kontext 49: "eyeless in gaza" - die unendliche re-inszenierung
das ist nicht nur der name einer band der frühen 1980er jahre, sondern auch eine metapher, die mittels drei worten das ganze dilemma eines konfliktes auf den punkt bringt, der durch seinen charakter wie kaum ein anderer die destruktive wucht und dynamik ständiger und sich über generationen hochschaukelnder posttraumatischer re-inszenierungen sichtbar macht.
(eine verwundete palästinensische frau nach einem israelischen luftangriff, dezember 2008; foto: amir farshad ebrahimi via wikipedia)
ein auszug aus einem inzwischen leider kostenpflichtigen artikel der nzz aus dem jahr 2006, "ein irrenhaus namens gaza":
(...)"Psychiater Sarraj fürchtet, das Umfeld der Angst, Gewalt, Armut und Hoffnungslosigkeit werde die Generation der Bettnässer in eine von «Gorillas» verwandeln. Er spricht vom Konflikt als einer Psychopathologie, von Israel und Palästina als psychisch kranken Patienten. Der israelische Patient sehe sich immer noch als Opfer, das keine Versöhnung durchlebt habe und deshalb in all seinen Handlungen von Angst getrieben werde. Der palästinensische Patient bleibe gefangen in Gedanken von Widerstand und Vergeltung. Doch das Schicksal der Menschen liegt nicht in den Händen von Psychiatern, sondern von Politikern. Diese waren bisher unfähig, Heilung und Versöhnung zu bringen. Wer hat je das Leid des anderen anerkannt?"(...)
"Wie viele psychisch krank sind und wie ihre Krankheiten heissen, weiss niemand so genau. Statistiken verzeichnen eine Anhäufung von Borderline-Persönlichkeiten, emotional instabilen Personen, die ein zerrüttetes Selbstbild aufweisen und sich nicht mehr in die Gesellschaft integrieren können. Eine Studie des Gaza Community Mental Health Programme stellt fest, dass über 70 Prozent der Kinder an PTBS leiden und knapp 100 Prozent Symptome davon aufweisen: Albträume, Flashbacks, emotionale Stumpfheit, Gleichgültigkeit, Konzentrationsstörung, Schreckhaftigkeit, Angstzustände, Schlaflosigkeit, Depression, manchmal Panik- oder Aggressionsattacken und Bettnässen. Wer Geld hat, kauft Tabletten: Schlaftabletten, Beruhigungstabletten. Man klagt, aber man spricht nicht über psychische Krankheiten. Wenige suchen Hilfe bei einem Psychiater. Wäre das nicht ein Geständnis, dass einen der Besatzer in die Knie gezwungen hat? Ein Eingeständnis von Schwäche in einer Zeit, in der man stark sein muss, in einer Gesellschaft, in der man stigmatisiert würde? Und welche Behandlung ist gut genug, um Wunden zu heilen, die mit jeder Bombe, jedem Angriff erneut zu eitern beginnen?"(...)
und anläßlich der innerpalästinensischen kämpfe im jahre 2007 ergänzte ein anderer psychiater in einem interview:
(...)SPIEGEL ONLINE: Was für Auswirkungen hat solch ein Bruderkrieg auf eine Gesellschaft?
Sarradsch: Solche Ereignisse sind extrem schmerzhaft, sie schaffen sehr viel Hass und Rachegelüste. Lang anhaltende Gewalt führt zu einem Phänomen, das wir Psychiater chronische soziale Vergiftung nennen. Die Menschen werden weniger sensibel und rational, dafür impulsiver und hemmungslos. Neue Gruppen außerhalb des Familiengefüges bilden sich, reißen Macht an sich und laufen aus dem Ruder. Sie werden zu unantastbaren Herren über Leben und Tod, das zieht viele an, die anderswo keine Chance haben.
: Das sind Prinzipien, die überall auf der Welt auf Gangs oder Mafia-Familien zutreffen. Funktionieren die islamistischen Gruppen im Gaza-Streifen genau so?
: Die islamistischen Gruppen im Gaza-Streifen sind einen Art Vater mit dem heiligen Buch in der Hand. Jeder kann Fatah-Mitglied werden, aber um der Hamas beizutreten, muss man ein neuer Mensch werden. Das ist ein Prozess, der Jahre dauert, mit Prüfungen und Initiationsriten, bis man einen neue Identität angenommen hat. Strikte Disziplin schafft endlose Loyalität. Das ist der erste Schritt dazu, ein Selbstmordattentäter zu werden.
: Anhaltendes Trauma schafft Gewaltbereitschaft. Lässt sich das auch auf Israel anwenden?
