neue möglichkeiten vorhanden sind (nebenbei: ich bezweifle, dass die dynamik der aktuellen krise ohne computer so möglich wäre).

die benannte postmoderne ist dabei aus meiner persepktive identisch mit der anfangs von mertz erwähnten "spätmoderne", auch wenn dieser die postmoderne in seinem modell bereits als erledigt ansah. und wenn ich hier im blog von der ersteren spreche, so meine ich auch immer die letztere.

es steckt sehr viel im zitat von kurz, auf das ich nur unzureichend eingehen kann - und der satz "Die Nähe des postmodernen Denkens zur neoliberalen Ideologie war trotz aller äußeren Gegensätze immer unverkennbar." ist ein volltreffer in der hinsicht, als das er viele fragmente politischer, ökonomischer, sozialer und gerade auch kultureller entwicklungen, die hier im blog auch schon als explizite probleme begriffen worden sind, in den meiner meinung nach realistischen größeren zusammenhang bringt.

die postmoderne linke hat sich dieses attribut vor allem dadurch "verdient", in dem gerade in ihren sog. popkulturellen und auch gender-politischen fraktionen die dominanz konstruktivistischer ansätze ein ausmaß angenommen hat, welches zwangsläufig in ganz eigene formen der als-ob-welten führen musste - ohne irgendwann noch begreifen zu können, dass all diese welten sowohl untrennbar mit der authentischen sozioökonomischen realität nicht nur verbunden sind, sondern darin ihre grundlagen besitzen; als auch ausdruck von problematischen bis offen pathologischen entwicklungen darstellen - das hatte ich hinsichtlich der debatten zu sex und gender und ihrer betonung von nötigen dekonstruktionen geschlechtlicher identitäten in früheren beitragen bspw.
so ausgedrückt...

"konstruierte identitäten, die bis heute den kern der gesellschaftlichen geschlechterstereotypen bilden, sind beliebig austausch- und natürlich auch dekonstruierbar - aber das eigentliche problem versteckt sich eher dahinter: konstruierte identitäten bilden primär krücken für diejenigen, die aufgrund psychophysischer schäden die (körperlichen) grundlagen ihrer eigenen authentischen identität entweder nicht (mehr) wahrnehmen oder aber deren grundlagen erst gar nicht entwickeln konnten."

...oder auch
so:

"warum aber sollte jemand, der/die sich in sich und seiner/ihrer körperlichkeit sicher und wohl fühlt, den wunsch entwickeln, sich eben von dieser körperlichkeit und den damit untrennbar verbundenen vielfältigen beschränkungen und grenzen "befreien" zu wollen, sich eine neue identität verschaffen zu wollen? es macht, egal aus welcher perspektive betrachtet, keinen sinn - es macht aber dann einen sinn, wenn die ureigene menschliche körperlichkeit eben nicht mehr oder nur noch fragmentarisch als eigenes selbst empfunden wird bzw. werden kann - die bewegung hin zu fiktiven sphären, in denen die heimat ebenso fiktiver selbstentwürfe oder der konstruktion von mächtigen wesen zu suchen ist, stellt sich aus dieser perspektive als eine determinierte, also unfreie und defensive reaktion auf tatsächlich unerträgliche realitäten dar. und das ist eben vielleicht auch am besten in jenen feministischen strömungen zu sehen, die ernsthaft in der "befreiung" von der eigenen körperlichkeit letztlich eine tendenz weiterführen, die ebenso ein nietzsche in seinem konzept vom "übermenschen" bereits entwirft. zufällig ist das weder im einen noch im anderen fall - gerade frauen haben eine vielfältige und leidvolle erfahrung mit angriffen auf die eigene subjektivität und körperlichkeit (bei männern dürfte das imo ebenfalls eine rolle spielen, wobei hier die bereits sowieso weiter fortgeschrittene entfremdung von eigener körperlichkeit und sinnlichkeit eine rolle spielt)."

und hinsichtlich der sog. poplinken, von denen in einer ihrer verfallsformen nur noch ein durchaus positiver, aber "irgendwie kritisch" gemeinter bezug auf sog. "bewusstes konsumieren" übriggeblieben ist (dazu gehören auch durchaus alle fragen des sog. styles), findet sich hier ein passendes zitat einer rezension des buches
"fake for real":

(...)"Das Bedenkliche daran ist, dass in die Simulation politischen Handelns nur allzu gerne eingewilligt wird. Judith Mair und Silke Becker, altersmäßig der als apolitisch gescholtenen Generation Golf zugehörig, ziehen in ihrem Buch "Fake for real. Über die private und politische Taktik des So-tun-als-ob" erleichtert den Schluss, dass die Ära der "Objektivitätsapostel" mit ihren ideologischen Scheuklappen endgültig überwunden sei. Statt großen Posen in der politischen Arena empfehlen die beiden Autorinnen smartes Verhalten in der Warenwelt: "Als aktive Konsumenten sind wir zugleich immer auch konsumierende Aktivisten, die sich aus einem gut bestückten Freizeitparksortiment und Supermarkt das herauspicken, was ihrer ,politischen Gesinnung' nahe kommt."