: Sicher. Israel gilt als das beste Beispiel dafür, dass sich ein Volk mit dem Aggressor identifiziert und dessen Machtposition einnehmen möchte. Der Effekt des Holocausts auf die jüdische Gesellschaft war unendlich dramatisch und wurde nie richtig aufgearbeitet. Daraus ist eine echte klinische Paranoia entstanden: "Töte deine Feinde bevor sie dich töten". Leider zahlen wir Palästinenser den Preis dafür.
: Die Bevölkerung im Gaza-Streifen ist schlimmes gewöhnt. Wird sie sich rasch von den jüngsten Kämpfen erholen?
: Ich fürchte Nein. Diese Zusammenstöße, die Brutalität, mit der sie sich gegenseitig abgeschlachtet haben, das hat ein länger anhaltendes Trauma geschaffen. Die Schäden an der geistigen Gesundheit der Menschen werden immer schlimmer, wir kommen nicht mehr dagegen an."(...)
und in diesem zusammenhang sollte auch der hinweis auf die psychophysischen quellen des islamistischen fundamentalismus, wie er zb. in gestalt der "hamas" auftritt, nicht fehlen.
*
beim ganzen thema geht es mir weiterhin so, wie ich es in diesem alten beitrag schon einmal schrieb:
"ich muß dabei ehrlich gestehen, dass es mich regelrecht überwindung kostet, mich an das knäuel von ineinander verschlungenen dynamiken zu wagen, die sowohl den israelisch-palästinensischen als auch den umfassenderen sog. westlich-islamistischen konflikt kennzeichnen. mein überdruß rührt dabei vor allem aus der hemmungslosen instrumentalisierung der realen - vergangenen und aktuellen - opfer her, die sich sowohl bei allen direkt beteiligten seiten als auch bei denen finden lässt, die sich - aus eigenen und durchaus fragwürdigen motiven, wie ich finde - in diesen konflikten gerade in d-land unbedingt positionieren wollen."
der gleiche beitrag enthält auch den versuch, die quellen des aktuellen israelischen handelns nachzuvollziehen - denn trotz aktueller motivationen der heutigen protagonisten ist die mobilisierung größerer kollektive zu kriegerischen aktionen immer auf die aktivierung von deren untergründigen reservoirs an wut, ängsten sowie paranoiden feindbildkonstruktionen angewiesen, die durch aktuell reale destruktivität nicht nur immer wieder getriggert, sondern noch erweitert und neu "gefüllt" werden.
(ein getöteter israelischer mann nach einem hamas-raketenangriff ende dezember 2008; foto: amir farshad ebrahimi via wikipedia)
abschließend kann ich im angesicht des ganzen trostlosen szenarios nur ein ebenfalls schon älteres vorläufiges fazit wiederholen, dessen unzulänglichkeiten mir allerdings heute noch deutlicher bewusst sind als damals:
"im nahen osten ist live und seit jahrzehnten eine spirale der gegenseitigen und generationenübergreifenden re-traumatisierung zu beobachten, die - realistisch betrachtet - nur durch eine massive intervention von außen, mit anschließender - vorläufiger - trennung und entwaffnung der kontrahenten sowie isolierung der am extremsten agierenden gruppen auf beiden seiten - betrifft zb. die klar islamistischen fraktionen genauso wie auch die religiös motivierten jüdischen siedler - gestoppt werden könnte. parallel zu diesen maßnahmen müsste dann in allen beteiligten gesellschaften besonderes gewicht auf die entwicklung ziviler strukturen / entmilitarisierung gelegt werden, zu denen neben einer gesicherten grundversorgung besonders bildung und auch ein breites angebot von traumaspezifischen therapeutischen strukturen gehören würde - letzteres ist meiner meinung nach unverzichtbar, um die wesentlichen quellen des konfliktes mittel- und langfristig aufzulösen.
wer die erwähnte massive intervention von außen allerdings durchführen sollte, ist das erste große problem - realistisch ist da eigentlich nur die uno zu nennen, und zwar ohne beteiligung der usa/nato einerseits (besonders d-land hat - als durch die geschichte mitverantwortliche konfliktursache - dort nichts zu suchen), aber auch ohne russland und china. und damit wird´s dann schon wieder unrealistisch. ich bleibe aber dabei, dass bis auf weiteres das oben grob skizzierte szenario dasjenige mit der größten wahrscheinlichkeit darstellt, den ewigen krieg tatsächlich zumindest wirkungsvoll behindern zu können."
es fehlt weiterhin an einer weltweit anerkannten, tatsächlich neutralen, aber mit allen opfern parteiischen instanz, die sowohl den willen als auch die mittel besitzt, in solchen konflikten wirkungsvoll zu intervenieren. und das stellt nicht nur in diesem fall eine schmerzhafte lücke dar.
(eine verwundete palästinensische frau nach einem israelischen luftangriff, dezember 2008; foto: amir farshad ebrahimi via wikipedia)
ein auszug aus einem inzwischen leider kostenpflichtigen artikel der nzz aus dem jahr 2006, "ein irrenhaus namens gaza":
(...)"Psychiater Sarraj fürchtet, das Umfeld der Angst, Gewalt, Armut und Hoffnungslosigkeit werde die Generation der Bettnässer in eine von «Gorillas» verwandeln. Er spricht vom Konflikt als einer Psychopathologie, von Israel und Palästina als psychisch kranken Patienten. Der israelische Patient sehe sich immer noch als Opfer, das keine Versöhnung durchlebt habe und deshalb in all seinen Handlungen von Angst getrieben werde. Der palästinensische Patient bleibe gefangen in Gedanken von Widerstand und Vergeltung. Doch das Schicksal der Menschen liegt nicht in den Händen von Psychiatern, sondern von Politikern. Diese waren bisher unfähig, Heilung und Versöhnung zu bringen. Wer hat je das Leid des anderen anerkannt?"(...)
"Wie viele psychisch krank sind und wie ihre Krankheiten heissen, weiss niemand so genau. Statistiken verzeichnen eine Anhäufung von Borderline-Persönlichkeiten, emotional instabilen Personen, die ein zerrüttetes Selbstbild aufweisen und sich nicht mehr in die Gesellschaft integrieren können. Eine Studie des Gaza Community Mental Health Programme stellt fest, dass über 70 Prozent der Kinder an PTBS leiden und knapp 100 Prozent Symptome davon aufweisen: Albträume, Flashbacks, emotionale Stumpfheit, Gleichgültigkeit, Konzentrationsstörung, Schreckhaftigkeit, Angstzustände, Schlaflosigkeit, Depression, manchmal Panik- oder Aggressionsattacken und Bettnässen. Wer Geld hat, kauft Tabletten: Schlaftabletten, Beruhigungstabletten. Man klagt, aber man spricht nicht über psychische Krankheiten. Wenige suchen Hilfe bei einem Psychiater. Wäre das nicht ein Geständnis, dass einen der Besatzer in die Knie gezwungen hat? Ein Eingeständnis von Schwäche in einer Zeit, in der man stark sein muss, in einer Gesellschaft, in der man stigmatisiert würde? Und welche Behandlung ist gut genug, um Wunden zu heilen, die mit jeder Bombe, jedem Angriff erneut zu eitern beginnen?"(...)
und anläßlich der innerpalästinensischen kämpfe im jahre 2007 ergänzte ein anderer psychiater in einem interview:
(...)SPIEGEL ONLINE: Was für Auswirkungen hat solch ein Bruderkrieg auf eine Gesellschaft?
Sarradsch: Solche Ereignisse sind extrem schmerzhaft, sie schaffen sehr viel Hass und Rachegelüste. Lang anhaltende Gewalt führt zu einem Phänomen, das wir Psychiater chronische soziale Vergiftung nennen. Die Menschen werden weniger sensibel und rational, dafür impulsiver und hemmungslos. Neue Gruppen außerhalb des Familiengefüges bilden sich, reißen Macht an sich und laufen aus dem Ruder. Sie werden zu unantastbaren Herren über Leben und Tod, das zieht viele an, die anderswo keine Chance haben.
: Das sind Prinzipien, die überall auf der Welt auf Gangs oder Mafia-Familien zutreffen. Funktionieren die islamistischen Gruppen im Gaza-Streifen genau so?
: Die islamistischen Gruppen im Gaza-Streifen sind einen Art Vater mit dem heiligen Buch in der Hand. Jeder kann Fatah-Mitglied werden, aber um der Hamas beizutreten, muss man ein neuer Mensch werden. Das ist ein Prozess, der Jahre dauert, mit Prüfungen und Initiationsriten, bis man einen neue Identität angenommen hat. Strikte Disziplin schafft endlose Loyalität. Das ist der erste Schritt dazu, ein Selbstmordattentäter zu werden.
: Anhaltendes Trauma schafft Gewaltbereitschaft. Lässt sich das auch auf Israel anwenden?
: Sicher. Israel gilt als das beste Beispiel dafür, dass sich ein Volk mit dem Aggressor identifiziert und dessen Machtposition einnehmen möchte. Der Effekt des Holocausts auf die jüdische Gesellschaft war unendlich dramatisch und wurde nie richtig aufgearbeitet. Daraus ist eine echte klinische Paranoia entstanden: "Töte deine Feinde bevor sie dich töten". Leider zahlen wir Palästinenser den Preis dafür.
: Die Bevölkerung im Gaza-Streifen ist schlimmes gewöhnt. Wird sie sich rasch von den jüngsten Kämpfen erholen?