Es ist bezeichnend für das Selbstverständnis vieler Menschen in den Dreißigern, die statt von Bebel von Baudrillard gelernt haben, politische Gesinnung nur noch in Anführungszeichen denken zu können. Der Austausch von widerstreitenden Positionen, die Geltungsansprüche von Welterklärungsmodellen wird mit Kusshand den "immergleichen selbsternannten Diskurshoheiten" (Mair/Becker) überlassen. Man selbst wähnt sich in der pfiffigeren Position und verfolgt amüsiert das Politainment der Titanic-Partei und die situationistischen Einflüsse bei Guido Westerwelle.

Die schonungslose Analyse hat man drauf, klar, doch um das Eingeständnis, über die jahrelangen Dekonstruktionsarbeiten irgendwie auch seinen Politikbegriff verloren zu haben, drückt man sich noch herum."(...)


das traf schon damals - vor fast vier jahren - genau den punkt, der bei robert kurz jetzt genauer ausgeführt wird.

umso ärgerlicher finde ich, dass er - sozusagen auf einer weiteren metaebene - das zugrundliegende problem der zentralen verleugnung der tatsache, "das menschen beziehungswesen aus fleisch und blut" (mertz) sind, und die nichtberücksichtigung der konsequenzen aus dieser elementaren basis für alle nur denkbare sozialität ebenfalls weiterführt, und zwar mit folgendem absatz aus dem interview:

(...)"Für eine neue soziale Emanzipationsbewegung geht es nicht mehr darum, ein „objektives Subjekt“ wachzuküssen, sondern ohne ontologische Rückversicherung die Subjektform überhaupt zu kritisieren und als kapitalistische Daseinsform zu dechiffrieren. Die Form „Subjekt“ kann immer nur ein Agent des „automatischen Subjekts“ von Kapitalverwertung sein und darf nicht mit dem Willen zur emanzipatorischen Aktion verwechselt werden, der sich selbst konstituieren muss und keine ontologische Grundlage haben kann. Das ist schwer zu denken, weil gerade die postmoderne Linke die Kritik des Subjekts aufgegeben hat (so ist der späte Foucault zur Beschwörung des partikularisierten Subjekts zurückgekehrt). Diese Kritik ist vor allem deshalb gescheitert, weil sie nicht mit der Kritik der politischen Ökonomie vermittelt war."(...)

ich betrachte das "subjekt" im kapitalismus immer als ein als-ob-subjekt, weil es sich von seinen dominierenden psychophysischen funktionsweisen her betrachtet eher um ein schwer beschädigtes subjekt handelt, welches diese beschädigungen - die sich vor allem im gesamten bereich der sozialen beziehungen manifestieren - kompensatorisch versucht, mittels verdinglichung/objektivierung seiner selbst und auch aller anderen, genauer gesagt alles lebendigen anderen, auszugleichen - es geht also um überlebensversuche, die bei einer postulierung des subjekts als "eigentlich überflüssig" an stärke und verzweiflung nur noch zunehmen werden. die sog. subjektform, die kurz als identisch mit der "kapitalistischen daseinsform" begreift, ist aus meiner perspektive eigentlich keine authentische subjektform mehr, besser gesagt, es ist ihre totale negierung: nämlich der
soziopath (unabhängig davon, unter welchen namen diese extreme manifestation der kapitalistischen normen in körperlicher gestalt nun historisch bisher aufgetreten ist). hier haben wir den meiner meinung nach einzigen tatsächlichen fall, in dem das subjekt aufgrund psychophysischer prozesse tatsächlich zu einer art objekt im totalitären, d.h. allumfassenden sinne, und damit zur kapitalistischen daseinsform, geworden ist.

es bedarf zu einer tatsächlichen emanzipation bei den meisten menschen also eher des zurückdrängens der objektivistischen, konstruktivistischen und simulativen prozesse, was ich gleichbedeutend mit gesundung begreifen würde - und zwar nicht mit einer gesundung im sinne kapitalistischer verwertungs- und leistungsfähigkeit, wie hoffentlich klar sein sollte. wir brauchen gerade mehr authentische subjektivität und auch individualität, um zur authentischen kollektivität zu kommen!
hf - 22. Mär, 18:01

Postmoderne

Danke schön-

interessant, dass Kurz zu identischen Ergebnissen kommt wie ich, obwohl ich doch eher links-ästhetische als psychologische oder politisch-ökonomische Kriterien anlege. Ich trommele seit Jahren, dass die Postmoderne und ihr flauschig-unverbindliches Dauerrauschen der Zeichen nur die Kehrseite der knallharten, sozialdarwinistischen Sieger-Medaille ist.

Auch ganz konket übrigens: Der Künstler, der Literat, der Slam-Veranstaltungen und andere "Projekte" macht, als Pausenclown und Spassswichtel (mit drei s bitte!) des Neoliberalismus.

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