: Ich fürchte Nein. Diese Zusammenstöße, die Brutalität, mit der sie sich gegenseitig abgeschlachtet haben, das hat ein länger anhaltendes Trauma geschaffen. Die Schäden an der geistigen Gesundheit der Menschen werden immer schlimmer, wir kommen nicht mehr dagegen an."(...)
und in diesem zusammenhang sollte auch der hinweis auf die psychophysischen quellen des islamistischen fundamentalismus, wie er zb. in gestalt der "hamas" auftritt, nicht fehlen.
*
beim ganzen thema geht es mir weiterhin so, wie ich es in diesem alten beitrag schon einmal schrieb:
"ich muß dabei ehrlich gestehen, dass es mich regelrecht überwindung kostet, mich an das knäuel von ineinander verschlungenen dynamiken zu wagen, die sowohl den israelisch-palästinensischen als auch den umfassenderen sog. westlich-islamistischen konflikt kennzeichnen. mein überdruß rührt dabei vor allem aus der hemmungslosen instrumentalisierung der realen - vergangenen und aktuellen - opfer her, die sich sowohl bei allen direkt beteiligten seiten als auch bei denen finden lässt, die sich - aus eigenen und durchaus fragwürdigen motiven, wie ich finde - in diesen konflikten gerade in d-land unbedingt positionieren wollen."
der gleiche beitrag enthält auch den versuch, die quellen des aktuellen israelischen handelns nachzuvollziehen - denn trotz aktueller motivationen der heutigen protagonisten ist die mobilisierung größerer kollektive zu kriegerischen aktionen immer auf die aktivierung von deren untergründigen reservoirs an wut, ängsten sowie paranoiden feindbildkonstruktionen angewiesen, die durch aktuell reale destruktivität nicht nur immer wieder getriggert, sondern noch erweitert und neu "gefüllt" werden.
(ein getöteter israelischer mann nach einem hamas-raketenangriff ende dezember 2008; foto: amir farshad ebrahimi via wikipedia)
abschließend kann ich im angesicht des ganzen trostlosen szenarios nur ein ebenfalls schon älteres vorläufiges fazit wiederholen, dessen unzulänglichkeiten mir allerdings heute noch deutlicher bewusst sind als damals:
"im nahen osten ist live und seit jahrzehnten eine spirale der gegenseitigen und generationenübergreifenden re-traumatisierung zu beobachten, die - realistisch betrachtet - nur durch eine massive intervention von außen, mit anschließender - vorläufiger - trennung und entwaffnung der kontrahenten sowie isolierung der am extremsten agierenden gruppen auf beiden seiten - betrifft zb. die klar islamistischen fraktionen genauso wie auch die religiös motivierten jüdischen siedler - gestoppt werden könnte. parallel zu diesen maßnahmen müsste dann in allen beteiligten gesellschaften besonderes gewicht auf die entwicklung ziviler strukturen / entmilitarisierung gelegt werden, zu denen neben einer gesicherten grundversorgung besonders bildung und auch ein breites angebot von traumaspezifischen therapeutischen strukturen gehören würde - letzteres ist meiner meinung nach unverzichtbar, um die wesentlichen quellen des konfliktes mittel- und langfristig aufzulösen.
wer die erwähnte massive intervention von außen allerdings durchführen sollte, ist das erste große problem - realistisch ist da eigentlich nur die uno zu nennen, und zwar ohne beteiligung der usa/nato einerseits (besonders d-land hat - als durch die geschichte mitverantwortliche konfliktursache - dort nichts zu suchen), aber auch ohne russland und china. und damit wird´s dann schon wieder unrealistisch. ich bleibe aber dabei, dass bis auf weiteres das oben grob skizzierte szenario dasjenige mit der größten wahrscheinlichkeit darstellt, den ewigen krieg tatsächlich zumindest wirkungsvoll behindern zu können."
es fehlt weiterhin an einer weltweit anerkannten, tatsächlich neutralen, aber mit allen opfern parteiischen instanz, die sowohl den willen als auch die mittel besitzt, in solchen konflikten wirkungsvoll zu intervenieren. und das stellt nicht nur in diesem fall eine schmerzhafte lücke dar.
monoma - 3. Jan, 11:23
Solche Bands haben sich ihren Namen (und ihre Albumtitel etc) meist nicht per Zufall ausgesucht, sondern verweisen auf andere Kulturphänomene. EiG ist der Titel eines Romans von Aldous Huxley, der seinerseits auf ein Gedicht von Milton anspielt.
> http://en.wikipedia.org/wiki/Eyeless_in_Gaza
Das Nervige an der Ignoranz sind die breiten Ellenbogen der Wissenheit (und Rechthaberei) mit der sie daherkommt.
der "banause" meint...